Yarrow und Salathil
Vor vielen, vielen Jahren, als es noch mehr Wälder als Menschen gab und das Mythische noch nicht mythisch war, da lebte eine Fee auf einer kleinen Lichtung. Die meiste Zeit ihres Lebens verbrachte sie im Warteschlaf. Ihr kleiner, zierlicher Körper war von einem goldgrünen Blätterkleid verhüllt und das dunkelbraune Haar fiel in sanften Wellen ihren Rücken hinab. Als sie noch bei den anderen Feen gelebt hatte, wurde sie Yarrow Elfglow gerufen, aber das war schon mehr Jahre her, als Normalsterbliche leben können. Sie war verbannt worden, nachdem ihre Liebe zu einem Menschenmann bekannt geworden war. Sein Name war Rael gewesen. Seitdem lebte sie auf dieser einsamen Lichtung, schlief und wartete auf die Rückkehr ihres Liebsten, der schon lange den ewigen Schlaf angetreten hatte. Sein Grabhügel war ihre Schlafstätte und hier trauerte sie im Traum und suchte ihn im Wachen.Eines schönen Frühlingstages lief sie suchend über die Lichtung und dann in den Wald hinein. „Rael!“, rief sie mit ihrer hohen, glockenhellen Stimme. Aber sie bekam keine Antwort. Nur die Vögel sangen in den Zweigen der Buchen, die sich traurig vor ihr verneigten und verstummten dann.
Salathil Geledan, ein Jäger aus dem Volk der Tanuver, schritt trübsinnig durch den Wald. Sein Pferd hatte vor irgendetwas gescheut, hatte ihn abgeworfen und war dann stracks nachhause galoppiert. Er hatte es förmlich den sicheren Stall riechen sehen, als es wie von wilden Bienen gejagt Richtung Heimat gelaufen war. „Nun, Renner ist weg, es lässt sich nicht ändern. Das wird ein langer Marsch Salathil“, redete er sich Mut zu und wich gekonnt den Mückenschwärmen aus. Er war ein großer Mann, in braunes Leder gekleidet, wie es bei den Tanuvi üblich war. Das dunkelblonde Haar zu einem Zopf geflochten, schlug im Takt auf seinen Rücken. Das Gesicht zierte ein dünner Kinnbart, wie es derzeit Mode war, ansonsten war er glatt rasiert. Noch immer etwas wütend über sein Missgeschick wanderte er durch den Buchenwald. Er dachte gerade an das sich entfernende Gelächter seiner Kameraden, die einfach ohne ihn weggeritten waren, als er eine feine Stimme vernahm. Es war ein trauriges Lied in einer Sprache, die ihm fremd war. Aber er fühlte, dass es um eine verlorene Liebe ging und die ewige Suche danach. Erfüllt von diesen Lauten folgte er dem Gesang tiefer in den Wald hinein. Salathin wusste, er hatte sich bereits rettungslos verirrt, denn noch nie war er so weit von der Siedlung entfernt gewesen. Er trug nur ein Messer bei sich, denn der Bogen war beim Sturz vom Pferd gebrochen. So wanderte er jetzt der Stimme entgegen und hoffte auf Hilfe.
Yarrow lief singend zwischen den Bäumen und die Vögel verstummten, wann immer sie von Rael sang, so war bald nur noch ihr Gesang zu hören. Sie merkte es nicht, so vertieft war sie in ihre Suche. Dann erblickte sie ihn und sie rief: „Rael, nu na weehe! Takeha na’we! Rael, endlich habe ich dich gefunden! Lange dauerte die Suche!“ Aber der Mann starrte sie nur verständnislos an. So blieb auch sie stehen und erkannte, es war nicht Rael, dem sie hier gegenüberstand. Aber er war ein Sterblicher, soviel erkannte sie. Schon wollte sie umkehren, da rief er sie: „Warte, schöne fremde im Blätterkleid! Wer bist du?“ Sie kehrte um und blickte ihm ins Herz und erkannte in ihm ebenso einen Sucher. Als sie nichts antwortete, fragte er: „Bist du eine Fee? Schön genug dafür bist du und deine Stimme passt zu dir. Fein und unirdisch, glockenhell und klar. Kannst du mir helfen?“ Er hatte zu schnell gesprochen, die Worte der Menschen dieser Zeit kannte sie nicht. Der Jäger deutete ihr Schweigen richtig, lächelte und zeigte dann auf sich. „Salathil Geledan“, sagte er feierlich, dann deutete er auf sie, wieder auf sich und wiederholte ihn. Dann begriff sie, lächelte ihrerseits und nannte ihren Namen. „Yarrow“, sagte er. „Er ist schön so schön wie du, wie ein feiner, geschwungener Bogen.“ Die Fee wies in eine Richtung. Sie wollte ihn zur Lichtung bringen und singend lief sie voraus. Wie im Traum folgte ihr Salathil und dann geriet er aus der Zeit. Lange suchten seine Freunde nach ihm und konnten ihn nicht finden.
Auf dem Platz angekommen sah Salathil Geledan ihr Heim aus Bäumen. Es war schöner als jeder irdische Palast und trauriger als jedes traurige Liebeslied. Ein kleiner Bach entsprang unter einer Trauerweide, die das Schloss der Fee bildete. Hier konnten sie sich verständigen, denn hier wirkte ihr Zauber, es war ihr Reich, das Heim ihrer verlorenen Liebe zu einem Menschen.
„Yarrow, sag mir, was du hier so alleine machst, in diesem verzauberten Land?“, fragte er schließlich, als er von dem kühlen Wasser getrunken hatte. Da erzählte sie von ihrer verlorenen Liebe und der ewigen Verbannung. Sein Herz war voll Mitleid, als er ihr schweres Schicksal hörte und von ihrem langen Schlaf, der nur im Frühjahr für einige Wochen unterbrochen wurde, solange, bis der Sommer ins Land zog, dann musste sie wieder schlafen, bis erneut die Blätter zu knospen begannen. „Wie kann ich dir helfen, meine schöne, unglückliche Fee?“, fragte er schließlich. „Niemand außer der Liebe kann mir helfen. Aber ich habe sie verloren und werde sie nicht mehr finden.“ Salathil schaute ihr ins Gesicht, dann streckte er den Arm nach ihr aus und noch bevor sie zurückweichen konnte, berührte er sie sanft an der Wange und trocknete mit den Fingern ihre Tränen. „Vielleicht kommt sie in anderer Gestalt, Yarrow“, meinte er schließlich nachdenklich. „Hast du keine Angst vor mir?“, fragte sie. „Ich bin eine Fee und außer Rael hatte bisher jeder Angst, wenn er mich sah. Denn Feen leben außerhalb der Zeit. Wenn du in meinem Reich bist, dann vergeht die Zeit anders.“
„Es ist gut, Yarrow, ich bin dir aus freien Stücken gefolgt. Ich ahnte, du bist eine Fee, denn niemand sonst würde hier in diesen Wäldern alleine leben.“ Sie legte nun einen Finger auf seine Lippen, fuhr sie sanft nach und schloss die Augen, dann fühlte er ihre Gedanken. Es war wie ein Lied aus der Vergangenheit, süß und bitter zugleich. Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie, während das Lied ihn leitete und begleitete in einen niemals endenden Strom der Leidenschaft. Ihre Körper berührten sich auf eine Weise, die er sich nicht vorstellen hatte können und er versank in ihren Liedern über kämpfende Hirsche. Er war der Hirschkönig und er gab sich dem Land hin, starb in ihren Armen und tränkte mit seinem Blut die Erde, damit neues Leben empfangen werden konnte. Immer weiter spann sie das Lied und Salathil stöhnte vor Lust, nahm sie immer heftiger und schließlich schrie er selbst seine Leidenschaft in den leeren, zeitlosen Raum und die Erde lebte.
Verwirrt kam er zu sich und rieb sich über die Augen. Sein Pferd stand friedlich grasend neben ihm und die Kameraden lachten. ‚War das alle nur ein Traum?’, dachte er, aber er fühlte die Erde, das Leben selbst in ihm. Etwas davon musste wahr gewesen sein. Vielleicht war er wirklich außerhalb der Zeit gewesen und sie hatte ihn zurückgebracht. „Was ist geschehen, Tramathil?“, fragte er, um seine erneute Erregung zu verbergen. „Du bist vom Gaul gefallen, nichts weiter. Einige Minuten warst du bewusstlos und wir dachten schon, wir müssten einen tapferen aber toten Jäger nachhause bringen. Ach ja, du hast den Hirsch erlegt.“ Tramathil klang darüber nicht gerade erfreut, er hätte diese Heldentat lieber selbst vollbracht. Aber Salathil war noch immer in Gedanken bei der Fee und er fragte leise: „Yarrow Elfglow, werde ich dich jemals wiedersehen?“ Und wie von Ferne, hörte er ihre glockenhelle Stimme: „Wann immer du den Hirsch im Frühjahr erlegst, werde ich bei dir sein.“ Ein Windhauch streifte seine Wange wie ein Kuss und nichts blieb als die Erinnerung an den Hirschkönig.
(c) Herta 5/2010