Der schwarze Amor
An einem schönen Herbsttag, nicht zu warm, nicht zu kalt, in einem Wald nahe dem Rheintal, schritt eine junge Frau zielstrebig, aber ohne Eile einen Waldweg entlang. Sie war vierundzwanzig Jahre alt und durchschnittlich groß. Ihre Figur war sportlich und sie trug die langen blonden Haare zu einem praktischen Pferdeschwanz gebunden. Ihr Name war Susanne und man konnte sie ohne zu übertreiben als sehr attraktiv beschreiben.Auf einer Kreuzung zweier menschenleerer Wanderwege, die schnurgerade den Wald durchschnitten, blieb sie stehen. Sie holte ein Gerät aus einer Tasche ihrer orangen Funktionsjacke und blickte auf den kleinen Monitor. Dann zog sie eine Karte hervor, verglich die Angaben des Gerätes mit der Karte und sah sich schließlich noch einmal um. Außer Bäumen war natürlich nicht viel zu sehen, trotzdem hatte sie bisher alle Orientierungspunkte erreicht, die sie angepeilt hatte.
›Einfacher als ich es mir vorgestellt hatte, sich mit so einem Ding zurechtzufinden‹, dachte sie, ›Dann kann ich ja nächstes Wochenende bei der Schnitzeljagd mitmachen, ohne mich zu blamieren.‹
Sie bestand darauf, es Schnitzeljagd statt Geocaching zu nennen, nicht nur, weil sie Germanistik studierte, sondern vor Allem, um ihren Freund Ralf zu ärgern, der bereitwillig jedes englische Modewort übernahm.
Sie wandte sich wieder der Karte zu und dachte kurz nach. Eigentlich hatte sie vorgehabt, auf den Wegen zu bleiben und mit GPS-Empfänger und Karte nur ihre Position zu überprüfen, um ein Gefühl dafür zu bekommen – »Aber wo es so gut klappt, kann ich ja mal ein bischen was ausprobieren«, sagte sie sich und sprang leichtfüßig über den schmalen Graben am Wegrand.
Sie betrat die geradlinig aufgeforsteten Baumreihen des Tannenwaldes. Der Wald wurde dichter und die planvoll gesetzten Baumreihen gingen in einen natürlich gewachsenen Wald über. Es wurde dunkler und kühler, je weiter sie ging. Nach einer Weile wurde sie unsicher und holte das GPS hervor. Wenn sie sich nicht verlaufen hatte, musste sie jeden Moment auf einen kleinen Bach treffen.
›Das werde ich noch versuchen‹, dachte sie, ›wenn ich den Bach nicht finde, gehe ich einfach den selben Weg wieder zurück.‹
Kurz darauf traf sie auf den kleinen Bach, der auf der Karte eingezeichnet war – das bedeutete, dass sie etwa die Hälfte der Strecke bereits hinter sich hatte. Sie setzte ihren Weg fort. Der Wald wurde dichter und dichter. An manchen Stellen hatte sie Mühe vorwärts zu kommen. Gerade überlegte sie, ob es eine gute Idee gewesen war, eine Abkürzung zu versuchen, als abgesägte Baumstämme, Äste und Büsche aufgetürmt in ihrem Weg lagen. Sie folgte dieser Barriere ein Stück und fand schließlich eine Lücke.
Sie trat hindurch.
Verwundert blieb sie stehen und hob den Blick.
Vor ihr, mitten im Wald, stand ein Gebäude. Seine Größe war kaum zu erkennen, da man die Bäume nur so weit abgeholzt hatte, dass das Gebäude gerade eben Platz fand. Die Bäume standen so dicht an den Wänden, dass sie kaum an der Wand entlang gehen konnte. Es war ein Zweckbau, zusammengefügt aus Fertigteilen der sich da zwischen die Tannen duckte. In einer nicht weiter bearbeiteten, in den Waldboden gegossenen Betonplatte steckten jeweils zwei Meter von einander entfernt Betonsäulen mit Rinnen. In diese Rinnen hatte man übereinander Platten eingefügt und so die Wände errichtet. Jedes Bauteil hatte einen anderen grünen oder braunen Farbton, so dass sich eine Art militärisches Tarnmuster ergab.
»Seltsam«, murmelte sie als sie sich die Wand ansah, und schaute noch einmal auf die Karte. Nichts eingezeichnet – keine Straße, kein Weg …
Susanne ging an der Wand entlang. Keine Tür, kein Fenster, nirgends ein Hinweis auf den Eigentümer, nicht die kryptischen Symbole der Bundeswehr, kein Hinweis auf eine Behörde und wie ein Ferienhaus sah es nun wirklich nicht aus. Sie erreichte das Ende der Wand und bog um die Ecke. Hier war etwas mehr Platz gelassen worden und im Waldboden waren Spuren breiter Autoreifen mit grobem Profil zu sehen, die sich zwischen den Bäumen verloren. Sie lauschte kurz, aber außer den Geräuschen des Waldes war nichts zu hören, sie war allein.
Neben einer dunkelgrün gestrichenen Stahltür standen ordentlich aufgereiht drei schwarze Plastiktonnen. Auf jeder Tonne war ein weißes DIN A4-Blatt in einer transparenten Dokumentenhülle befestigt. Fein säuberlich hatte jemand die Schilder mit Klebeband über alle vier Kanten festgeklebt – akkurat auf der selben Höhe und immer genau in der Mitte der Vorderseite einer jeden Tonne.
Papier, Verpackung, Restmüll, las Susanne.
»Da fehlt doch was« fiel ihr auf. Sie sah sich um und richtig – zwischen den Bäumen, ein paar Schritte entfernt, war ein fliegenumschwirrter Haufen in einem Erdloch, auf dem sie Bananen, Äpfel und Brote liegen sah.
In der Jackentasche knüllte sie die Verpackung des Müsliriegels zusammen, den sie auf dem Weg gegessen hatte, und hob den Deckel der mittleren Tonne. Sie stutzte – da lagen Getränkedosen, Süßigkeiten und Energieriegel. Die meisten waren nicht einmal angebrochen.
»Seltsam« murmelte sie und hob neugierig den Deckel der Papiertonne. Wanderkarten, Notizbücher, Zeitschriften, Fahrkarten, Taschenbücher … nichts, was man ohne Not wegwerfen würde und alles in tadellosem Zustand, so als wäre es gerade noch benutzt worden. Warum würde jemand mitten im dichtesten Wald seine Wanderkarte wegwerfen?
»Okay – jetzt fängts an, unheimlich zu werden«, sagte sie zu sich selbst, klappte den Deckel zu und sah verstohlen über die Schulter.
Sie wollte gerade ihren Weg fortsetzen, die Halle schnell hinter sich lassen, da fiel ihr auf, dass die Tür nur angelehnt war. Unentschlossen blieb sie davor stehen. Ihre eben noch unterlegene Neugier erhielt Unterstützung von einem inneren Drang, der aus dem Nichts zu kommen schien und gemeinsam besiegten diese Regungen in einem kurzem, für die Außenwelt nicht wahrnehmbaren Kampf, ihr Unbehagen. Sie beschloss, einen Blick in das Gebäude zu werfen. Vorsichtig drückte sie die Klinke herunter, ihr Herz schlug schneller …
Sie betrat einen Vorraum, der die gesamte Breite der Halle einnahm, aber nur wenige Schritte tief war. Susanne blickte auf eine weitere Tür in der Wand gegenüber. Sonnenlicht fiel durch milchig-transparente Bauelemente im Dach und tauchte den Raum in ein weiches, unwirkliches Licht. Zu ihrer Linken stand ein einfacher Tisch. Darauf lagen ein Ringbuch und ein Kugelschreiber. Über dem Tisch hatte jemand einen Nagel zwischen zwei Platten geschlagen und daran einen Kalender aufgehangen. Das Ringbuch enthielt kopierte Blätter mit einer Liste aus Namen, Uhrzeiten und Unterschriften. Auf der letzten beschriebenen Seite hatten sich vor weniger als einer halben Stunde zwei Personen in krakeliger Handschrift ausgetragen. Die Blätter trugen den Briefkopf des Institutes für Altertumsforschung.
›Das ist des Rätsels Lösung,‹ dachte sie, ›eine Ausgrabung, ein Lager für Werkzeuge, oder Fundstücke oder sowas – das könnte interessant werden‹.
Ihre Neugier lenkte Susannes Schritte zur zweiten Tür. Verschlossen.
»Ach Mist,« murmelte sie, aber eigentlich hatte sie hier ja sowieso nichts zu suchen, »Am Besten gehe ich, bevor ich Ärger bekomme.«
Sie wollte gerade ins Freie treten, da fiel ihr neben der Tür ein Nagel auf, im Winkel zwischen Tür und Wand eingeschlagen, leicht zu übersehen.
Daran hing ein Schlüssel …
Er passte und sie betrat den nächsten Raum. Er war wesentlich größer und wie der kleine Vorraum lag auch dieser im unwirklichen Licht, das durch die transparenten Bauelemente fiel. Der Raum war leer bis auf einen Stapel hölzerner Frachtpaletten und Pappkartons in einer Ecke. Ihr Blick wanderte weiter, als ihr Herz plötzlich einen Schlag aussetzte – da stand etwas in der Mitte des Raumes, mit einem weißen Tuch bedeckt, so groß wie ein Mensch und auch die Formen, die unter dem Tuch zu erkennen waren, hatten etwas menschliches.
»Hallo?« rief sie, ihre Stimme zitterte dabei.
Die lautlos im Licht schwebenden Staubteilchen antworteten nicht.
»Gott, wie albern«, schalt sie sich einen Augenblick später, »das wird ein Fundstück sein, eine Statue oder sowas, sonst nichts!«
Etwas schien sie dorthin zu ziehen und ihre Knie zitterten, als sie darauf zu ging. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, doch sie zog entschlossen das Tuch herunter.
Sie hielt inne.
Mit großen Augen blickte Sie auf eine Statue, die auf einer hölzernen Palette stand.
Es war das Abbild eines jungen Mannes, vielleicht in ihrem Alter, der auf dem Rand einer quadratischen Platte saß, die auf einer reich verzierten, niedrigen Säule ruhte, etwa so hoch wie ein Tisch. Das rechte Bein hatte er leicht angewinkelt, der Fuß stand vor der Säule auf dem Boden. Sein linker Oberschenkel lag auf der Platte, der Fuß hing locker herab. Er saß nach hinten gelehnt da, hatte das Becken vorgeschoben und stützte sich mit den Händen auf die Platte. Das Kinn war angehoben und er sah mit einem entrückten Ausdruck und leicht geöffneten Lippen über den Betrachter hinweg.
Der Stil der Figur erinnerte Susanne an griechische oder römische Standbilder.
»Wie einer von diesen fetten kleinen Weihnachtsengeln, nur erwachsen« dachte sie und schmunzelte.
Der junge Mann hatte eine kurze, lockige Mähne auf dem Kopf, die krausen Strähnen waren detailliert ausgearbeitet. Der Körper war nach klassischen Idealen nackt und muskulös. Das Material erinnerte an Granit, aber es war vollkommen schwarz. Ein seidiger Schimmer lag auf der Figur und goldene Einlagerungen glitzerten, sobald man den Blickwinkel änderte. Ihre Augen wanderten an der Figur hinab, an breiten Schultern, einer glatten Brust …
»Warum sieht Ralf nicht so aus?« fragte sie sich.
Plötzlich stockte ihr der Atem. Die Figur war wirklich sehr naturgetreu gestaltet – der junge Mann war erregt. Ein gut proportioniertes Glied erhob sich aus einem Busch krauser Haare. Sie fühlte ihre Wangen heiß und ihre Knie weich werden.
»Wow« hauchte sie in die Stille hinein.
Sie trat näher und berührte den Oberschenkel der Figur. Es fühlte sich überraschend seidig an und nicht so kalt wie sie erwartet hatte. Ein Kribbeln fuhr durch ihren Finger, lief den Arm entlang durch ihren ganzen Körper. Sie spürte, wie ihre Brüste reagierten, die Spitzen sich aufstellten, ein warmes, sacht pulsierendes Gefühl sich zwischen ihren Schenkeln ausbreitete …
»Warum verstecken sie sowas wie dich im Wald?« fragte sie leise, ihr Atem beschleunigte sich. Sie stand nun zwischen den Knien der Figur, ihre Hand glitt von der flachen Wange den Hals hinab, über die muskulöse Brust.
»Du gehörst in ein Museum,« flüsterte sie atemlos. Ohne es zu merken, näherte sie sich noch ein wenig. Die Berührung des steinernen Gliedes an ihrem Oberschenkel durchzuckte sie wie ein Stromschlag – überrascht holte sie tief Luft.
»Wahrscheinlich haben sie das auch vor und ich habe dich vorher entdeckt. Was für ein Glück«, kicherte sie erregt. Sie sah noch einmal zur Tür, dann kniete sie sich zwischen die Beine der Figur …
Hätte Susanne noch etwas gehört, wäre sie kurz darauf vom Geräusch eines näherkommenden Dieselmotors aufgeschreckt. Ein hochbeiniger Geländewagen schaukelte durch den Wald auf die Halle zu. Darin saßen zwei Männer. Gegen das Röhren des Motors, das Klappern der zahllosen, nicht befestigten Gegenstände im Wageninneren rief Dieter mit einem anklagenden Ton in der Stimme: »Mensch, Manfred, hätte dir das nicht ein bisschen früher einfallen können, dass die Tür vielleicht nicht richtig zu ist?«
Er hielt sich am Handgriff über der Beifahrertür fest, als sie über eine weitere Bodenwelle schwankten. Manfred klammerte sich an das Lenkrad und konzentrierte sich auf den schmalen Pfad zwischen den Bäumen. Äste schlugen gegen die Scheiben.
Dieter fuhr fort: »Ich mein' wir waren kurz vor der Ausfahrt, zehn Minuten später wären wir im Institut gewesen und noch 'ne halbe Stunde später wäre ich zu Hause gewesen. Ich könnte jetzt gemütlich vor der Glotze sitzen und was essen.«
»Du weißt doch, dass wir auch beim kleinsten Zweifel nochmal nachprüfen müssen, es ist zu gefährlich.«
»Es ist Freitag, verdammt. Freitag nachmittag.«
»Wir können es nicht riskieren und du weißt das. In seiner Nähe werden die Leute plötzlich vergesslich, da bleibt mal eine Tür offen, mal wird eine Assistentin versehentlich mit eingeschlossen – habe ich alles schon erlebt. Deswegen schicken sie uns doch zu zweit los.«
»Ja …« seufzte Dieter resignierend und verdrehte die Augen, »hast ja Recht.«
Eine Weile sagte er nichts, dann wandte er sich wieder seinem Kollegen zu: »Unglaublich das Ding, oder?«
Manfred nickte und lächelte unschlüssig.
»Stimmt, manchmal weiß ich nicht ob ich das unheimlich oder irgendwie komisch finden soll. Sowas erwartet man eher in amerikanischen Fernsehserien«, antwortete er und pfiff die ersten Takte der Erkennungsmelodie einer Mystery-Serie.
»Oder in Kitschromanen – Der schwarze Amor von Trier«, sagte Dieter und versuchte sich an einer dramatischen Betonung, »das hört sich doch an wie der Titel eines Kitschromans.«
»Ja, das kommt dabei heraus wenn die Funde von einer frisch geschiedenen Sekretärin mit einer Vorliebe für Groschenromane benannt werden. Sie haben ihn halt damals in Trier ausgegraben. Älteste Stadt Deutschlands und so. Wer weiß, was die Römer da noch alles liegengelassen haben.«
»Wollten sie ihn nicht schon längst irgendwo weggeschlossen haben? Dann müssten sie nicht jedes Jahr irgendwo heimlich ein neues Lager bauen, damit das mit den Vermissten nicht so auffällt. Da war doch der ehemalige Regierungsbunker im Ahrtal im Gespräch, oder?«
»Eigentlich schon, aber du weißt ja wie lange das dauert, bis sowas durch ist. Und jetzt, wo der teilweise ein Museum ist … Ah, da sind wir. Jedesmal habe ich das Gefühl, ich hätte mich verfahren.«
Er hielt einige Schritte vor der Halle und stellte den Motor ab. Sie stiegen aus.
»Siehst du? Sie war tatsächlich nicht richtig zu.«
»Ich hätte schwören können …«
»Ich auch, da siehst du wie das Ding einen beeinflusst. Jetzt lass' uns schnell nochmal alles abchecken und dann will ich auch endlich nach Hause.«
Manfred öffnete die Tür.
»Ich war mir sowas von sicher, dass ich wenigstens die abgeschlossen habe!« sagte er, als er die ebenfalls angelehnte zweite Tür sah.
»Manfred!« rief Dieter, der hinter ihm eingetreten war, »Jemand war hier!« er deutete auf das aufgeschlagene Ringbuch.
»Verdammt! Wir waren nicht mal eine Stunde weg!«
Gleichzeitig rannten sie zur zweiten Tür, rissen sie auf … und erstarrten.
»Ich fass' es nicht – nicht mal eine Stunde! Die Halle ist mitten im Wald, es gibt keine Schilder, keinen richtigen Weg …«
Sie gingen zu der glitzernden schwarzen Statue in der Mitte des Raumes. Davor, zwischen den Beinen der Figur kniete eine junge Frau in Wanderschuhen, Jeans und einer orangen Funktionsjacke. Ihr Gesicht, ihre Haare und Hände waren schwarz, so schwarz und mit goldenen Sprenkeln durchsetzt, wie die Statue. Sie hatte die linke Hand auf die Hüfte der Figur gelegt, ihre Lippen umschlossen das steinerne Glied. Ihre Augen waren geschlossen und ein erregter Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Das rechte Knie ruhte auf dem Boden, das linke war aufgestellt. In ihrer geöffneten Hose sah man eine schwarze Hand in einem bedruckten weißen Schlüpfer verschwinden.
Dieter beugte sich hinunter und betrachtete Susannes Gesicht.
»Und schon wieder eine richtig hübsche« seufzte er.
»Denk nicht so viel darüber nach, das zieht dich nur wieder runter. Komm, fass' mit an.«
Vorsichtig hoben sie die versteinerte junge Frau vom aufgerichteten Glied der Statue und setzten sie schwer atmend wieder ab. Ohne die Statue konnte sie nicht mehr stehen, deshalb ließen sie sie sanft zur Seite auf den Boden sinken. Außer Atem blieben die beiden neben ihr sitzen. Dieter besah sie sich genauer.
»Ist dir schon mal aufgefallen, dass alles, was nicht zum Körper gehört, sich nicht verwandelt? Man kann ihre Plomben erkennen« sagte er schwer atmend.
»Lass es uns hinter uns bringen«, brachte Manfred angestrengt hervor und stand auf. Während Dieter neben der jungen Frau am Boden sitzen blieb, ging er zum Ende des Raumes, entriegelte eine breite, zweiteilige Metalltür, verschwand im Raum dahinter. Gedankenversunken betrachtete Dieters die versteinerte Susanne.
»Durchsuch' schon mal ihre Taschen,« rief Manfred zurück, »wenn sie eine Orange dabei hat, stinkt übermorgen die ganze Halle danach.«
Kurz darauf kam er mit einem kleinen elektrischen Gabelstapler in den Raum gesurrt, eine Palette auf der Gabel. Dieter durchsuchte die Taschen der jungen Frau und legte alles, was er fand in einen Pappkarton, den er mit Datum und Uhrzeit beschriftete.
»Ob sie wohl blond war?« sinnierte er, als sie sie auf die Palette legten. Manfred fuhr sie zum hinteren Raum, Dieter ging neben dem Gabelstapler her. Er blieb neben der Tür stehen, um Manfred mit dem Gabelstapler durchzulassen.
»Das macht mich jedesmal wieder nachdenklich …« meinte er.
»Was denn?«
»Na schau dir das doch mal an …« er deutete in den Raum, in dem hunderte schwarzer Figuren dicht an dicht in hohen metallenen Regalen lagen. Hunderte weit geöffneter Münder starrten sie aus den Regalen heraus an, Frauen und Männer in eindeutigen Posen, die meisten mit einer Hand zwischen den Beinen.
»Und keiner sieht aus, als ob er oder sie gelitten hätte. Ich finde sie sehen sogar glücklich aus. Und das wird nie aufhören.«
Manfred hatte einen leeren Platz gefunden und bugsierte die Palette mit Susannes versteinertem Körper hinein.
»Also manchmal machst du mir echt Sorgen«, sagte er, »Du solltest mal wieder Urlaub machen, weit weg vom Institut und der Halle. Wir könnten auch mal wieder was unternehmen, wie früher. Oder du suchst dir endlich wieder 'ne Freundin. Es sind nicht alle so wie deine letzte.«
Er sah kurz zu seinem Kollegen und grinste. »Meinetwegen auch einen Freund, so wie du manchmal redest. Hab' ich auch kein Problem mit.«
»Erika …« seufzte Dieter unhörbar für Manfred, der gerade den Gabelstapler abstellte.
»Erledigt, Zeit fürs Wochenende« unterbrach Manfred seine düsteren Gedanken, »und diesmal machen wir alles dicht.«
Er klopfte seine Taschen ab.
»Hast du den Schlüssel?«
»Nein. Aber ist das denn so wichtig?« entgegnete Dieter nachdenklich. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gestemmt und besah sich die Figuren in den Regalen.
»Mist, dann habe ich ihn wohl im Wagen gelassen« sagte Manfred zerstreut.
»Bin gleich wieder da. Trag' uns schon mal in die Liste ein.«
Er verließ eilig die Halle, als er durch die Tür trat, warf er einen Blick auf die Uhr.
»Scheiße, soviel Zeit verloren«, fluchte er. Dann schaute er sich im Wagen um, sah unter den Sitzen nach, durchwühlte das Handschuhfach, aber er fand den Schlüssel nicht. Schließlich patschte er sich vor die Stirn.
»Wir haben ihn neben die Tür gehängt!«
Er stieg aus.
»Dieter!« rief er noch vom Wagen aus und schlug die Tür zu, »Wir haben ihn am Nagel neben der Tür hängen lassen …«
Keine Antwort.
»Dieter?«
Er beschleunigte seine Schritte, riss die Tür auf …
Erstarrte …
»Oh Schei …« entfuhr es ihm, als er seinen Kollegen reglos vor der schwarzen Figur knien sah.