Der Puttengarten
Tränen liefen der kleinen Emelie über die Pausbäckchen, als sie mit gerafften Röcken die enge, steinerne Wendeltreppe hinunterrannte. Mit verschwommenem Blick riss sie die schwere Tür des Schul-Gemäuers auf und lief in den sonnendurchfluteten Garten. Ohne sich weiter umzublicken rannte sie so schnell ihre kleinen Füße sie tragen konnten. Erst als sie ihren Lieblingsplatz erreichte, den großen Springbrunnen, mit dem traurig blickenden Wasserspeier, hielt sie inne und ließ sich auf die kleinen Treppenstufen nieder, die vor dem Brunnen angebracht waren. Sie schluchzte tief und weiter kullerten die Tränen. Die Ohrfeige, die noch immer auf ihrer Wange brannte war gar nicht so schlimm. Vielmehr brachte sie die Wut, die sie über ihren strengen Hauslehrer verspürte, derart zum Weinen. Sie hatte um eine Pause gebeten, da sie erschöpft war, doch der Lehrer verweigerte ihr den kurzen Ausgang in den Garten. So nutzte sie eine kurze Gelegenheit, als der Lehrer durch ein Gespräch mit einem Bediensteten abgelenkt war und schlüpfte durch den Geheimgang hinter dem zerschlissenen Vorhang. Diesen hatte sie vor kurzem entdeckt und wusste, sie würde ihn sicher einmal brauchen.Gedankenverloren spielten ihre Finger mit den langen, blonden Korkenzieherlocken, mit der anderen Hand wischte sie sich die Tränen ab. Sie blickte hinüber zu dem kleinen Teich, auf dem ein paar Schwäne majestätisch dahinglitten. Der Stein, auf dem sie saß, gab die Kühle an ihr Gesäß ab, doch die unzähligen Unterröcke hielten die Kälte davon ab, ganz bis zu ihrer Haut durchzudringen. Sie streckte die Beine aus, betrachtete die weißen Strümpfe und die schwarzen Schnallenschuhe, die sie so sehr mochte. Selbst das beruhigende Rauschen der großen Trauerweide am Ufer des Teiches, die ihre langen Äste wie Fingerspitzen im sanften Takt des Windes in die Wasseroberfläche tauchte, konnte sie heute nicht aus ihrem Kummer retten. Seufzend erhob sich Emelie und drehte sich zum Rand des Springbrunnens. „Du hast es gut, dir macht niemand Vorwürfe, oder beschimpft dich, weil du müde bist“ sprach sie zu der seltsam geformten Bronzefigur, die auf dem Rand der mittleren Etage des Brunnens saß. Das kleine Mädchen in ihrem Alter, das wirkte, als hätte sie sich nur kurz zum Ausruhen niedergelassen und dabei ihren Blick zu Boden geworfen, schien ihr direkt in die Augen zu sehen. Gebannt hielt Emelie dem Blick stand. Jedes Mal wenn sie hier war, und das war in letzter Zeit sehr oft, suchte sie die Nähe dieser Figur. Vertraut kam ihr diese Figur vor, als wäre sie einfach in einer Bewegung erstarrt. Emelie streckte sich, um den Fuß des Putten berühren zu können. Ihre Finger glitten vorsichtig über die Bronze, die sich gar nicht so kühl anfühlte. Weich umfuhr sie die Rundungen der verblüffend lebensecht wirkenden Figur. „Manchmal wünschte ich, ich könnte mit dir tauschen“ murmelte Emelie und erschrak über den Gesichtsausdruck des Putten. Hatte sich Emelie getäuscht oder schauten die Augen der Figur tatsächlich erschrockener auf sie herab?
„EMELIEEEE, komm sofort zurück!“ drang die tiefe Stimme ihres Hauslehrers durch den Garten. Emelie zuckte zusammen, drehte ihren Kopf in die Richtung aus der der Ruf kam und stieg hastig die Stufen hinab und lief tiefer in den Garten hinein. Ihre Locken wippten dabei mit jedem Schritt lustig auf ihren Schultern. Emelie stoppte erst, als ihre Beine vor Anstrengung brannten, ihre Lunge kaum mehr Luft einsaugen konnte. Dunkel war es hier und so ruhig. Das lustige Vogelzwitschern, das sie vorhin am Brunnen vernommen hatte, schien nicht bis hierher vorzudringen. Auch wenn ihr durch das Laufen warm geworden war, drang eine feuchte Kälte durch ihr Kleid und brachte sie zum Zittern. Eine merkwürdige Gänsehaut überzog Emelie, sie fühlte sich beobachtet. Ängstlich schaute sie immer wieder über ihre Schulter, während sie leise den schmalen Weg entlang schritt. Sollte sie wirklich schon den verbotenen Teil des Gartens erreicht haben? Ihre Großmutter erzählte ihr immer wieder mit einem warnenden Unterton diese alte Geschichte ihrer Familie. So ganz verstand Emelie mit ihren sechs Jahren nicht den Sinn der Warnung, die ihre Großmutter eindringlich aussprach. ‚Nie dürfe Emelie diesen Teil des Gartens betreten, seltsame Wesen würden auf sie warten, um sie zu fangen. Ein jahrhundertealter Fluch der von einer Hexe auf die Familie gelegt wurde, belastete die Familie. Damals vor vielen vielen Jahren arbeitete eine ihrer Vorfahren als Hebamme. Sie wurde damals zu einer schwierigen Geburt gerufen, bei der jedoch das Baby, ein kleines Mädchen, starb. Die wütende Mutter, die damals als Hexe bezeichnet wurde, verfluchte die Hebamme, dass alle weiblichen Nachkommen ihrer Familie nie älter als sechs Jahre werden würden. Die Mädchen sollten geboren werden, eine glückliche Zeit in der Familie leben können, Liebe und Bindung sich zwischen den Eltern und dem Kind entwickeln, damit der Verlust des Kindes umso mehr schmerze. All diese Töchter würden jedoch nach ihrem Tode nie vergehen aus der Erinnerung. Ewig lebendigen Schmerz sollten sie ihrer Familie bringen, der die Trauer der Hexe für alle Zeiten aufrecht erhielte. Jolanka, so hieße die Putte auf Emelies Springbrunnen, wäre die erste Tochter, die nach dem Auferlegen des Fluches geboren wurde‘.
Jetzt begann ihr Herz doch etwas schneller zu schlagen. Ein wenig mulmig wurde ihr, auch wenn sie mit den Worten der Großmutter nicht viel anfangen konnte, glaubte sie stets, die Großmutter würde ihr nur Angst machen wollen, aber die geheimnisvolle Stimme, mit der ihr diese Geschichte immer wieder erzählt wurde, hinterließ einen Hauch von unabänderlichem Schicksal.
„Nur noch um diese Biegung schaue ich, dann gehe ich wieder zurück“ flüsterte Emelie sich bestätigend zu. Sie verspürte eine tiefe Erschöpfung in sich aufsteigen und schlich vorsichtig an die Kreuzung zwischen den unbeschreiblich hohen Hecken. Rechts, eröffnete sich nur ein weiterer kahler Weg, an dessen Ende eine undurchdringliche Schwärze auf den mutigen Wanderer wartete. Doch der Weg, der sich vor Emelie auf der linken Seite auftat, ließ sie sämtliche Vorsicht vergessen. Ein leuchtend weißer Marmorspringbrunnen, umringt von unzähligen Puttenfiguren prangte inmitten einer riesigen, kreisrunden Lichtung. Emelie schritt wie hypnotisiert auf diese wundervollen Skulpturen zu. Hier diese Figur, die am Wegrand kauerte, hatte die kleine Hand ausgestreckt um etwas aufzuheben, das anscheinend seit langer Zeit nicht mehr vorhanden war. Nur wenige Schritte weiter stand ein Mädchen mit einem verzweifelten Blick, die Schultern zur Seite gedreht, als würde sie sofort davonlaufen wollen, nachdem sie etwas Schreckliches erblickt hätte. Emilie zog es magnetisch weiter. Der Marmor des Brunnens schimmerte wie Perlmutt in vielen Facetten, die das Auge ständig beschäftigten. Das Wasser rauschte in sanften, verlockenden Wellen über die vier Etagen hinab. Emelie wollte sich jede einzelne der Figuren ansehen, auch wenn ihre Glieder bleischwer wurden. Sie raffte sich auf, und näherte sich der nächsten Figur. Sie hatte die gleichen Locken wie Emelie, trug auch ein ähnliches Kleid. Das zierliche Gesicht dieser Figur war in einem staunenden Ausdruck versteinert. Den Kopf leicht in den Nacken gelegt, so dass die Locken bis über die Hüfte des Kindes ragten. Emelie streckte ihre Hand aus, um das Haar der Figur zu berühren. Ruckartig zog sie ihre Finger wieder zurück und stieß einen leisen Schrei aus. Die Haare des Mädchens fühlten sich an wie echt! Emelie konnte jedes einzelne Haar in der Strähne spüren. Jetzt zog es Emelie weiter. Jeder ihrer Schritte wurde schwerer, ihre Lider wollten nicht mehr gehorchen. Mühsam erreichte Emelie den Rand des Springbrunnens. Der Marmor leuchtete unter Emelies Berührung hell auf, dann glaubte Emelie ihren Augen nicht mehr trauen zu können. Die Mitte des Brunnens öffnete sich, unter dem silbrigen Wasservorhang trat eine junge Frau hervor, die ein Baby auf dem Arm trug. Das Baby schien zu schlafen, die Mutter wiegte es sanft in ihren Armen. „Hallo, Emelie. Schön dass du da bist, um meiner Tochter Gesellschaft zu leisten. Wie schon all deine Schwestern vor dir, ist es nun soweit, dass du das Schicksal deiner Familie erfüllst. Komm mit mir, die anderen warten bereits auf dich!“ Emelie streckte die Hand aus um die Finger dieser wunderschönen Frau zu ergreifen.
Mit einem lauten Aufschrei sank die Frau am Arm ihres Mannes schluchzend zu Boden. Verzweifelt versuchte der Mann, seine Frau auf die Beine zu stellen, doch sie warf sich an seinen Hals, umklammerte ihn und wand ihren Blick vom Springbrunnen ab. „Warum? Warum nur?“ schrie sie in die dunklen Bäume hinein. „Nicht meine Emelie. Nicht noch eine Tochter! Wann wird unsere Familie endlich von diesem verdammten Fluch befreit sein?“
„Mutter? Vater?“ rief die aufgeregte Kinderstimme hinter ihnen. Der Vater blickte sich um und sah sein Kind mit weit aufgerissenen Augen auf den Springbrunnen zueilen, noch bevor er es hätte aufhalten können.
„Oh wie schön, wie wundervoll“ stieß es hervor. Es blieb neben einer Figur stehen, die sehnend die Hand in die Mitte des Brunnens ausgestreckt hatte. Die kleine Hand des Kindes berührte zart das Gesicht der Putte. Eine dunkle Träne rann langsam über die Wange des erstarrten Mädchens, als ihr kleiner Bruder traurig ihren Namen flüsterte. „Emelie?“