Viannes Gespür für Schulanfänger
Liebste Mel,es tut mir so leid, dass ich so Hals über Kopf von Deiner Party geflüchtet bin am Freitag… aber als Jacob da plötzlich mit seiner Neuen in der Tür stand (Gott, was für eine Tussi ist DAS denn bitte???), da kam mir alles wieder hoch. Jaja, spar Dir Deinen strengen Blick. Ich weiß, es ist jetzt schon sechs Monate her seit Schluss ist mit ihm und mir. Und JAHA, ich weiß, dass es sich wie ein Arschloch verhalten hat und ich besser dran bin ohne ihn. Aber manchmal, Melli, da vermisse ich ihn immer noch so unglaublich… und dann stand er da mit diesem blonden Gift, die ganz offensichtlich nichts als Bohnenstroh im Kopf hat… und ich wollte nur noch raus.
Ich habe zu Hause ein paar Sachen in einen Koffer geschmissen und bin auf die Insel gefahren, in der Hoffnung, der Seewind würde mir Jacob endgültig aus dem Kopf pusten. Ich habe mich wie immer bei Auntie Louise eingemietet und habe sogar das süße kleine Eckzimmer mit dem Balkon bekommen, stell Dir vor. Ist es nicht einfach herrlich hier? Wir müssen unbedingt mal wieder zusammen übers Wochenende herkommen, das haben wir schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Aber was quatsche ich hier unwichtiges Zeug… Mel, was ich Dir zu berichten habe, das ist der Hammer! Es ist jetzt Sonntagnachmittag, mein Koffer ist gepackt und gleich mache ich mich auf den Heimweg, aber ich KANN unmöglich fahren, ohne Dir diese Mail zu schreiben und Dir sofort zu berichten, was ich gestern erlebt habe!
Also:
ich bin, wie ich schon sagte, wirklich Hals über Kopf geflüchtet aus der Stadt. Noch am Freitagabend habe ich mich ins Auto gesetzt und bin durchgefahren. Auntie Louise hat nicht schlecht geschaut, als ich mitten in der Nacht völlig aufgelöst vor ihrer Tür stand. Aber sie ist ein solcher Engel, hat mich erst mal aufs Sofa gesetzt, mir eine heiße Schokolade gemacht und ich habe ihr den Rest der Nacht von Jacob vorgeheult. Wirklich, am Ende konnte ich mich selbst nicht mehr hören. Dann hat sie mir das Bett im Eckzimmer bezogen und dort habe ich dann geschlafen bis zum frühen Samstagnachmittag. Nach einer Stärkung (Auntie macht doch diese unglaublichen Pancakes, und dazu gab es frische Früchte und Sahne!) entschloss ich mich, ein wenig durch den Ort zu bummeln und dann hinunter zum Strand zu gehen. Der Ort ist unverändert… schön, beschaulich, die vielen kleinen Geschäfte, in denen man 1001 Unwichtigkeiten kaufen kann, das Publikum nett, aber ein wenig ZU schick, ZU wohlhabend für meinen Geschmack. Ja, Süße, ich weiß… Du liebst das. Aber mir ist es immer ein wenig zu viel, Du weißt ja. Gestern allerdings war es mir egal, ich war ja hier um einfach ein wenig die Seele baumeln zu lassen, die Leute interessierten mich gar nicht. Dann, als ich an einem Straßencafé vorbeiging, sah ich sie zuerst.
Ein junges Paar, etwa in unserem Alter. Sie eine zierliche Brünette, sehr hübsch und mit teuren Accessoires ausgestattet, er ein Riese von einem Mann, viel zu groß für meinen Geschmack, viel zu viele Muskeln. Aber aufgefallen sind sie mir nicht deshalb, sondern weil sie mich so unverhohlen anstarrten. Sie sah mich zuerst, berührte dann ihren Freund am Arm und dann sahen sie beide zu mir herüber. Sie blickten mich direkt an und lächelten, bis ich an ihnen vorüber gegangen war. Ich war etwas irritiert, schaute mich rechts und links um, ob sie wohl jemand anderen gemeint haben könnten, aber das brache die Brünette noch mehr zum lachen. Sie schüttelte den Kopf und deutete mit dem Finger kurz auf mich. Ich lächelte unsicher zurück und ging weiter. Als ich mich am Ende der Straße noch einmal umsah, war ihr Tisch leer.
Seltsam, dachte ich mir noch, aber dann vergaß ich den Vorfall und ging hinunter zum Strand. Ich verbrachte den Rest des Nachmittages mit Lesen, Musik hören und damit, einfach über das Meer zu schauen und den Wellen zu lauschen. Du weißt, so etwas kann ich stundenlang… Gerade überlegte ich, was ich wohl am Abend unternehmen könnte ganz allein, da sprach mich jemand an. „Entschuldige“, hörte ich eine tiefe, angenehme Männerstimme direkt hinter mir, „darf ich Dich etwas fragen?“
Ich blickte mich um und dort stand eben der Mann, der mich im Straßencafé so provokant angeschaut hatte. Ein wenig entfernt stand seine Freundin. Sie winkte freundlich herüber, kam aber nicht näher. Er hockte sich neben mein Handtuch, nahm die Sonnenbrille ab und lächelte wieder auf diese Art, die mich irritierte.
„Ähm… kennen wir uns? Ihr habt mich doch vorhin schon so…“ begann ich unsicher. „Ja, Du bist uns vorhin schon aufgefallen. Und eben sagte Vianne zu mir „Schau, da sitzt die hübsche Kleine von vornhin. JETZT sprich sie aber an, nochmal treffen wir sie vielleicht nicht…“
„Ok… und wieso möchte Vianne, dass Du mich ansprichst?“ fragte ich, immer noch etwas verunsichert.
„Ja, also… wir haben ein Strandhaus unten im Südwesten. Heute Abend haben wir ein paar nette Leute zu einer ganz privaten Party eingeladen und wir würden uns freuen, wenn Du auch kämest. Hast Du Lust?“
„Eine private Party? Aber… Ihr kennt mich doch gar nicht…“