Die verknotete Identität der Andrea K.
© Nisham 2010Ein dicker roter Faden mit einem einfachen Knoten ziert ihr linkes Handgelenk. Sonst nichts. Kein Schmuck. Keine Uhr. An manchen Tagen ziert der rote Faden ihr rechtes Handgelenk, an anderen wiederum ihr linkes Handgelenk.
Andrea K. ist Anfang Vierzig. Ihr Leben ist immer unstetig gewesen, seit sie mit Zwanzig ihr Elternhaus verlassen hat. Klar, sie hat eine Ausbildung gemacht, doch danach war sie in den verschiedensten Jobs tätig. Mal überfordert, mal unterfordert – oft ganz einfach gelangweilt. Nicht anders erging es ihr mit ihren Beziehungen. Irgendwie schien sie immer wieder Partner zu finden, bei denen sie feststellen musste – manchmal erst nach längerer Zeit – dass sie überhaupt nicht zusammen passten.
So kommt es, dass Andrea K. mit Anfang Vierzig feststellen muss, dass in ihrem Leben so was wie ein roter Faden fehlt. Ein roter Faden, an dem sie sich festhalten kann, den sie benutzen kann um sich zu erinnern. Denn genau da liegt ihr Problem: Andrea K. kann sich an sehr wenig erinnern. Die Jobs sind oft nur durch Zahlen auf ihrem Konto nach zu verfolgen. Die Partnerschaften? Da ist meist nicht mal ein Gesicht übrig geblieben. Nur Fragmente, von allzu seltenen wirklich glücklichen Momenten. Ein bestimmtes Lied bei einem Openair-Konzert wenn die Sonne gerade untergeht. Eine Handtasche, die sie sich gekauft hat, obschon sie sich die nicht leisten konnte. Ein Spaziergang an einem einsamen Strand – mit jemandem Hand in Hand, doch welchem Menschen diese Hand gehörte… wie weggeblasen.
Deshalb wünscht sich Andrea K. jetzt nichts Sehnlicheres als endlich einen roten Faden für ihr Leben zu finden. Einen roten Faden, der ihr Leben ist, nicht mehr und nicht weniger. Der Haken an der Geschichte ist nur, dass bis zum jetzigen Augenblick Andrea K. gar nicht weiß, dass ihr eben dieser rote Faden fehlt. Es ist durch eine Zufallsbekanntschaft aus dem Internet, dass sie auf diese Idee kommt. „Dir fehlt dein roter Faden in deinem Leben? Nichts einfacher als das! Geh und such in einem entsprechenden Geschäft nach einem roten Faden. Wenn du ihn gefunden haben wirst, nein ich korrigiere mich: wenn dich dein roter Faden gefunden haben wird, dann wirst du es schon merken und ihn kaufen.“
Andrea K. hat eine Nacht darüber geschlafen. Am morgen erinnert sie sich nur vage daran, dass da doch noch was war, mit diesem roten Faden… „Ach ja, ich soll mir einen kaufen, und der wird mich finden… Komischer Gedanke.“
Zwei Tage später bummelt Andrea K. ziellos über ihren geliebten Flohmarkt. Nur selten kauft sie da etwas; aber sie schaut gerne, beobachtet die Menschen und verbringt hier Zeit, mit der sie sonst wohl nichts anderes anzufangen weiß. Und an diesem Tag bummelt sie, ein wenig gelangweilt über den tristen, weil kühlen und grauen Trödlermarkt. Doch wie magisch angezogen macht sie plötzlich einen Schlenker und geht direkt auf einen kleinen Trödlerstand zu. Es ist schon ein großes Wort, denn diese junge Frau hat auf eine Umzugskiste ein Brett gelegt und darauf eine kunterbunte Mischung von verschiedenen Dingen: Modeschmuck, Kinderbücher, drei verschiedene Espressotassen und einen ziemlich verworren aussehenden Wollknäuel. „Das sieht aber verdammt wie ein roter Faden aus“, geht es Andrea K. durch den Kopf. Sie greift mit leichter Hand danach. „Vorsicht“, meint die junge Frau am Stand, „das ist ein Wollgarn, das ich von meiner Großmutter habe. Sie hat wohl mal damit was machen wollen, aber sie war schon alt, und deshalb ist das alles so ein wenig durcheinander. Aber für 2 Euro können sie’s haben.“
Andrea K. spricht kein Wort. Sie hält diesen Knäuel von einem roten Faden in der Hand, dreht in so und so und anders rum. Von einem Anfang oder einem Ende ist nichts zu sehen. „Auch interessant, ein roter Faden ohne Anfang und ohne Ende, “ murmelt sie.
„Sie können den auch für einen Euro haben, ich weiß auch nicht, ob man damit noch was machen kann.“
Den Knäuel in der rechten Hand sucht sie mit ihrer Linken in ihrer Jeanstasche nach Geld; drei Finger klauben einen völlig zerknitterten Fünf-Euro-Schein hervor: „Da nehmen sie die 5 Euro, ich möchte kein Metallgeld zurück. Dieser rote Faden ist mir viel mehr Wert.“
Erstaunt blickt die junge Frau Andrea K. an. „Danke! Ich habe leider nichts zum einpacken.“
„Macht nichts, mein roter Faden soll auch nicht eingepackt werden. Danke auch und tschüss.“
So kommt Andra K. zu ihrem roten Faden. Zu Hause sucht sie stundenlang vergeblich nach dem einen Ende des Fadens. Nichts zu machen. Andrea K. ist kurz vor dem Verzweifeln, als sie an ihren Internet-Berater-in-Sachen-roter-Faden denkt. Sie macht ihn mit ein paar Worten auf das Problem aufmerksam. Umgehend kommt die Lösung: „Schneide dir für jeden Tag einfach ein Stück dieses Fadens ab, binde dir das Stück Faden um das Handgelenk.“
„Links oder rechts?“
„Egal, je nach Lust und Laune, du wirst es schon merken.“
„Und dann?“
„Am Abend, wenn du schlafen gehst, löst du den Faden von deinem Handgelenk und verknotest das eine Ende mit dem Ende des roten Fadens des Vortages.“
„Aha.“
„Genau. Und mit der Zeit wirst du sehen, wie dein roter Faden, dein roter Lebensfaden länger wird…“
„Das ist ja ein Ding!“
Und seither trägt Andrea K. jeden Tag einen roten Faden am Handgelenk.
Nach einigen Wochen wird es Andrea K. zu bunt, diesen Haufen roter Faden zu sehen, wo sie jeden Abend ein weiters Stück daran knotet. „Das kann doch nicht so bleiben! Ich muss meinem roten Faden doch mehr Aufmerksamkeit widmen. Aber wie?“
Ohne lange zu überlegen kauft sich Andrea K. am anderen Tag in einem Schreibwarengeschäft einen Stapel Transparentpapier. An diesem Nachmittag beginnt sie ihren zusammengeknoteten roten Faden sorgfältig von der Mitte eines Blattes Transparentpapier schneckenförmig aufzurollen. Bald stößt sie an den Rand des Transparentpapiers und da ist noch ein ganzes Stück roter Faden übrig. Was nun?
Sorgfältig legt sie ein zweites Blatt Transparentpapier auf die soeben aufgerollte Spirale. Über den Rand führt sie den roten Faden in die dritte Dimension und beginnt den roten Faden von außen nach innen spiralförmig aufzurollen. In der Mitte angelangt bleibt immer noch roter Faden übrig. Also legt sie ein drittes Blatt Transparentpapier drauf, in das sie vorher sorgfältig in der Mitte ein Loch gebohrt hat. Durch dieses Loch hindurch zieht sie den roten Faden und beginnt erneut eine Spirale von innen nach außen zu formen.
„So schaut ja mein Leben ganz anders aus. Es ist durch diesen roten Faden greifbar geworden. Und das Erstaunliche: seit ich diesen roten Faden benutze, habe ich nur einmal Job gewechselt. Und der Job, den ich jetzt mache, der macht mir so unsäglich Spaß! Ich arbeite da so gerne, mit netten Menschen und jeden Tag sieht es anders aus. Eine spannende Sache. Und mittlerweile habe ich auch einen Menschen kennen gelernt und ich bin dabei, diesem Menschen in meinem Leben Platz einzuräumen, mein Herz zu öffnen. Ich kann mich an so viele Einzelheiten erinnern, seit ich diesen roten Faden habe. Und was mich am meisten erstaunt, der Knäuel mit dem roten Faden, der scheint nicht enden zu wollen…