Hanna-Sieglinde (Endgültige Lösungen - 1)
© Nisham 2010Der ICE fährt auf die Minute pünktlich los. Das gefällt Hanna-Sieglinde, die sich auf 2 Plätzen breit gemacht hat, ihren edlen Rucksack auf dem Fensterplatz deponiert. Es ist Sommer; warm, die Klimaanlage jedoch genau richtig eingestellt. Sie trägt ein gewollt verwaschenes T-Shirt in einer undefinierbaren Farbe – so etwas zwischen grün und gelb. Eine dünne weiße Sommerhose und leichte Designer-Turnschuhe.
Ach ja, eine große Sonnenbrille verdeckt halb ihr Gesicht. 4 Stunden Zugfahrt liegen vor ihr. Zeit sich auszuruhen und mental noch mal alles durch den Kopf gehen lassen.
Der Auftrag von „Endgültige Lösungen“, der Firma in der sie eine Partnerin ist, kam vor etlichen Tagen schon. Alle Unterlagen sehr komplett, mit Beschreibungen und aussagekräftigen Fotos. Und einem sehr genauen Zeitplan. Alles wie immer anonym, nachts in ihrem Briefkasten deponiert. Hanna-Sieglinde hat alles memoriert, jedes kleinste Detail und sich noch mal alles auf Karten und bei Googel-Earth angeschaut. Sie trinkt aus ihrer mitgebrachten Wasserflasche, isst eine Banane und zwei Energieriegel. Der Zug ist gut besetzt, doch es ist heute relativ leise, keine Kinder unterwegs und die Handygespräche sind inexistent – eine Seltenheit.
Pünktlich fährt der ICE an ihrem Zielbahnhof ein. Sie steigt aus, und lässt sich vom Personenstrom zur Unterführung mitschwemmen, bis in die Einganghalle; gezielt geht sie durch die dritte Ausgangstür von links; genau in dem Augenblick, als sie durch die offenen Schwingtüren schreitet, kommt ihr ein junger Mann entgegen; die Hände der beiden streifen sich kaum, als sie aneinander vorbeigehen, doch Hanna-Sieglinde hat eine kleine Thermoplastiktüte ergriffen. So eine, wie sie in Apotheken für Medikamente benutz werden, die gekühlt bleiben müssen. Bei den Straßenbahnen bleibt Hanna-Sieglinde stehen, studiert die Fahrpläne und stopft dabei die kleine Kühltasche in ihren Rucksack. Mit dem Rucksack auf dem Rücken geht sie danach weiter, als hätte sie entschieden, doch lieber zu Fuß zu gehen. Bald ist sie in der Fußgängerzone, bleibt ab und zu vor einem Schaufenster stehen. Schaufensterbummel. Und doch blickt sie unauffällig um sich. Zeit hat sie genug. Sie schlendert durch ein großes Warenhaus, trinkt in einem kleinen Café an der Theke einen doppelten Espresso. Ein Blick auf die Uhr und sie sucht draußen nach der Nächsten Treppe, die zur UBahn führt. Ohne zu zögern wählt sie den richtigen Durchgang. Auf die UBahn wartend nimmt sie aus ihrem Rucksack – und da aus der Kühltasche – einer Tageskarte, die für den heutigen Tag bereits abgestempelt ist. Sie spürt die kleine Spritze, zieht sie sorgsam aus der Kühltasche und lässt sie in eine Außentasche ihres Rucksackes verschwinden, bevor sie den Reißverschluss zuzieht. Schon kommt die UBahn. Fünf Stationen muss sie fahren. Sie findet einen Sitzplatz in einer halbvollen UBahn. An ihrer Haltestelle steigt sie mit anderen Menschen aus, geht zu einer Rolltreppe, als würde sie hier jeden Tag denselben Weg gehen. Überirdisch angelangt geht sie der Hauptstrasse entlang, biegt in eine Seitenstrasse ab, in der sich edle Butikken reihen und einige kleine Lokale. Keine hundert Meter weiter tritt sie in ein sehr nobel aussehendes Modegeschäft. Alles sehr exklusiv: Wie an einem Sandstrand – der Boden dieser Butikk besteht aus feinstem weißen Sand. Zwei Kundinnen unterhalten sich an einem Kleiderständer mit Sonderangeboten, ansonsten scheint niemand da zu sein, doch dann kommt aus einem hinteren Raum eine üppige Dame, sehr ausgefallen gekleidet, mit nackten Füssen durch den Sand gehend. „Kann ich Ihnen helfen?“
Hanna-Sieglinde antwortet: „Gerne, ich suche ein Cocktailkleid für einen besonderen Anlass.“
„Da sind sie hier richtig, ich denke, ich habe da sogar etwas in Ihrer Größe – 36?“
„Ja, 36 passt oft, wobei ich manchmal sogar 34 tragen kann, je nachdem, wie es geschnitten ist.“ Von einem Ständer holt die Dame des Hausest zwei Cocktailkleider und hält sie Hanna-Sieglinde hin. „Ich denke, diese Farbigen würden Ihnen sehr gut stehen.“
„Ja, “ lächelt Hanna-Sieglinde, „dieses dunkelgrüne, mit diesen glitzernden Elementen gefällt mir sehr, doch auch das Schwarze scheint nicht ganz ohne zu sein, wenn vielleicht ein wenig unauffälliger.“
„Probieren Sie die doch gleich an – hier hinten ist die Anprobe.“ Mit diesen Worten geht die Butikk-Besitzerin voran und zieht einen schweren Samtvorhang zur Seite. Dahinter ist eine geräumige Anprobe. In die Hanna-Sieglinde tritt, nachdem die Frau beide Kleider nebeneinander aufgehängt hat. „Rufen Sie mich, wenn sie meine Meinung wünschen.“
„Ja, sehr gerne.“
Hanna-Sieglinde zieht den Vorhang zu, legt ihren Rucksack ab, zieht den kleinen Reißverschluss auf und nimmt die Spritze heraus. Sorgfältig entfernt sie den Gummistopfen, der die spitze Nadel schützt. Dann raschelt sie ein wenig mit den Kleidern. Bald ruft sie: „Madam, darf ich Sie was fragen?“
Augenblicke später kommt die Frau, zieht den Vorhang nur ein wenig auf, doch Hanna-Sieglinde hält das gründe Kleid vor sich und sagt: „Kommen Sie doch, ich glaube, da klemmt was.“ Beflissen tritt die Dame ein, zieht die Gardine hinter sich zu und nimmt Hanna-Sieglinde das Kleid aus der Hand: „Was ist denn?“ „Der Reißverschluss klemmt.“
Die Frau hält das Kleid in einer Hand und zieht am Reißverschluss, der problemlos gleitet. Genau in diesem Augenblick sticht Hanna-Sieglinde zu, die Spritze der Frau direkt durch das dünne Kleid in den Oberschenkel steckend. Die Frau schreit leicht auf, greift mit der Hand nach ihrem Schenkel, doch Hanna-Sieglindes Hand ist schon wieder weg. „Was haben sie getan?“
„Ich? Nichts.“
„Da hat mich doch grad was gestochen.“
Schnell wirkt das Gift. Rasend schnell. Gerade eben war die Frau noch ganz klar, doch nun rollen Ihre Augen nach hinnen, ihre Hände werden kraftlos, das Kleid gleitet ihr aus der Hand auf den Boden, die Frau sinkt in die Knie und fällt langsam seitlich hin. Hanna-Sieglinde schafft es gerade noch, den in sich zusammenfallenden Körper nach hinten zu schubsen, so dass sie in die Anprobe fällt und nicht in Richtung Vorhang. Schwer liegt der Körper auf dem sandigen Boden, das grüne Cocktailkleid halb unter sich. Hanna-Sieglinde bückt sich, kniet nieder und legt der Frau zwei Finger auf die Halsschlagader. Nichts. Tot.
Hanna-Sieglinde steht auf, steckt die Spritze in die Seitentasche des Rucksacks, zieht den Reißverschluss zu, hängt sich den Ruchsack über die rechte Schulter und zieht vorsichtig den Vorhang auf. Niemand in Sicht. Schnell geht sie durch den Laden zum Ausgang. Die beiden Kundinnen sind weg. Waren es überhaupt Kundinnen?
Gemächlichen Schrittes geht Hanna-Sieglinde zurück zur UBahn und fährt direkt zum Hauptbahnhof. Sie weiß, ihr nächster ICE fährt in knapp einer halben Stunde. Vor dem Bahnhof wirft sie die benutze Spritze in einen vollen Müllcontainer und geht, als wäre nichts gewesen an die Bar, bestellt sich einen Tomatensaft; kurz vor der Abfahrtszeit ihres Zuges geht sie zum Gleis; nur 5 Minuten Verspätung, kein Problem.
Gut vier Stunden später ist sie wieder zu hause in ihrem Reihenhäuschen, wo sie von ihrer Nachbaren erwartet wird, die voller Freude den ganzen Tag Hanna-Sieglindes drei Kinder betreut hat. Die Kinder sind noch auf, die Mutter bringt sie bald zu Bett, erzählt ihnen noch eine Geschichte. Dann erst geht sie in ihr Büro. Nimmt ein Handy aus einer Schublade, tippt „done“ und schickt die sms ab. Prompt erhält sie eine Antwort: „perfect“.
Hanna-Sieglinde lächelt kurz, geht in die Küche, öffnet den Kühlschrank holt eine eisgekühlte Flasche Malvasier heraus, entkorkt sie, riecht am Korken, schenkt sich einen Schluck ein, probiert. Nickt sich selber zu, schenk das Glas voll. Das Glas in der Hand geht sie ins Wohnzimmer. Mit der Fernbedienung schaltet sie ihre Musikanlage ein, Gregorianische Gesänge erfüllen den Raum. Hanna-Sieglinde prostet sich selber zu: „Auf die endgültigen Lösungen!“ Und dabei denkt sie an die 40'000 Euro, die morgen auf ihrem Konto sein werden.