Schuld
SchuldEr hielt die kleine Hand. Schlaff lag sie in seiner Großen.
Er betrachtete das kleine Gesicht. Blass lag es auf den Kissen, blasser noch durch das kalte Neonlicht der Intensivstation. Die Augen seines Sohnes waren geschlossen, und der tiefe Schlaf schien ihn weit in eine andere Welt genommen zu haben. Aber er war noch hier, er würde leben.
Vor wenigen Stunden hatte Pohl daran gezweifelt, dass sein Sohn je wieder lächeln oder ein Wort zu ihm sagen würde. Die Erinnerung an den Moment, als er um die Kurve in die Straße kurz vor seiner Haustür eingebogen war und das Blaulicht des Polizeiwagens gesehen hatte, durchflutete ihn erneut mit Adrenalin. Er hatte den metallischen Geschmack des Entsetzens noch auf der Zunge. Ob er es nur befürchtet hatte oder seherisch schon gewusst, dass da sein Kind lag, um das ein paar Nachbarn und Zeugen einen betroffenen Kreis gebildet hatten, konnte er nicht sagen. Es waren nur Sekunden, aber jene Sekunden, die einem später wie eine Ewigkeit vorkommen, Sekunden mit angehaltenem Atem, bis er aus seinem Auto herausgesprungen war und neben seinem Sohn kniete.
Er konnte auch nicht sagen, wieso er seine Hand sofort an Sebastians Halsschlagader gelegt hatte, um zu fühlen, ob da noch Leben pulste. Schwach hatte es gegen seine Fingerspitzen gepocht. Erst dann hatte Pohl ausgeatmet.
Und hatte wieder wahrgenommen, was um ihm herum war. Der warme Asphalt unter seinen Knien, das Gemurmel der Umstehenden, das näherkommende Geräusch des Martinshorns, das die Ankunft des Krankenwagens ankündigte, die Schürfwunden an Sebastians dünnen Ärmchen, das Blut, das aus dem rechten Scheinbein sickerte und das verbogene Fahrrad, das neben ihm lag. Er hatte das Schluchzen seiner Frau wie durch einen Nebel gehört und aufgesehen. Sie stand ihm gegenüber, von einer Nachbarin gestützt, und presste den kleinen Rucksack von Sebastian an ihre Brust. Neben ihr war ein Polizist. Sein Kollege machte eine Gasse für den Krankenwagen frei.
Pohl hatte Sebastians Namen gerufen, aber das Kind war nicht bei Bewusstsein.
Die Sanitäter und der Notarzt hatten Sebastian den Helm abgenommen, den Schädel untersucht und das gebrochene Schienbein auf eine luftgefüllte Manschette gebettet. Er hatte das Schließen der Krankenwagentür wie einen Donnerschlag gehört. Irgendwie war er wieder in sein Auto gestiegen, seine Frau auf den Beifahrersitz, und sie waren dem Wagen hinterher gefahren. Im Krankenhaus war Sebastian sofort in den OP gekommen, denn der offene Bruch musste operiert werden.
Ein Arzt hatte sie informiert, dass Sebastian außer dem Bruch keine schweren Verletzungen hatte. Das Auto, das dem Kind die Vorfahrt genommen hatt, hatte ihn glücklicherweise nur mit der Stoßstange an den Beinen erwischt.
Pohl fühlte Tränen der Erleichterung in sich aufsteigen. Bei den Worten des Arztes hatte er das Gefühl, als hätten sie ihm seinen Sohn noch einmal in die Arme gelegt – wie damals nach der Geburt. Seine Frau war erneut in wildes Schluchzen verfallen und hatte eine Beruhigungsspritze bekommen.
Nun schlief sie auf der anderen Seite des Bettes, zusammengesunken auf einem Stuhl und den Kopf neben dem kleinen Körper.
Ihr Gesicht vom Weinen noch geschwollen, die Haare wirr und Schweiß verklebt, der Mund ein wenig offen, sah sie selbst mehr wie ein Kind aus.
Pohl wurde überschwemmt von Schuldgefühlen.
Obwohl er wusste, - sein Verstand wusste es - dass er den Unfall nicht hätte verhindern können, auch nicht, wenn er früher, pünktlich, nach Hause gekommen wäre, fühlte er sich schuldig.
Sein Herz war schuldig.
Wieder stiegen Tränen in ihm hoch, und er fühlte, dass er ihnen diesmal nicht Einhalt gebieten konnte. Er stand auf, um die beiden Schlafenden nicht zu wecken. Im Gang lehnte er sich an eine Wand und weinte. Weinte, wie er seit vielen Jahren nicht geweint hatte. Das Schluchzen schüttelte ihn, bis er sich auf den Boden sinken lassen musste, um da weiter zu weinen. So lag er allein auf dem nächtlichen Gang, in der Leere und Stille um ihn herum. Versank in seiner Angst und seinen Schuldgefühlen: Nicht da, immer war er nicht da gewesen. Immer zu spät, immer unterwegs, immer beschäftigt, immer zu wenig geliebt, immer zu selten.
Nie genug.
Plötzlich fühlte er eine Hand auf seiner Schulter. Er öffnete die Augen und sah schwarz. Er rappelte sich hoch und blickte in die freundlichen Augen einer Ordensschwester.
„Geht es wieder?“ fragte sie ihn sanft. Er konnte nur nicken. Sein Atem kam in unregelmäßigen Stößen.
Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn in kleinen Aufenthaltsraum. Dort setzte sie ihn in einen der Sessel. Sie verschwand und kam mit zwei Tassen Tee wieder. Dann nahm sie ihm gegenüber Platz und sah ihn an. Voll Wärme und Mitgefühl.
Pohl nahm einen Schluck Tee, der seinem rau geweinten Hals gut tat.
„Ich bin schuld“ brach es aus ihm heraus.
„ Am Unfall Ihres Kindes?“ fragte sie.
„Nein, Sie verstehen nicht, ich bin wirklich schuld – ich war nicht da!“
„Aber jetzt sind sie doch da, am Bett Ihres Sohnes, oder?“
„Ja, jetzt, ... aber ich habe so viele Jahre alles falsch gemacht.“
„Möchten Sie mir davon erzählen?“
Pohl holte tief Luft. Sollte er, der so lange geschwiegen hatte, der alles, was er hätte sagen sollen, nie gesagt hatte, jetzt dieser Fremden eine Beichte ablegen? Oder sollte er wie immer die Müdigkeit und die besondere Situation als Ausrede für seine schlechten Gefühle und den Ausbruch nennen?
Aber etwas in ihm drängte ihn zu sprechen. Und so erzählte er von den Jahren, in denen er zu viel gearbeitet hatte, nicht nur, um seine Familie zu versorgen, sondern auch, um nicht nach Hause zu müssen. Denn dieses Heim war sehr bald nach Sebastians Geburt nicht mehr sein Zuhause gewesen. Die Liebe zu seiner Frau war irgendwann erloschen – er konnte den Moment noch nennen, als er zum ersten Mal erkannte, dass er sich nicht mehr auf sie freute. Und das Entsetzen über dieses Erkennen. Und wie er verzweifelt eine Erklärung suchte. Und angefangen hatte, sich und sie zu belügen. Immer wieder und immer besser, bis er seine Lügen selbst glaubte; ein so perfektes Gebäude aus Lüge und Verdrängung errichtete, dass er sich in diesem Haus geschützt und geborgen fühlte. Er hatte sie auch mit anderen Frauen betrogen. Aber wegen Sebastian hatte er sie nicht verlassen. Wegen Sebastian wollte er alles aushalten – auch den Verrat an seiner Frau und an sich selbst.
Doch in dieser Nacht hatte sein Gebäude Risse bekommen. Er war zu spät nach Hause gekommen, weil er keine Lust hatte, heim zu gehen, in ein Heim, das er als Gefängnis betrachtete. Und den Unfall seines Sohnes betrachtete er als Strafe für all die schlechten Gedanken und Handlungen der vergangenen Jahre.
Er schwieg, endlich. Seine Hand zitterte, als er nach der Tasse griff. Er fühlte sich leer, unendlich leer.
Die Frau ihm gegenüber hatte ihm zugehört, still die Hände im Schoß gefaltet. Nun stand sie auf – ihre gestärkten Röcke raschelten bei ihrem Schritt – und ging zu ihm. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, fast wie in einer segnenden Geste.
„Da draußen beginnt ein neuer Tag. Ihr Sohn lebt und wird wieder gesund werden. Niemand ist ohne Schuld. Aber wir können eine Schuld, die wir einsehen, wieder gut machen. Alles kann heilen, so wie das Bein Ihres Sohnes. An diesem und jeden neuen Tag können Sie Ihr Leben ändern und wieder gut machen, wenn Sie es wirklich wollen. Ich wünsche Ihnen Kraft dafür. Gottes Segen wird mit Ihnen sein.“
Und damit verließ sie Pohl. Er blickte in das zarte Morgenrot vor dem Fenster.
Als er wieder an das Bett seines Sohnes trat, schlug das Kind die Augen auf.
„Papa, du bist da!“
Pohl nahm in sanft in seine Arme.
„Ich werde immer für dich da sein!“
Und Pohls Herz war durchströmt von Dankbarkeit und Liebe.
©tangocleo 2010