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Wendepunkt

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Wendepunkt
Wieder einmal ist der Beginn der Geschichte, dem Geschichtenspiel zu verdanken. Toni (ja, er liest neuerdings meine Geschichten, auch wenn sie ihm nicht immer gefallen) meinte dann: "Des is do ka Ende, do muass da nu wos einfoin. Moch amoi."
Nun gut - ich hab etwas weiter gedacht. *g*
Bin ja brav *zwinker*
Alle acht Worte sind jetzt nicht mehr untergebracht - ich musste sie etwas anpassen - tut mir Leid (nein, ist gelogen, tut es nicht *g*)

*sonne* Herta

***************************************************


Wendepunkt

Ich gehe durch das Gatter.
Nein.
Ich sehe mich nur durchgehen, stelle mir vor, wie ich es aufdrücke, den Weg entlang schlendere und dann vor der Tür stehenbleibe, die Hand nach der Klingel ausgestreckt.
Und was mache ich?
Ich stehe hier und gaffe.

Schaue mir selbst zu bei etwas, das ich schon seit Tagen machen will, aber mich nicht traue. Ich beschließe, ein Feigling zu bleiben und will wieder umkehren. Doch da öffnet sich die Tür und ich sehe ihn heraustreten. Mist. Was mache ich jetzt? Er hat mich gesehen und kommt auf mich zu. Wir arbeiten schon lange zusammen und gehen auch manchmal nach dem Dienst auf einen Kaffee oder ein Bier oder worauf wir eben Lust haben. Aber von seiner Seite ist es nur dienstlich, nicht einmal platonisch. Sehe ich so aus, als ob mich Platon interessieren würde? Im Gegenteil, ich giere nach körperlicher Nähe, nach Berührung und bin gleichzeitig zu feige, sie mir zu holen.

Mario kommt auf mich zu. Ich schlucke, muss mich zum Atmen zwingen. Was sage ich jetzt? Meine Hände fühlen sich an, als würden sich in ihnen die Niagarafälle stauen und das Wasser tropft langsam von den Fingern. Ich kann die Tropfen förmlich sehen, die von den Fingerkuppen stürzen und unter mir bereits einen See bilden, in dem ich zu ertrinken hoffe.
„Hallo Gisela“, sagte er verblüfft. Ich starre.
„Äh, Hallo. Ich war gerade in der Gegend …“, beginne ich zu lügen und werde sofort durchschaut.
„Ist etwas passiert?“, fragt er besorgt.
„Nein, nein – alles in Ordnung“, lüge ich weiter. Diesmal glaubt er mir.
„Möchtest du auf einen Drink reinkommen?“ Das Angebot ist verlockend, doch dann kommt eine Frau aus der Tür.
Himmel!
Was für eine Erscheinung!
Wenn ich er wäre, würde ich auch keine andere mehr anschauen.
Himmel noch mal! Wo ist eine Erdspalte in der man verschwinden kann, wenn man mal eine braucht? Natürlich am anderen Ende der Welt. Das sieht mir ähnlich.
„Nein danke, Mario. Es war wirklich nur Zufall, dass ich hier vorbeigekommen bin“, höre ich mich sagen und es klingt halbwegs normal.
„Wie du meinst, du musst es ja wissen.“
„Mario, Liebling, deine Mutter fragt gerade, wann sie die Kinder abholen soll“, höre ich die Frau jetzt. Verdammt! Sie sieht nicht nur gut aus, sondern klingt auch so. Neben ihr komme ich mir plötzlich dumm, linkisch und abgrundtief hässlich vor. Ich beschließe einen raschen Rückzug anzutreten.
„Wir sehen uns am Montag“, sage ich rasch und laufe davon, die Straße entlang. Ich höre noch wie er sagt: „Gib mir das Telefon Christina. Wann wollen wir auf der Party sein?“ Ich versuche wegzuhören und laufe schneller.

Mist. Ich habe vergessen, dass hier eine Sackgasse ist. Also, muss ich umdrehen. Mario und Christina stehen noch im Vorgarten mit der akkurat geschnittenen Hecke und dem verschnörkelten Gatter.
Er hat einen Arm um ihre Hüfte gelegt. Die Blicke die sie sich zuwerfen sprechen Bände, wie ich finde. Ich wünschte, mich würde einmal jemand so ansehen.
Mann, ich kann die Sexualhormone beinahe aus ihnen herausströmen und sich im Vorgarten auf diesem perfekt getrimmten Rasen paaren sehen. Purer Sex strömt aus ihnen. Ich beschleunige, renne so schnell ich kann.

Irgendwann komme ich zuhause an. Ich bin verschwitzt, das mausbraune Haar hängt mir in Strähnen ins Gesicht, eine hat sich sogar in den Mund verirrt.
Müde und um Atem ringend lehne ich mich an die Hausmauer. Ich schließe die Augen und sehe Mario wie er Christina verschlingt. Ja, sie verschlingen sich – mit den Blicken, mit dem Mund, mit den Armen, den Händen und dem Rest von ihnen. Das will ich mir jetzt lieber nicht vorstellen. Ich muss es ja schon bitter nötig haben, wenn mich die Vorstellung von Sex alleine so in Wallung bringt.

Meine Beine wollen nicht mehr weiter. Aber sie müssen mich noch hoch in den vierten Stock tragen. Es wird ihnen nichts helfen. So Knie, beugen – strecken – beugen – strecken. Brav so. Weiter.

Endlich stehe ich vor meiner Wohnungstür und krame in der Hosentasche nach dem Schlüssel.
„Halt die Klappe, du Schlampe!“, dröhnt es aus der Nebenwohnung.
Ich bin definitiv zuhause.
„Ach lass den Scheiß, du Spasti!“, ist die nette Antwort. „Versäufst ständig meine Kohle. Sieh zu, dass du Land gewinnst!“
Ah, die beiden sind heute in Fahrt. Das vertreibt für eine Weile meine Sehnsucht nach einem Partner. Sie schreien noch weiter, etwa eine Stunde geht das so, dann hat die Bienenkönigin ihre Drohne verscheucht. Er ist ausgeflogen. Ich habe noch das knallen der Tür in den Ohren, als er abgezischt ist wie eine Rakete und sie hinterher.
Die Kinder tun mir jedes Mal leid und manchmal kommen sie dann zu mir, wenn sich ihre Alten unten im Park beschimpfen und prügeln.
Wenn die drei dann hier sind – die drei Stanisläuse nenne ich sie für mich – dann stehen sie rum wie Nippes, wagen sich nicht zu bewegen. Erst wenn ich eine Drohgebärde mache, erwachen sie aus ihrer Starre und beginnen zu spielen.

Ich habe Lego bei mir in der Wohnung, eine ganze Kiste voll und einige Kuscheltiere. Sollte das jemand weitersagen den werde ich vermöbeln. Also, damit spielen die Kids dann, manchmal bis spät in die Nacht, bis sie ihre Mutter abholen kommt.

Was gehen mich meine Nachbarn an?

Ich lasse mir ein Bad ein. Lauwarm. Etwas Lavendelöl, damit ich endlich etwas ruhiger werde. Keine Musik. Keine Kerzen. Kein Wein. Kein – irgendwas.
Nur Ruhe.
Zumindest dringt von außen kein Lärm mehr herein.
Ich bin die Unruhe in Person.
Als dieser andere fette Nachbar an mir vorbeigelaufen ist und mich dabei gerempelt hat, hab ich doch glatt sein Testosteron gerochen. Dieser unsympathische Typ und seine noch unsympathischere Frau, beides totale Nieten, hässlich, dass es verboten werden sollte – und sie sind nicht alleine.

Ich tauche unter im Lavendelölbad. Versuche mein Selbstmitleid im Duft zu ertränken, mit dem Öl schmieriger zu machen, damit es sich vielleicht bei den Ohren hinaus winden und mich endlich verlassen kann.

Gisela Müller, die letzte Vollniete auf Erden, ertrank im Lavendelölbad, wird dann morgen in der Zeitung stehen. Aber nein, ich werde es nicht einmal auf die Titelseiten schaffen. Nicht einmal das werde ich zuwege bringen. Stattdessen tauche ich lieber auf und ziehe lautstark die Luft in meine Lungen, die sich freudig dehnen. Ich höre die Bronchien förmlich applaudieren. Ja, die Leistung des Atmens ist enorm – beifallswürdig.

Klatscht weiter – ich steige aus der Wanne. Mir doch egal. Macht euch ruhig lustig über mich. Ich betrachte die Fische, die ich an die Kacheln geklebt habe, damit nicht alles so klinisch weiß aussieht. Klinisch – ja, hier ist Vieles wie im Krankenhaus. Ach, lass die Arbeit in der Arbeit und genieße jetzt den Feierabend.

In der Küche müsste noch irgendwo eine Flasche Wein vergraben sein und auch eine Tüte Chips. Im Kühlschrank finde ich eine offene Sardinenbüchse und noch ein Stück Brot. Wein, Chips, Fische und Brot entschließen sich, mit mir zu Abend zu essen.

Während ich mir irgendeine Samstagabendshow reinziehe, futtere ich alles, was ich gefunden habe. Dann stehe ich auf, laufe zur nächsten Tankstelle und erstehe noch eine sechser Trage Bier. Eisgekühlt.
Natürlich.

Da treffe ich den Nachbarn wieder – dieses testosterongeschwängerte Ungetüm. Seinen Bauch kann er als Abstellfläche benutzen. Wann hat der Typ seinen Pimmel das letzte Mal gesehen, frage ich mich eben.
Jetzt baggert der mich auch noch an.
Habe ich etwas verbrochen?
Schnell greife ich noch nach einer Packung Haferschrot (was die so alles führen in den Tankstellenläden, erstaunlich), versuche das Bier nicht fallen zu lassen und rasche zur Kassa.

Der Typ weicht mir nicht von den Fersen. Ich brauche ihn nicht zu sehen, sein Geruch überholt mich und stellt sich mir in den Weg.

Nein! Nein, nein! Nicht heute.

„Ist etwas?“, frage ich und drehe mich abrupt um. Für den Dicken zu schnell. Er prallt fast mit meinem Bierkarton zusammen, den ich eben bezahlt habe.
„Äh nein, Süße“, nuschelt er. Dann hat der doch tatsächlich die Stirn, mich hier auf der Tankstelle um zehn Uhr nachts zu fragen, ob ich mit ihm Sex haben will!

Na ehrlich! Sex hätte ich schon gerne, aber nicht mit dem da.
Etwas Selbstachtung habe ich doch noch.
So weit bin ich noch nicht gesunken.
Sollte ich jemals so weit sein – kann mich dann jemand k.o. schlagen?

Statt einer Antwort starre ich ihn nur an. „Ma wird ja no fragen dürfen“, sagt er mürrisch. Dann zwängt er sich an mir vorbei hinaus auf die Zufahrt und baggert die Nächste an. Seine Alte lässt ihn wohl mal wieder nicht ran.

Der hat vielleicht Nerven! Hässlich wie die Nacht und man glaubt es kaum, steigt eben zu einer Tussi ins Auto. Entweder ist das eine Bezahlbare oder eine in noch größeren Nöten als ich.

Egal.

Ich schleppe mein Zeug nachhause. Was mache ich jetzt mit dem Getreide, dem Schrot? Alles Schrott. Auch egal, ich stelle es in den Schrank.

Deprimiert über so viele Fehlschläge werfe ich mich auf die Couch und beginne damit, mich zu betrinken. Ob ich wenigstens da erfolgreich sein werde, das weiß ich noch nicht.


Ich versage.
Natürlich.

Um halb sechs Uhr läutet das Telefon. Ein müdes Augenlid hebt sich, das andere weigert sich beharrlich mitzuspielen. Natürlich siegt meine Neugier und lässt die rechte Hand nach dem Handy greifen, die Finger strecken und beugen und dann sogar den richtigen Knopf zum Annehmen des Gesprächs finden.
„Hä?“, fragte ich. Ich stelle mich nie vor, es rufen zu viele Spinner an.
„Ah Gisi, kannst du bitte heute für Gretel den Dienst übernehmen. Sie hätte Frühdienst und ist leider krank geworden.“
„Hä?“ Ich habe noch nicht alles verarbeiten können. Gretel war gestern auf einer Party, deshalb ist sie heute krank.
„Äh“, versuche ich mich zu winden, komme aber nicht weit, weil Maria das Äh absichtlich missversteht.
„Vielen Dank Gisi, du bist echt ein Schatz. Ich wusste, auf dich kann ich zählen, du bist ja ohnedies immer zuhause.“ Sie legt auf und ich starre auf das Handy.

Sagt mal, bin ich blöd? Steht auf meiner Stirn geschrieben: „Hallo, das ist Gisela, nutzt sie aus.“ Wahrscheinlich steht das sogar in Leuchtschrift.
Nun gut, das Problem, was mache ich am Sonntag, ist gelöst.

Mir tut jeder Knochen weh, ich bin auf der Couch eingeschlafen. Eine angebrochene Flasche Bier steht da, die anderen fünf sind noch im Kühlschrank. Müde beginne ich damit, Kaffee zu kochen, dann stelle ich mich kurz in die Badewanne – eine kalte Dusche muss jetzt sein, werfe mich in Schale, stürze den Kaffee hinunter und laufe zur Bushaltestelle.
Okay, ich laufe nicht – ich schlurfe.

Ich brauche dringend einen Freund oder wenigstens ein Hobby. Aber alles erscheint so langweilig oder teuer oder beides.

So, das war jetzt der zwölfte Dienst in Folge. Wie ich den rumgebogen habe weiß ich nicht. Es läuft immer gleich ab. Dienstübergabe, Frühstück austeilen, Leute waschen und wieder auf die Beine bringen, Betten machen, Dienstübergabe, Mittagessen austeilen, Betten machen, dazwischen Blutdruck messen, Temperaturen kontrollieren. Freundlich lächeln nicht vergessen. Heute fällt es mir schwer.

Endlich kann ich heim gehen. Doch da wartet schon die nächste Überraschung. Papa steht vor der Tür. Was macht er da? Warum kann er mich nicht anrufen? Habe ich etwas vergessen? Ich habe und erfahre es umgehend. Statt einer Begrüßung schlägt mir ein Vorwurf wie ein nasser Lappen ins Gesicht. „Gisela, du hattest versprochen, mich heute zum Friedhof zu fahren, so musste ich Freddy bitten. Du weißt, ich kann nicht mehr Auto fahren, weil meine Augen so schlecht sind.“
Mist, das hatte ich vergessen. Oder lasst es mich so ausdrücken, ich hatte keine Chance daran zu denken, weil ich ja einspringen musste.
„Tut mir Leid, Papa. Ich war arbeiten“, sage ich schließlich müde. Es ist wieder so heiß wie gestern. Ich fühle wie mir der Schweiß in Bächen den Rücken hinunterläuft.
„Na, zum Glück ist ja noch dein Mann da, der weiß, was sich gehört. Warum hast du ihn überhaupt verlassen?“
Verdammt, das habe ich nicht! Ihr habt mich rausgetrieben und Alfred ist ein Arschloch, würde ich am liebsten sagen. Doch ich schweige. Wie immer, wenn es um das Thema geht. Um des lieben Friedens willen, bin ich die Böse.
„Bist du gekommen, um mir das zu sagen? Magst du mit hinaufkommen?“
„Nein, in den vierten Stock schaffe ich es nicht. Ich fahre dann wieder. Aber du könntest ruhig etwas öfter zu uns kommen.“ Er schafft es, dass ich mir wie der letzte Dreck vorkomme. Echt.

Er wartet nicht, ob ich noch etwas zu sagen habe, sondern dreht sich um und geht zielsicher zum Wagen. Freddy grinst dämlich und winkt mir zu. Ich drehe mich um. Dieser Schläger. Lieber verzichte ich auf das schöne Haus, als mit dem noch eine Nacht unter einem Dach zu verbringen.

Hastig krame ich nach den Schlüsseln und stürze in meine Wohnung. Die Nachbarn haben sich schon wieder prächtig lieb und befetzen sich ordentlich. Ja, die sind beständig. Er prügelt sie, sie prügelt ihn, dann haben sie Sex oder die Polizei steht vor der Tür. Irgendwas ist hier immer. Aber bei meinem Gehalt kann ich mir keine Wohnung in einer besseren Gegend leisten. Hilfskräfte werden nicht gut bezahlt, auch wenn wir arbeiten wie die anderen. Selbst Schuld, Gisela, warum hast du nichts Ordentliches gelernt.


Am frühen Abend holt mich abermals das Klingeln des Telefons aus dem Schlaf. Kann man denn niemals seine Ruhe haben? Ich sollte das Ding ausschalten, wenn ich schlafen will. Vergesse aber immer darauf, weil es sich sonst auch nie rührt. Aber die Technik weiß, wann ich mich hinlege und beginnt dann mit ihrem Terror.

Es ist Mario.
Es ist Mario!
Warum ruft der mich an?
Er ruft mich nie an!
„Hä?“, frage ich dämlich und schäme mich dafür.
„Gisela? Hättest du heute nicht frei gehabt? Ich war eben kurz im Krankenhaus, weil ich nach einem Patienten gesehen hab und da sah ich dich weggehen.“
„Hä!“, antworte ich. Wieso fällt mir nichts ein?
„Habe ich dich geweckt?“
„Ähä.“ Dazu nicke ich, als ob er das sehen könnte.
„Tut mir Leid.“
„Macht nichts.“
„Du solltest nicht so viel arbeiten.“
„Ja.“
„Das macht dich krank und unattraktiv.“
Danke. Ich lege auf.
Nein ich sage: „Ja.“ Sehr einfallsreich. Ich hasse mich.
„Sieh zu, dass du ein Hobby bekommst, das dich mit anderen Leuten zusammenbringt.“
Was mischt der sich jetzt in mein Privatleben ein? Es interessiert ihn sonst auch nicht, außer wenn wir nach dem Dienst noch zusammen irgendwo etwas Trinken. Doch da schweigen wir meistens. Ich liebe sein Schweigen. Es hat so etwas Geselliges. Niemand kann so gut schweigen wie Mario. Warum will er jetzt reden?
„Ja.“
„Na gut. Ich habe dafür gesorgt, dass du morgen frei hast.“ Ich will nicht. Morgen hätten wir zusammen Dienst. Mario ist der Stationsleiter, er macht den Plan. Natürlich nehme ich mir frei.
„Danke“, sage ich.
Dann legt er auf. Grußlos.
Toll.
Gisela, die Niete, braucht jemanden, der für einen freien Tag sorgt.
Dieses Wochenende habe ich einige Glanzleistungen vollbracht.
Wie tief kann ein Mensch sinken?
Sagt es nicht! Ich will es gar nicht wissen.

Der Kühlschrank ist leer, bis auf die fünf Flaschen Bier und einem harten, sehr harten Stück Käse und einer vergammelten Tomate.
Es wird immer besser.
Aber ich habe noch das Getreide. Das koche ich mir jetzt mit etwas Wasser weich. Irgendwie bin ich hungrig geworden.
Es wird eine richtige Pampe, die würge ich gleich aus dem Topf runter, während ich mir die Nachrichten ansehe.

Also, was mache ich morgen, wenn ich schon frei habe?
Niemand sonst, den ich kenne, hat morgen frei.
Kenne ich jemanden außerhalb des Krankenhauses?
Nicht antworten! Ich weiß, es ist armselig.


Am nächsten Morgen wache ich schon früh auf. Ich habe wieder einmal auf der Couch geschlafen. Irgendwie fühle ich mich anders. Ausgeruht.
Entschlossen, mich heute nicht anrufen zu lassen, stelle ich das Handy aus. Es hat einen Ausschaltknopf. Ich weiß das genau. Gut, ich finde ihn nicht. Also verstaue ich das Ding in einer Schublade und lege einige Schals darüber. So höre ich es garantiert nicht – und finden werde ich es auch nie mehr.

Aber das ist noch nicht alles. Heute bleibe ich nicht zuhause. Ich unternehme etwas.
Allein.
Erbärmlich. Aber es ist keiner da, der mit mir einen Ausflug machen würde. Besser etwas Erbärmliches unternehmen als gar nichts, rede ich mir zu.

Ich steige in den nächsten Bus und verlasse die Stadt. Er ist überfüllt mit Leuten, die zur Arbeit fahren. Schon jetzt um sieben Uhr morgens stinkt es in der Enge des Busses nach Schweiß und Deodorant. Gut, dass es nicht regnet, denn der nasse Boden dazu und dampfende Schirme würden das Duftpotential in ungeahnte Dimensionen schnellen lassen. Schon allein die Vorstellung daran, lässt mich würgen und mir wünschen, nicht wieder Getreide gegessen zu haben.

Ich lasse mich bis zur Endstation bringen. Hier steige ich in den Postbus um und fahre noch einmal eine Stunde lang bis ich auch hier am Wendepunkt ankomme.

Wendepunkt?
Wendepunkt!
Das ist es. Ich brauche nur einen Schritt zu gehen.

Als ich Freddy verließ, war es ein Beginn, aber ich hörte mitten in der Kehre auf, zu gehen.
Ha! Ich steige aus dem Bus und mache den ersten Schritt und noch einen und einen weiteren, bis ich von der Straße in einen kleinen Feldweg einbiege, der direkt in die sanfte Hügellandschaft führt. Wenn ich mich umdrehe, kann ich den Fluss sehen, wie er sich durch die Ebene schlängelt und das Land teilt – in einen Norden und einen Süden.

Ich gehe bis es Abend wird und komme zu spät.
Toll!
Da will ich mich ändern und dann verpasse ich den letzten Bus und morgen habe ich wieder Dienst. Das Handy habe ich natürlich zuhause gelassen. Hier ist es völlig einsam. Ein heruntergekommener Bauernhof, die Bushaltestelle eine geschlossene Gastwirtschaft und ich.
Irgendwo bellt ein Hund.

Ich setze mich auf die Bank im Wartehäuschen und tue mir schrecklich Leid.
Armselig.

Ich schaue mich um. In diesem halbverfallenen Bauernhaus brennt Licht.
Was habe ich zu verlieren?
Ich sehe mir zu, wie ich darauf zu gehe und die Klingel betätige.
Tatsächlich! Ich stehe vor der Tür und ein junger Mensch öffnet. Ein warmer Lichtstrahl und ein noch wärmeres Lächeln bitten mich ins Haus.

„Hallo Gisela, schön, dich wieder einmal zu sehen“, sagt er. Ich krame in meinem Gedächtnis. „Bernd“, hilft er mir auf die Sprünge. Ich lächle auch. Seit einer Ewigkeit habe ich ihn nicht mehr gesehen. „Bist du hungrig?“ Ich nicke. Irgendwie wollen die Worte jetzt nicht von meinen Lippen, sie scheinen sich daran festgesaugt zu haben, während sie sich auf der Zunge stauen und ich sie schlucken muss. „Dann komm mit. Du schaust gut aus.“ Smalltalk. Lügen. Ich sehe grässlich aus.

Wir essen zusammen und schweigen. Was ich in mich hineinstopfe weiß ich nicht. Es ist gut, irgendwas aus Gemüse. Bernd war schon immer so, kein Fleisch – absolut nichts tierisches. Wir sind zusammen zur Schule gegangen. Beide waren wir Einzelgänger.

Jetzt betrachte ich ihn genauer. Er trägt sein hellbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Himmel, er hat eine Stirnglatze. Nun, er kann ja nichts dafür, hat er sich sicher nicht ausgesucht. Kein Gramm Fett kann ich an ihm entdecken. Was für ein Oberkörper! Himmel! , schreit es in mir. Ich merke, wie ich gaffe. Meine Augäpfel scheinen sich selbstständig zu machen und folgen seinen Bewegungen. Ich will die Lider schließen – sie gehorchen nicht.
„Ähm, wann geht der nächste Bus in die Stadt?“, höre ich mich schließlich fragen.
„Morgen früh, um halb sieben.“
„Verdammt, da muss ich schon in der Arbeit sein.“
„Kann dich niemand abholen? Hast du kein Handy?“, er scheint belustigt zu sein, denn er grinst die ganze Zeit über und siehst so unverschämt gut gelaunt aus.
„Nein und ja, aber nicht hier. Ich bin ein Esel.“ Irgendwie überkommt mich nun doch etwas Verzweiflung. Wenn ich unentschuldigt nicht zur Arbeit komme und mich auch niemand erreicht, dann gibt’s eine Verwarnung und dann bald: Tschüß Gisela, such dir eine andere Arbeit. Geh Kloputzen am Bahnhof, das passt zu dir. Arbeit für Verlierer oder Reihe dich in die Schlange der Totalversager am Arbeitsamt ein. Aber nicht alle dort sind Totalversager – ich nicht! Nein.
Irgendwie habe ich den Eindruck, dass Bernd meine Gedanken lesen kann, denn er setzt sich zu mir auf die harte Eckbank, nimmt meine Hand und drückt sie leicht.
„Ich mache dir ein Zimmer zureckt. Platz habe ich genug, leider kein Auto und auch kein Telefon“, sagt er schließlich und lächelt noch immer. Was muss der die ganze Zeit über grinsen, wenn ich Angst um meinen Job habe?
„Danke“, höre ich mich sagen und dann geschieht das Wunder.
Es muss eines sein.
Ich lache!
Wie schon seit vielen Jahren nicht mehr.
Ich kann nicht mehr aufhören. Immerzu muss ich über mich selbst lachen.

„Danke, Bernd. Heute scheint mein Glückstag zu sein.“
„Sehe ich auch so.“

Ich lebe.
Endlich habe ich mich selbst eingeholt, in dieser Baracke bei einem Zivilisationsverweigerer.

(c) Herta 7/2010
Danke!
So dämlich bin ich auch, es muss erst knüppeldick kommen, bevor ich den Schalter umlege....
kurzdavor *top* laf
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Ich sag dir was, Olaf ... ich auch *g*

Aber ich kann mittlerweile sehr rasch und entschieden Nein sagen *haumichwech*

Deine 8 Worte waren Schuld und da vor allem das blöde Gatter in Verbindung mit meinen perfekten Nachbarn - akkurat geschnitten der Rasen und perfekt gestylt der Rest des Gartens. *haumichwech*

Aber mein Hirn war schneller als der Rasenmäher vom Ch. (dem blöden Hund, mit Verlaub, ihr kennt ihn nicht und das ist auch gut so.)


*sonne* Herta
ich habe 70 Jahre benötigt, um die Kraft zu haben:
N E I N

zu sagen

entschuldigung für die fehler, kann noch nicht richtig sehen -- -
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Liebe Ev, bei dir habe ich keine Fehler gefunden - dafür bei mir *tuete*
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