Der zwinkerte Gartenzwerg oder die grausame Tat
Wo sollte ich denn nun nur hin? Gegangen bin ich, einfach so. Ich habe mich umgedreht und die Türe geöffnet. Ohne darüber nachzudenken, was denn von nun ab sein würde. Tapsend bewege ich mich durch den dunklen Hausflur, wie so unzählige Male vorher, um nachts noch den Hund raus zu lassen. Der Drehknopf der Haustüre fühlt sich kalt an, er quietscht unter meiner Handbewegung, als ob er mir zurufen will, dass ich mir meine Entscheidung doch nochmals durch den Kopf gehen lassen sollte. Noch könnte ich zurück – den größten Schaden vielleicht beseitigen, sogar noch Hilfe leisten oder sogar Rettung… Aber meine Hand arbeitet losgelöst von meinem Denken, meine Füße scheinen ihren eigenen Willen zu entwickeln.
Und plötzlich bin mir ganz sicher: Ich will weg, will gehen – egal wohin. Das Schlachtfeld hinter mir lassen. Ich muss weg, denn sie werden mich bald suchen und zur Rede stellen.
Die Wiese vor dem Haus ist nass und kalt – jetzt erst bemerke ich, dass ich keine Schuhe trage. Langsam, fast schlafwandlerisch setze ich einen Fuß vor den Anderen. Aber mutig und ohne Zweifel sind meine Bewegungen. Kein Zögern mehr – ich habe das erste Mal seit langem das Gefühl, das Richtige getan zu haben.
Ich wandere weiter durch die dunklen, einsamen Straßen. Zwei Laternen sind defekt.
Vorbei an den Vorgärten mit ihren Rosenhecken – alles adrett und liebevoll gepflegt. Ich muss lächeln, als ich an unseren Nachbarn denke. Tag ein, Tag aus pflegt er auf den Knien robbend seinen englischen Rasen mit einer Nagelschere. Lockt unseren Hund in seinen Garten um sich später darüber zu beschweren, dass dieser dort nach Mäusen sucht. Immer dieselbe Diskussion, die gleichen Worte. Fast ist es ja schön, wenn sich Gegebenheiten in einem verlässlichen Zeitabstand wiederholen. So etwas gibt Sicherheit.
Nun aber ist dies unwichtig – nichtig, nicht mehr wichtig.
Alles um mich herum verliert gerade seine Wichtigkeit. Ich habe das Gefühl, mein Leben beginnt zu fließen. Erlebte Situationen rauschen an mir vorbei, einzelne Bilder, Fragmente meines bisherigen Lebens. Unsortiert, chronologisch nicht geordnet.
Ich beschleunige meinen Schritt, denn ich kann hier nicht mehr atmen. Meine Brust fühlt sich eng an. Je tiefer ich Luft hole, desto weniger Sauerstoff scheint meine Lungen zu erreichen.
In der Dunkelheit kann ich die Umrisse eines Gartenzwerges erkennen. Er winkt mir mit seiner Zipfelmütze freudig zu. War das etwa ein Lächeln auf seinen Lippen? Für einen kurzen Moment sehe ich ihn grotesk grinsen, ein süffisantes Grinsen – fast fratzenhaft. Mein Herz beginnt zu galoppieren, ich versuche mich zu beruhigen. Ich bilde mir Unsinniges ein, meine Augen spielen mir einen Streich… – nein, wahrhaftig: Jetzt nickt er mir auch noch aufmunternd zu! Eine Katze streicht meine nackten Waden – ich schrecke zusammen. Spüre, wie mir die Schweißtropfen auf die Stirn treten. Mir ist nicht heiß, nein – es sind diese angsterfüllten, kalten Tropfen auf eiskalter Haut. Irgendwo in der Ferne höre ich das Brüllen einer Kuh. Es klingt so unheimlich und klagevoll, als ob ihr jemand die Gedärme bei lebendigem Leibe ausreißen würde.
Alles wirkt so unwirklich, so gespenstisch. Keinen Menschen treffe ich. Keine Lichter in den Häusern, die die bekannte wohlige Wärme in den Zimmern hinter den Fenstern vermuten lassen. Nichts so wie es war.
Wenn nichts mehr so ist, wie es immer ist, dann bin auch ich nicht mehr die, die ich eigentlich bin.
Ich reiße mich aus meinen Gedanken und kämpfe mich weiter mit zügigem Schritt an den Gartentürchen vorbei - umsäumt von Briefkästen und Klingelschildern mit mir nichtssagenden Namen darauf.
Niemand nimmt Notiz von mir wie ich maschinengleich durch die Dunkelheit marschiere.
Die Häuser werden weniger und damit die Gefahr geringer, entdeckt zu werden. Ich kann fühlen, dass mein Atem bedeutend ruhiger ist, kann den dunklen Wald schon vor mir sehen. Der Wald: Meine Rettung, meine Sicherheit, meine Mutter Erde.
Der gepflasterte Bürgersteig geht über in einen schmalen, erdigen Pfad. Ich bin am Rande unserer Ortschaft angekommen, kann nun in der Dunkelheit des Waldes Schutz suchen. Nur noch über die kleine Brücke am Bach und ich bin da! Ich spüre die kleinen Kiesel an meinen Fußsohlen – aber sie stören mich nicht, kitzeln lediglich ein wenig meine nackten Zehen. Die Beerensträucher am Wegesrand zerkratzen mir meine Arme und Beine. Wie oft bin ich hier schon gewesen und habe die süßen Früchte in meinem Körbchen gesammelt, um diese dann voller Stolz nach Hause zu bringen? Genau dieses „zu Hause“, das von nun an nicht mehr so sein wird, wie es einmal war.
Endlich! Die Brücke!
Ich setze den ersten Schritt auf das nasse Holz….es fühlt sich glatt an, der Boden ist mit Moos bewachsen. Ich stolpere und kann mich im letzten Moment am Geländer festhalten.
Unter mir höre ich das befremdliche Gurgeln des Baches. Ich kann trotz Dunkelheit sein Glitzern sehen, mir genau vorstellen, wie das Wasser voller Leben über die Steine gleitet.
Wie lange tut es das schon? Wie viele Jahre, Jahrhunderte, Jahrtausende…wir sind nichts…betrachten wir die Zeit, dann sind wir nur ein kleiner und erbärmlicher Funke, der kurz aufflammt, bevor er sofort wieder erlischt.
Bei dieser Vorstellung frage ich mich, ob meine Tat so schlimm gewesen ist? Oder
sogar gerechtfertigt?
Ein paar Jahrzehnte und mein Handeln wird unausweichlich in Vergessenheit geraten sein. Vergänglich ist unser Tun.
Die Bilder erscheinen wieder vor meinem inneren Auge. Es ist grausam was ich tat. Der Moment meiner Entscheidung: Nur kurz, aber kristallklar. Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten. Diese furchtbare Lüge meines Lebens, dieser Schein, den ich verzweifelt zu waren versuchte. Du und ich – wir beide. Schon seit Jahren ging es nicht mehr gut. Ein Traumpaar in den Augen unserer Freunde, gern gesehen bei allen Nachbarschaftsfesten… Harmonie nach außen – Kälte nach innen.
Auch unser Vorgarten ist gepflegt. Wir haben drei wundervolle Kinder in die Welt gesetzt.
Wenn diese in der Schule sind und Du in Deinem Büro arbeitest, dann leistet mir der Hund Gesellschaft. Dein Job ist gut bezahlt – wir können uns den Luxus leisten mehrmals im Jahr in den Urlaub zu fahren.
• Wie im Bilderbuch eben. Oder eben nicht. Denn hinter der Fassade unseres prächtigen Einfamilienhauses herrscht die Macht des Streites und des Kummers. Ich konnte dies alles einfach nicht mehr ertragen – verzeiht mir meine Tat.
Ich komme an „meiner“ Lichtung an und lege mich ins Gras. Starre in den dunklen, sternenfreien Himmel. Die Bäume sehen gespenstisch aus im kraftlosen Mondenschein. Wind streicht durch ihre Wipfel, es wirkt, als würden sie näher kommen, näher um mich zu holen. Ich wünsche mir fast, dass sie mich einhüllen in ihr Geäst, in ihre knorrigen Wurzeln. Ach würden sie das nur tun! Und mich in das dunkle Erdreich ziehen, mich verbannen von dieser Welt, mich von meiner Sünde befreien.
Ameisen wandern über meinen Körper. Ich bewege mich nicht, wehre mich nicht gegen sie. Für diese fleißigen Insekten stelle ich ein Hindernis dar. Ich besetzte Ihren Weg. Voll bepackt mit Nahrungsmitteln krabbeln sie in Richtung Heimat, jede ihre verantwortungsvolle Aufgabe ausführend.
Ich habe heute meine Verantwortung abgegeben – einfach so. Meine Schultern sind nun frei von der Belastung, der Schmerz verschwindet nach und nach. Dennoch – jetzt kriechen Schuldgefühle in mir hoch. Oder ist es nur die Kühle des Windes? Klamm fühlt sich nun mein Körper an – Bilder kehren zurück. Innere Panik ergreift mich. Ich habe alles zerstört: Die Idylle einer wunderbaren Vorstadtfamilie, hatte nicht die Kraft den Schein zu wahren, die Fassade nicht aufrecht erhalten.
Aber ich musste es doch tun! Raus aus der Routine! Raus aus meinem Gefängnis! Niemals wieder Stagnation!
Der Zeitpunkt war goldrichtig. So konnte es nicht mehr weiter gehen, ich hatte in dieser Art meinem Leben keinen Sinn mehr geben können, wäre hinter meiner mit Zwang aufgesetzten Maske elendig zu Grunde gegangen.
Aufräumen, Müll entsorgen, Blumen pflanzen, langweilige Gartenpartys besuchen, in den Supermarkt fahren, Kuchen backen, Wäsche waschen, Betten beziehen, Socken stopfen, Pausenbrote schmieren, unerträgliche Besuche bei den Schwiegereltern, die wöchentliche Sitzung des Elternbeirates, Englisch lernen in der Volkshochschule…und all dies mit einem strahlenden Lächeln auf dem Gesicht...!
Ich bin für mehr geschaffen – deshalb habe ich mich heute gewehrt, bin ausgebrochen aus meinem Gefängnis und habe etwas getan, was ich mir niemals vorher vorstellen konnte.
Grausam, kaltblütig und ohne Mitgefühl:
Ich habe gerade absichtlich den Sonntagsbraten verbrennen lassen. Er schmort noch fröhlich im Rohr und der Gedanke an das verkohlte Stück Fleisch zaubert mir ein Lächeln in mein Herz!
Langsam stehe ich auf. Ich fühle mich frei und beschwingt. Auf meinem Weg nach Hause zwinkert mir der Gartenzwerg verschwörerisch zu…