Sind sie noch da?
In letzter Zeit frage ich mich sehr oft, ob sie wohl noch da sind. Sie, die lieben Menschen, welche ich in meinem Leben schon verloren habe!Oft habe ich das Gefühl aus dem Augenwinkel Bewegungen wahr zu nehmen, eine Art streicheln auf meiner Haut zu spüren, eine kurze Berührung, obwohl niemand da ist. Das sind die Momente in denen die Toten wieder ganz nah bei mir sind.
Es sind Viele, die ich in meinem Leben schon betrauern musste. Einige sind nicht mehr bei mir, weil die Bindung vielleicht nicht so stark war. Aber andere, die mir wirklich nahe standen, kommen mich oft besuchen. Sei es in meinen Träumen oder eben in den vermeintlichen Bewegungen oder Berührungen, die ich so oft verspüre.
Das erste Mal bin ich mit 10 Jahren mit dem Tod konfrontiert worden. Ein Klassenkamerad hat sich mit dem Gewehr seines Vaters erschossen. Mit 10 Jahren! Was muss dieser Junge für seelische Qualen in seinem jungen Leben erlebt habe, um einen solchen Schritt zu gehen? Ich kenne noch seinen Namen und sehe sein Gesicht vor mir, aber er ist nicht mehr in meiner Nähe.
Fünf Jahre später wurde eine liebe Freundin von mir in einem nahe gelegenen Waldstück tot aufgefunden. Sie wurde umgebracht, der Täter nie gefasst. Auch sie ist nicht mehr bei mir. Ich sehe nur manchmal ihr Gesicht vor mir, wenn ich an sie denke.
Kurze Zeit später ist meine Uroma gestorben. Eine liebenswerte Frau, die in ihrem langen Leben nur die Arbeit kannte. Sie ist noch in meinem Elternhaus zugegen. Ich sehe sie sehr oft und fühle ihre Nähe. Sie ist die erste in der Geisterreihe, mit der ich noch heute mein Leben teile!
Drei Jahre später hatte meine beste Freundin einen tödlichen Motorradunfall. Es war für mich unfassbar, dass sie nicht mehr da war und ich habe sehr lange gebraucht diesen Verlust zu verkraften.
Als ich 22 war, hat sich ein guter Freund in der Scheune seiner Eltern erhängt. Mit seinem Tod habe ich mich sehr lange beschäftigt und ich denke auch heute noch an ihn, wenn ich an der besagten Scheune vorbei fahre. Er ist jedoch nicht mehr da, nur noch in meinen Gedanken.
Die nächsten Sterbefälle waren mein Opa und meine Oma väterlicherseits und mein Onkel. Sie waren einfach nur weg, wurden von mir nicht groß vermisst, da wir wenig Kontakt hatten.
Vor fünf Jahren waren meine beiden Großtanten an der Reihe. Sie lebten wie ein Ehepaar zusammen, hatten nie geheiratet und keine Kinder. Wir waren oft bei ihnen und sie haben in uns, meiner Schwester und mir, wohl den Kindersatz gesehen. Es waren zwei liebenswerte alte Damen, die immer für mich und meine Probleme da waren. Ein halbes Jahr nachdem die erste Tante gestorben ist ging auch die Zweite, weil sie mit dem Alleinsein nicht klar kam. Wir fanden sie eines Morgens auf einem Stuhl sitzend. Sie hatte am Vorabend noch einen Einkaufszettel geschrieben und ist dabei friedlich eingeschlafen. Diese beiden sind noch bei mir. Sie haben mir in den letzten Jahren im Traum bei meinen Entscheidungen geholfen. Sie sind zwar nicht in meinem Haus zugegen, aber ich kann mich auf ihr Urteil, in meinen Träumen, auch heute noch verlassen.
Die letzte mir nahe stehende Person, die von mir ging, war vor vier Jahren meine herzallerliebste Oma. Ihren Tod zu verwinden hat mich viel Zeit gekostet. Sie ist heute noch bei mir, lebt mit mir, meiner Familie und meiner herumgeisternden Uroma zusammen im Haus.
Ich sehe sie sehr oft, spüre ihre Berührungen und rede sehr viel mit ihr. Auf den Friedhof gehe ich nie. Zu schmerzlich ist es mir vorzustellen, dass sie dort in der kalten Erde liegt. Ich halte mich lieber daran, dass sie zusammen mit ihrer Mutter, meiner Uroma, noch bei mir ist.
Mein Mann hält mich für nicht ganz zurechnungsfähig, wenn ich darüber rede. Tot ist tot sagt er. Hier gibt es keine Geister! Doch ich weiß es besser! Ich teile mir mein Leben mit vier Geistern. Zwei leben in meinen Träumen und zwei leben in meinem Haus!
Luna