Frau B. und der ICE (Endgültige Lösungen - 4)
© Nisham 2010Die beiden kennen sich nicht – zumindest nicht persönlich. Doch dieser Job verlangt nach Teamwork. Vor wenigen Tagen haben sie sich an einem Autobahnrastplatz getroffen, sich zum ersten Mal gesehen und gleich eine Strategie entwickelt um den ihnen gestellten Auftrag zu erfüllen. Eine heikle Aufgabe, weil mit politischen Implikationen verbunden. Wenige Möglichkeiten standen offen, und sie sind beide schnell übereingekommen, dass es in Wirklichkeit nur eine praktische Möglichkeit gibt, den Auftrag zu erfüllen, mit so wenig Risiko wie nur möglich.
Schnell sind sie sich einig; der Termin ist vorgegeben. Wenn etwas dazwischen kommen sollte, dann werden sie nach einer anderen Möglichkeit oder besser, einem anderen Zeitpunkt ausschaue halten. Beide haben sie unabhängig voneinander die Örtlichkeiten inspiziert. Das war einfach, denn auf einem Bahnsteig eines großen Bahnhofes fallen Menschen nicht auf.
Heute ist der Tag. Ein später Freitagnachmittag, in der vorweihnachtlichen Zeit. Hanna-Sieglinde und Horst-Detlev haben per Handy die Information erhalten, dass der Zeitplan eingehalten werden kann. Um nicht aufzufallen begeben sie sich erst kurz vor der Zeit auf den Bahnsteig. Ganz hinten, im Abschnitt „A“ wo der Zug einfährt, noch schnell genug ist, und vor allem, wo die Wagen der ersten Klasse halten. Zum Glück sind Menschen Gewohnheitstiere, die nur selten davon abweichen. Es ist kalt auf dem Bahnsteig, der Wind weht Regenfetzen heran.
Horst-Detlev erkennt Hanna-sieglinde schon von weitem: sie steht, in einem auffälligen roten Mantel da, eine Handtasche umgehängt und eine Laptoptasche in der Hand; ihr Gesicht unter der breiten Krempe eines ebenfalls roten Hutes versteckt. Horst-Detlev trägt einen dunkeln Regenmantel, eine Wollmütze auf dem Kopf – die muss wohl von Kindern gestrickt worden sein, denn sie sieht für diesen Mann doch ein wenig kindisch aus, mit all diesen bunten Farben. Handschuhe schützen seine Hände vor der Kälte.
Hier, im Abschnitt „A“ stehen nicht allzu viele Menschen, die auf den angekündigten ICE warten. Geschäftsleute vor allem. Ja, die Reisenden, die sich die erste Klasse leisten können. Die Meisten mit einem Handy am Ohr. Hanna-Sieglinde steht nur einige Schritte von Frau B., die sie sofort erkannt hat. Eine Frau, dessen Bild so oft in den Medien erscheint, ist nicht zu übersehen, der Designermantel eines französischen Couturiers ist ja auffällig genug. Frau B. schaut leicht genervt immer wieder auf ihre Armbanduhr und in die Richtung aus der ihr Zug kommen soll. Horst-Detlev steht etwas weiter weg, in der Mitte des Bahnsteiges und schaut in die Entgegengesetzte Richtung. Eine Lautsprecherdurchsage kündigt die Einfahrt des ICEs an. Und schon leuchten dessen Scheinwerfer über die nassen Geleise. Sein Tempo scheint schon recht gemäßigt, doch der Koloss von Siemens ist immer noch beeindruckend schnell,
Jetzt geht alles rasend schnell. Mit raschen Schritten kommt Horst-Detlev daher. Im selben Augenblick setzt sich Hanna-Sieglinde in Bewegung. Frau b. steht keine 2 Meter von der Bahnsteigkante. Gleichzeitig prallen die Frau und der Mann seitlich leicht von hinten auf Frau B. Das Timing ist perfekt, denn bevor Frau B. reagieren kann, schieben die Beiden die Frau zwei Meter nach vorne, an den Rand des Bahnsteigs. Ein leichter Ruck und Frau B. taumelt direkt vor den heranrasenden ICE. Niemand sieht Frau B’s erschrockenes Gesicht; sie ist so überrascht, dass sie keine Bewegung macht, nicht einmal versucht sich festzuklammern. Ein Schrei! Ein kreischen von Notbremsen. Alles geht blitzschnell.
Horst-Detlev und Hanna-Sieglinde sind schon wieder weg, auf der anderen Seite des Bahnsteiges Er geht etwas gemächlich voran, seine Tasche nun an der Schulter tragend, während Hanna-Sieglinde laut in ihr Handy am Ohr spricht. Der Zug kommt endlich zum stehen, nur halb in den Bahnhof eingefahren. Eine Alarmglocke ertönt. Menschen schauen auf, Verwundert. Fragend. Niemand hat wirklich mitgekriegt, was da passiert ist. Und schon sind die beiden Täter auf dem Weg zur Treppe zur Unterführung.
Hanna-Sieglinde benutzt die leere Rolltreppe und geht beschwingt herunter, während Horst-Detlev mit federndem Schritt die Stufen der Treppe unter die Füße nimmt. Sie hat ihre Kopfbedeckung abgenommen und schüttelt eine blonde Mähne hervor, während er seine gehäkelte Kappe schon längst in der Manteltasche hat verschwinden lassen.
Lautsprecherdurchsagen hallen durch den Bahnhof. Bahnangestellt und Polizisten eilen zum Bahnsteig, wo das Unglück geschehen ist. Doch die Menschenmaßen, die von anderen Geleisen kommen und zu Zügen hetzen, kümmern sich um nichts, schauen weder links noch rechts – nicht ahnend, was da grad geschehen ist.
Hanna-Sieglinde ist schon auf der Autobahn als im Radio eine erste Meldung über den Unfall kommt. Im Bahnhof hätte sich eine Frau vor einen einfahrenden ICE gestürzt. Auch Horst-Detlev hört diese Meldung, während er in seinem Auto in eine andere Richtung unterwegs ist.
Stunden später, in den Abendnachrichten, dann die Schlagzeile: Frau B. die junge, aufstrebende Politikerin mit Ambitionen, hat sich vor den ICE gestürzt. Selbstmord! In einem Nebensatz wird erwähnt, dass der Zugverkehr beeinträchtig wurde, „wegen eines Personenschadens“, wie die Deutsche Bahn zu formulieren pflegt.
Später werden zum Tod von Frau B. Parteimitglieder und andere Politiker befragt. Die Bestürzung ist groß. Es wird immer wieder von einem großen Verlust gesprochen, von einer Politikerin mit Format und Chancen. Und auch Ambitionen. Ihre Gegner meinen, sie sei überfordert gewesen. Kein Wort, dass es kein Selbstmord sein könnte.
Nur in den Spätnachrichten folgt ein trockener Satz: die Kriminalpolizei ermittelt.