Der letzte Gedanke
Mit schweren Schritten betritt sie das Wohnzimmer. Ihre Beine sind auch nicht mehr das, was sie vor zehn Jahren noch waren. Wie gerne hat sie getanzt, die Nächte durch gemacht. Immer ist Harald an ihrer Seite gewesen. Sie hatten alles zusammen gemacht, aber davon ist heute nichts mehr übrig.Sie schleppt sich bis zum Sofa, legt sich nieder und stößt einen kleinen Seufzer aus. Geschafft, sie liegt! Jetzt noch schnell in die weiche Decke gekuschelt und dann kann sie sich ihm hingeben, dem Schlaf, den sie schon so lange ersehnt hat.
Sie wusste, dass Harald seit gut drei Jahren eine andere liebte. Sie hat sich ihr Wissen darum aber nie anmerken lassen. Nach 23 Jahren Ehe betrog er sie, lebte nur noch neben ihr her, eine Zweckgemeinschaft. Alles nur noch Gewohnheit.
Heute Morgen dann die SMS von ihm. Er wollte die Scheidung. Sie konnte Wohnung und Kinder behalten. Harald brauchte keine Altlasten!
Er hatte noch nicht einmal die Eier in der Hose, es ihr persönlich zu sagen. Nein, es musste eine unpersönliche Nachricht sein, die ihre Welt zum Einsturz brachte.
Sie hatte sich daran gemacht ihre Wohnung zu putzen. Nichts sollte unerledigt bleiben. Küche und Bad putzen, die Wäsche bügeln und endlich die verwelkten Blumen entsorgen.
Ihr linkes Bein zuckte einmal ganz kurz. Es war dieses Zucken, kurz vor dem Eindösen, welches zeigte, bald in das Land der Träume zu treten. Heute wollte sie etwas Schönes träumen, aber gab es noch schöne Träume? Sie hat schon lange keine mehr geträumt.
Was würden die Kinder denken, wenn sie abends nach Hause kamen?
Ach, die Kinder! Hatten sie auch nur einmal gefragt, was die Mutter für Wünsche und Bedürfnisse hat. Nein, in den ganzen Jahren nicht! Beide waren inzwischen erwachsen und ließen sich immer noch im Hotel Mama bedienen.
Sie musste ständig funktionieren, war in der Familie der gute Geist, der versuchte es allen recht zu machen. Dachte mal einer an sie? Ja gut, zum Geburtstag gab es einen Blumenstrauß und zu Weihnachten eine Packung Schokolade. Aber sonst? Hat einer der Dreien mal auf sie Rücksicht genommen? Sie kann sich nicht erinnern!
Ihre Hand ist eingeschlafen. Sie will den Arm anders legen, ist aber zu schwach. Der Schlaf greift nach ihr und versucht sie zu sich zu ziehen. Noch sträubt sie sich etwas, öffnet die Lider und wirft einen kurzen Blick auf die Wanduhr. „Ich habe noch Zeit!“ denkt sie. „Es sind noch einige Stunden, bis Jemand Heim kommt. Bis dahin kann ich es schaffen!“
Ihre Augenlider zittern leicht. Das Dunkel dahinter wird noch eine Spur dunkler und sie denkt:
„Hätte die die Tabletten vielleicht doch nicht nehmen sollen?“
Luna