Verfall
VerfallIn der Gluthitze des Tages war das Wohnghetto in flirrender Stille gelegen. Abfalltonnen verrieten bereits von weitem ihren anrüchigen Charakter, umschlichen von einigen, von der Hitze trägen Ratten. Ein verwaister Sandkasten fand seine Bestimmung als Toilette für ebenso verwaiste Katzen, rissige Asphaltwege verbanden verlassene, leblose Türen und Plätze.
Nun floss das letzte Abendrot wie eine Blutspur über den grauen Beton der tristen Häuserzeile, zelebrierte dabei das allabendliche Spiel, mit seinen Farben das Bild des Verfalls zu entstellen und ihm einen markerschütternden Anschein von Leben zu geben. Ein letztes Aufatmen.
In der Dunkelheit würde wieder Licht aus einer defekten Neonröhre lecken, wie aus einer Talgkerze vor dem Erlöschen, würden Nachtschatten den Anblick auf uringetränkte Durchgänge und weggeworfene Spritzen gnädig verbergen.
Ich wende mich ab und weiß, wie ich es jeden Abend weiß, dass ich morgen von hier weggehen werde.
Im Treppenhaus herrscht dumpf drückende Lautlosigkeit, die in den Ohren wie eine Glocke tönt ‚geh leise!’, als ich nach unten ins Parterre gehe um zu kontrollieren, ob die Eingangstür verschlossen ist. Ich gehorche wie jeden Abend und verlangsame meine Schritte, die trotzdem die Stille wie mit einem Messer zerschneiden. Einen Hausmeister gibt es hier schon lange nicht mehr. Auch er ist weggegangen, wegrationalisiert von einer gleichgültigen Wohnungsbaugesellschaft, geflohen vor dem unabänderlichen Verfall.
An einer Wohnungstür hängt noch ein verblasster Blumenkranz. ‚Willkommen’ schreit das kleine bunte Schild darauf die Einsamkeit früherer Bewohner heraus, als sei hier irgendwann irgendjemand willkommen gewesen, eingeladen, sich Bilder von röhrenden Hirschen oder dem Mann mit dem Goldhelm über abgewetztem, speckigem Sofa anzusehen.
Die nächste Wohnungstür zieht wie jeden Abend meinen Blick mit ihren bunten, jetzt brüchigen Windowcolour-Bildern an. Hier halte ich ein wenig inne und vernehme mit Wohlwollen die Stille, die jetzt sanft ist, wie eine Decke und nicht verrät, dass diese Wohnung immer mit lautem Fernsehgedudel angefüllt war, das die schrillen Schreie und das Gekeife, das auch bis in die Nacht anhielt, nie überdecken konnte.
Akribisch drehe ich den Schlüssel der Glasgittertür am Hauseingang zwei mal im Schloss und drücke die Klinke, um sicher zu sein, dass sie auch wirklich verriegelt ist. Jetzt bin ich hier die Hüterin des Hauses und ich darf nicht zulassen, dass Penner und Fixer hier eindringen und sich der Wohnungen bemächtigen, mit ihrem Unrat und ihrem Gestank, so wie sie sich schon über die Außenanlagen hergemacht haben.
Heute Abend verschließe ich noch die Tür. Aber ich weiß, dass ich morgen von hier weggehen werde.
Mein Weg führt mich die Stufen wieder hinauf, bis zum Dachboden, der über dem Haus thront, als dürfe es ihn hier eigentlich gar nicht geben. Die Decke ist erdrückend niedrig und die Hitze staut sich im schummerigen Licht einer nackten Glühbirne, das die Holzverschläge nur kläglich beleuchtet, als wolle es Gnade walten lassen vor dem Anblick der von den ehemaligen Hausbewohnern schmählich zurückgelassenen Gegenstände. Ich öffne mein Abteil. Den Gestank von Erbrochenem, Kot und Urin nehme ich nur entfernt wahr, ebenso die Fliegen, die sich auf dem toten Kind versammelt haben. Endlich ist hier Ruhe. Endlich kein Klagen, Stöhnen und Wimmern mehr. Ich nehme das Bündel totes Fleisch auf und stecke es in einen Müllsack, entsorge es in einem der Nachbarverschläge.
Morgen werde ich von hier weggehen.
© Rhabia 08-2010
Eigentlich begann ich diese Geschichte als 8-Worte-Story. Aber sie hielt mich dann so gefangen, dass ich sie weiterspinnen musste.