Der Rächer
„Herr, gib ihm die Ewige Ruhe“, intonierte der Pfarrer feierlich. „Und das Ewige Licht leuchte ihm“, antwortete brav die Trauergemeinde, aber nicht, weil sie daran glaubten, sondern weil es sich so gehörte. Schon immer wurde das so gesagt.Der Sarg ruhte noch auf den Holzbohlen über der Grube, sanft wogte Nebel um die Beine der Trauernden, sammelte sich an den Schuhen des Pfarrers und wand sich um dessen Fußknöchel. Niemand bemerkte es.
Endlich wurden die Bohlen entfernt und der Sarg in das vorbereitete Loch gesenkt. Viele der umstehenden Menschen dachten, dass es für den Verstorbenen kaum zu früh sei, verscharrt zu werden. Er war eine Bestie gewesen, ein Unmensch, zumindest berichtete man sich das hinter vorgehaltener Hand in der Bäckerei zum Mehltau oder auch in der Metzgerei Liebig in der Mühlengasse. Auch der Schmied hatte so etwas erwähnt und auch der Lehrer hatte vor dem Alten gewarnt.
Doch niemand hatte sich die Mühe gemacht und die Gerüchte hinterfragt. Nun war er tot und eben traf die erste Schaufel voll nasser Erde mit einem endgültigen Klatschen den einfachen Sargdeckel. Ja, einfach war er, der Sarg, nichts zierte ihn, kein religiöses Zeichen, nichts. Hier würde er verrotten und von den Würmern gefressen werden, wiederverwertet und zu Erde gemacht, in die in etlichen Jahren jemand anderes Sarg gesenkt würde.
Ewald Steinfeder, hatte er geheißen und es war ein Wunder, dass so viele Leute zu seinem Begräbnis gekommen waren. Oder … eigentlich war es das nicht, jeder wollte sich davon überzeugen, dass der alte Sonderling wirklich tot war.
Noch während der Totengräber Schaufel um Schaufel nasse Erde in die Grube warf, löste sich die Gemeinschaft auf. Es war zu kalt, um hier herumzustehen. Der Pfarrer und die beiden Ministranten eilten in die Sakristei zurück, wo bereits die Köchin mit warmen Tee auf sie wartete.
Niemand bemerkte den Nebel, der dem Gottesmann an den Fersen haftete.
Die Zeit verstrich – war es Zeit, die verstrich?
Der Nebel um das kleine Städtchen Wiesenwalde hatte sich noch immer nicht gehoben. Er war sogar dichter geworden und berührte mittlerweile auch das Gemüt der Einwohner. Nicht mehr viele Leute gingen auf die Straße, die meisten verbarrikadierten sich in ihren Häusern und schlossen sogar ab.
Wigald Theodorus, der Geistliche des Städtchens, war das Zentrum des Nebels. Er fühlte sich seltsam. „Ich hätte Ewald nicht in geweihte Erde legen sollen“, murmelte er besorgt. Der Nebel kroch seinen Rücken hoch und bohrte sich in die Ohren, überschwemmte seine Hörnerven und nichts als fernes Meeresrausches. Dann griff der Nebel in sein zentrales Nervensystem und begann damit, die Neuronen umzupolen. Wigald merkte davon nichts, zumindest nicht viel. Einzig das Rauschen in den Ohren empfand er als Hindernis. Noch schaffte er die Morgenandacht und mit etwas Mühe auch den abendlichen Rosenkranz.
Die Wochen verstrichen und der Nebel wogte immer tiefer über Wiesenwald, begann damit ganze Häuser zu verschlingen, ohne dass es jemand bemerkte. Die Leute verschwanden einfach und das Zentrum des Nebels war die Kirche. Noch ragte der Kirchturm aus dem Nebelmeer heraus und zeigte wie ein Warnpfeiler in den Himmel. Von hier aus wand sich das Band um das Dorf herum, zog die Menschen in seinen Bann, saugte ihren Willen aus, beleckte ihre Seelen und ihre Gedanken, trank ihr Blut.
Grau waren die Menschen, abgeschnitten von der Welt vegetierten sie und wussten nichts mehr.
Wigald Theodorus stand auf der Kanzel, Nebel umkränzte ihn als wäre es ein Heiligenschein. Die Kirche war bis auf eine alte Frau und ihn leer. Die Ministranten waren nicht erschienen, schon einige Tage lang nicht, aber Wigald wusste nicht einmal mehr, dass es sie gegeben hatte. Der Nebel hatte alle Erinnerungen genommen.
Einzig ein Bild war in seinen Gedanken lebendig, das lächelnde Gesicht des Ewald Steinfeder, der bockig vor dem Gotteshaus stand und gegen die heilige Mutter Kirche wetterte. Ewald, dieser Ketzer! Ewald, dieser Teufelsanbeter! Ewald, der Hexer! Doch nun war er tot. Er war tot. Wigald brach der kalte Schweiß aus. So rasch ihn seine alten Knochen trugen rannte er zum Friedensacker und suchte das Grab des alten Mannes.
Es war offen! Eine tiefe Grube zeigte an, wo der Sarg vor vielen Wochen hinabgelassen und dann mit Erde bedeckt worden war.
„Ewald!“, rief der Geistliche und bekreuzigte sich, fest nahm er den Rosenkranz in die Hand und begann zu beten.
Nichts tat sich. Der Nebel blieb wo er war, wogte sogar noch ein wenig dicker um den Pfarrer herum. Kälte kroch unter den Talar und fasste nach seinem Hintern, drückte ihn in die Knie und auf alle Viere. „Nein“, keuchte der Mann.
Jemand lachte.
Eiskalt.
Eiskalt wogte der Nebel unter den Talar des Gottesmannes.
Dann stand er da, im hellen Sonnenlicht und hielt ein Langschwert in den Händen. Doch er stieß nicht zu. „Du wirst jetzt Buße tun und dann deinem Schöpfer gegenübertreten, du Elender!“, rief der Verstorbene. „Ich werde deine elende Seele mit Kälte stopfen, deinen Hintern mit Maden füllen und dich keine Sekunde mehr in Ruhe lassen. Denn ich weiß, was du getan hast …“
„Nein!“, rief der Geistliche abermals. Er wollte sich erheben, aber eine fremde Macht drückte ihn immer weiter in den Schmutz. Sein Gesicht berührte bereits die Erde, nur noch der Hintern ragte hoch und der Talar war ihm über den Rücken gerutscht. „Nein“, flehte er weiter. „Ich bereue“, flüsterte er.
Ewald lachte laut und schaurig, dann sauste das Schwert auf ihn nieder und hielt kurz vor seinem Hals. Wigald machte sich vor lauter Angst nass und er heulte sich die Augen aus. „Jetzt lernst du die Angst kennen, die du verbreitet hast“, zischte Ewald. Abermals schwang er das Schwert und durchschnitt pfeifend die Luft.
Plötzlich herrschte absolute Stille.
Die Trauergemeinde starrte auf den Geistlichen der vor dem Grab lag, die Hände ins Erdreich vergraben und um Vergebung seiner Sünden bat. Dann ging alles schnell. Die Ministranten erkannten ihre Chance und stießen den Mann ins offene Grab. Polternd fiel er auf den Sarg, das Holz gab krachend nach. Wigald brüllte wie am Spieß, weil er dachte, auf einer Leiche zu liegen.
„Holt ihn rauf!“, schrie der Erste der Totengräber und die Männer zogen wieder an den Seilen. Ächzend kam der Geistliche mitsamt dem Sarg nach oben. Angewidert sprang er davon, rieb sich das Hinterteil und schaute sich immer wieder ängstlich um. Der Totengräber warf einen Blick in den Sarg. Er war …
leer.
Ein Blatt Papier flatterte im einsetzenden Wind und landete vor den Füßen des Metzgers. Der nahm es hoch und las laut: „Keiner soll sich mehr an einem anderen Menschen vergreifen. Vergesst nicht, ihr Erwachsenen, ihr alle seid einmal Kinder gewesen! Ach ja, verlasst euch nicht unbedingt auf das Fleisch des Metzgers, es könnte euer Nachbar in der Wurst stecken. Vergesst den Pfaffen, der ist der größte Verbrecher von euch allen.“ Mehrmals versuchte der Metzger sich selbst am Sprechen zu hindern, aber es gelang ihm nicht. Er fühlte sich von einem Zwang getrieben und wiederholte den Inhalt des Briefes bis ihn jemand niederschlug und er sich in seiner eigenen Wurstfabrik wiederfand.
Am Abend des Begräbnistages war es sehr ruhig in dem Städtchen.
Der Pfarrer baumelte vom Kreuz des Kirchturms.
Der Bäcker war in seinem Ofen verbrannt.
Der Schmied erschlagen von seinem Amboss.
Der Metzger steckte zur Hälfte im Fleischwolf.
Der Lehrer war an die Tafel genagelt.
Und über allen schwebte ein feiner Nebel, so als wäre es nicht wirklich.
Plötzlich schlug die Turmuhr. Bing, Bing, Bing, Bing …
dann lachte jemand.
Ewald Steinfeder schritt lustig pfeifend, die Hände tief in die Hosentaschen vergraben durch Wiesenwald. Am Stadtrand drehte er sich um, winkte einmal und verschwand.
(c) Herta 9/2010