Sicherlich ein Traum
Etwas wird aufgeschlagen. Noch während ich überlege, ob ich es bin, überlege ich was es ist. Ein Buch? Das spräche für Bildung. Die Augenlider? Das spräche für Reflexe. Ich werde es nicht erfahren, aber als ich ins Bad komme sitzt schon der Morgen auf der Kloschüssel und raunzt mich an, ich solle gefälligst warten bis ich dran wäre. Wann wenn nicht jetzt bin ich denn dran? Nie war ich dranner, das kann ich spüren.Ich schaue aus dem Fenster, wo die Leute auf Fließbändern vorbei fahren. Manche schlafen noch, manche krümmen sich noch nach der Liebsten, einer ist genau an jener Stelle, an der drei Stockwerke weiter oben Jack das Fenster öffnet und seinen Pott auskippt. Das nenne ich gutes Timing.
Der Morgen ist fertig mit pissen und rasiert sich mittlerweile.
Ich hauche immer noch die Scheibe an und überlege ob der Tag mein Freund wird. Der Gedanke ist kitschig. Es ist viel zu früh für Kitsch. Das findet die Kaffeemaschine mit ihrem werbewirksamen Jacobsröcheln, dass meist von dünn beslipten und superschlanken Werbetussis sehnsuchtsvoll und mit der Hingabe einer deutschen Mutter während eines Leni- Riefenstahl- Ähnlichkeitswettbewerbes belauscht wird auch, und entmaterialisiert sich.
Ein mir weitgehend unbekannter Philosoph rollt ein blütenweißes Band feinsten japanischen Papiers in Richtung Bahnhof aus.
Er hat tausende von dressierten Krähen bei sich, die mit Tintenkrallen den neuesten seiner Auswürfe der vergangenen Nacht auf das Papier hüpfen. Ich muss den Kopf schief halten, um lesen zu können. Es ist „Die Lehre von der Erhaltung der Angst“.
„Die Energie, eine Illusion aufrecht zu erhalten, ist stets so groß, wie Energie nötig wäre, genau jenen Zustand zu ändern, der zur Entstehung der Illusion geführt hat.“
Ich verstehe den Satz nicht und habe Mitleid mit den Krähen. Das kann ich gut, seit ich mir das Selbstmitleid in einer gewagten Operation entfernen ließ. Das ist übrigens die einzige OP, die die Kassen noch bezahlen. Kann ich das mit der Illusion noch mal sehen?
Der Morgen ist endlich fertig und widerwillig klinke ich mich ins Förderband ein. Aber hier will ich nicht sein.
Ich erträume mich auf Lesereisen, bei denen ich aus noch zu schreibenden Büchern rezitiere und sehne mich in einen mannshohen Haufen frischer Rosen, auf die Bühne geworfen von gerade volljährig gewordenen Groupies und paarungsbereiten Gymnasiallehrerinnen in der Mitte ihrer Zeit. Ich möchte überhaupt nur noch durch Rosen atmen.
Auf dem Bahnsteig stehen Leute mit verbundenen Gesichtern. Wie ich hörte, haben sie Reisen gebucht in die Bildungsferne. Man munkelt, der Schaffner werde die Tickets mit einem Sarazzinerdolch kontrollieren und ein Kleid tragen dass ganz aus den Speichelfäden gewoben ist, gewonnen aus herunterhängenden Mundwinkeln.
Aber kaum im Zug, entwickeln sich die Gesichtsmumien regelrecht selbst und feiern die Kraft der Illusion. Mir fällt der Philosoph wieder ein, der übrigens von einer aufgebrachten Meute Gaukler gesteinigt wurde, die gerade im Potter’s eincheckten, um ihre Jahrestagung abzuhalten. Das war einfach schlechtes Timing, Herr Philosoph.
Ich schäme mich und rotze auf ein Stück des japanischen Papiers, dass ich mir abgerissen hatte, eine Petition. Darin fordere ich die Todesstrafe für Leute, die Sätze mit „das ist nun mal so“ enden lassen. Und weil es so schön ist, gleich noch für Leute, die nie zurückrufen dazu. Der Reichspetitor antwortet mir, dass es das schon längst gäbe. Nur würden Leute, die solche Sätze benutzen und nie zurückrufen, nachwachsen wie Bambus in China. Da könne man nichts machen, dass sei nun mal so. Ich höre noch den Schuss am anderen Ende der Leitung und habe nun Schuldgefühle. Armer Mann.
Dagegen gibt es Leute, denen gönne ich ein Leben auf der Überholspur. Warum auch nicht. A5 zwischen Frankfurt und Darmstadt, morgens um halb acht. Aber nicht im Wagen, sondern auf dem kalten Beton mitten im beginnenden Winter.
Seit Jahren schon hat sich ein Zittern meines Körpers bemächtigt. Aber weshalb? Es muss Angst sein, denn frieren tu’ ich nie. Aber wenn Optimismus nur ein Mangel an Informationen ist, dann muss Angst doch der Ausdruck von Weißheit sein. Ich sollte mich freuen. Oder vor Freude zittern.
Die Hochhäuser der Stadt wackeln bedenklich mit ihren obersten Etagen. Früher fielen sie danach zusammen, heute muss man ihnen auch noch zuhören, wenn sie singen. Flugzeuge im Bauch. Das ist nicht lache. Ich lasse mir Echsenhände wachsen, übrigens ein weit verbreiteter Nebeneffekt von Selbstmitleidsentfernungsoperationen, und erklimme einen der Banktürme von außen, damit ich niemandem im Fahrstuhl begegnen muss. Ich finde, jetzt ist es Zeit für Kitsch, denn ich will den Wolken näher sein.
Ich mag Wolken, deren Anfang und Ende ich sehen kann. Der Inbegriff von Hoffnung und Sehnsucht. Mitten in den Kitsch hinein, gerate ich in eine Filmszene aus den dreißiger Jahren. King- Kong sitzt auf der Rückseite des Daches und ist in höchster Bedrängnis. Er wird mir nichts tun, denn ich habe Aufkleber auf der Heckscheibe meines Autos. „Primaten aller Länder, vereinigt euch!“ Davon weiß er. Zum Dank will er mir die weiße Frau schenken. Aber ich lehne dankend ab. Erstens wird die Szene gleich vorüber sein und zweitens sieht diese Ann meiner Schwester ähnlich.
Der fluchtvolle Gedanke, dass man nie länger an einem Ort sein sollte, als es einem selbst beliebt, kommt in Form des Filmdoppeldeckers vorbei und ich springe im Fluge zu ihm auf.
Der Kitsch nimmt kein Ende denn der Pilot ist kein Geringerer als Antoine de Saint-Exupéry. Er lächelt mir freundlich zu und sagt etwas. Der Fahrtwind dröhnt und ich muss von den Lippen ablesen. „Es ist egal, ob die Sonne dreiundvierzig oder vierundvierzig Mal am Tag aufgeht“, sagt er, worauf ich applaudiere. Der erste vernünftige Satz des Tages.
Aber ich muss weg, weil ich weiß, dass er den Flug nicht überleben wird. Er weiß das auch und schüttelt mich zärtlich mit seiner Tragfläche ab. Sanft wie eine Feder schwebe ich herab und bete, dass ich nicht als kleiner Prinz lande. Der Kitsch hatte seine Zeit.
Einige Passanten werfen mir freundlich und kopfnickend Münzen hin. Ihnen gefiel das Kunststück. Der, auf den ich fiel röchelt noch etwas und verstummt. Ich überlege wie das wohl ist, für eine gute Sache zu sterben. Für einen Fallenden zu fallen. Aber die großen Kämpfe finden nicht mehr statt. Hier stirbt jeder für sich. Und allein.
Zwei Versatzstücke aus meiner jugendlichen Kindheit werden zu Holzblöcken und spannen meinen Schädel in einen Schraubstock. Etwas fließt aus mir heraus und füllt einen Eimer. Das Geräusch klingt wie Reue, Schuld und Demut. Hohläugig glotzen mich die drei an, als forderten sie einen späten Tribut für Begangenes und Unbegangenes. Ich werde sie nicht bezahlen, ich habe weder Geld noch etwas zu bereuen.
Immerhin, beleidigt schiebt sich meine Unterlippe hervor, ohne dass ich es ändern könnte. Soweit, dass sie den beginnenden Regen auffängt und ich langsam voll laufe. Gott sei Dank bin ich nicht ganz dicht. Der Regen ist sauer. Das war er auch früher und die Leute haben haufenweise dagegen protestiert. Heute ist es sein Gemütszustand. Ich wäre es auch, wenn ich hier fallen müsste. Da kenne ich mich ja jetzt aus. Sollte ich auch Mitleid mit dem Regen haben?
Der Muezzin ruft von seinem Turm die Teilzeitmumien auf, die Arbeit zu beenden und sich die Gesichter zu verbinden. Zu tausenden strömen sie heraus und warten auf einen freien Platz im Förderband. Gegen meinen Willen werde ich aufgesogen und mitgerissen. Es ist jeden Tag das gleiche. Ein rumpelnder Zug voller Halbzufriedener, Selbstverachter und Eigentlichalles andersmacher mäandert durch die Steinwüste und erbricht sich in der Zeltstadt. Und ich bin dieses eine andersartige Sandkörnchen, das stolz auf seine noch mikroskopischen vorhandenen Unebenheiten ist.
By the way, wussten sie eigentlich, dass in den dreißiger Jahren die Kinofilmlänge nicht in Stunden, sondern in Metern angegeben wurde? Nein? Ich stell mir gerade vor, wie sich im Dunkel der Filmpremiere Hans Albers zu Leni Riefenstahl beugt und sie fragt wie lange der Unsinn noch dauert und sie sagt: Noch Achtzig Meter.
Auf dem Weg vom Bahnhof gehe ich bei meinem Freund Jack vorbei. Sie wissen schon, der mit dem Pott und dem Timing. Dem guten Timing. Ich frage seinen Weisheitszahn wie lange ich noch zu leben hätte. Er beugt sich heraus und sagt: „Noch hunderttausend Mal kauen“.
Gut, sage ich mir, ab jetzt zählt alles.