Mein Land
Mein LandEin Licht glomm in der tiefschwarzen Finsternis. Ein rotes Licht. In weiter Ferne. Wie das Auge eines Zyklopen schien es mal in die eine, mal in die Andere Richtung zu blicken, seine Form zu verändern und bisweilen zu verschwimmen.
Dies war schon die dritte Nacht hintereinander, in der ich es beobachtete und meine Neugier raubte mir den Schlaf. Bis zum Tagesanbruch stand ich gestern hier, doch mit dem aufsteigenden Licht der Sonne, verschwand das Leuchten und selbst bei hellem Tageslicht war dort in der Ferne nichts zu erkennen. Klare Luft umwehten den Turm, auf dem ich stand und die Nacht war mondlos und kalt.
Meine Kleidung fühlte sich feucht und klamm an, außerdem irgendwie zu groß und unförmig, dennoch fühlte ich mich sicher und geborgen in diesem Gewand. Das rote Licht schien weit, weit entfernt und tief in meinem Innern reifte die Erkenntnis, dass ich mich bald auf den Weg würde machen müssen, wollte ich es noch in dieser Nacht erreichen.
Ich ließ meinen Blick über das dunkle Tal unter mir schweifen und ein kalter Schauer lief mir auf nackten Füßen den Rücken hinab. Eine weite, schutzlose Ebene, die am Fuße des Hügels begann, wurde von einem dichten, alten und knorrigen Düsterwald abgelöst, der sich in weiter Ferne in schroffen, gewaltigen Felsen verlor. Genau dort, zwischen den zerklüfteten, gewaltigen Steilhängen, mäanderte das Licht.
Hier oben auf dem Hügel war ich sicher. Hier stand meine Burg, meine Festung. Ein unbezwingbares Bollwerk gegen alle Gefahren. Sicherheit. Aber was nützte mir Sicherheit ohne die Gewissheit das in meinem kleinen Reich alles mit rechten Dingen zu ging ? Etwas neues, unbekanntes war in meiner Welt aufgetaucht und wie sollte ich weiter in Frieden leben, wenn ich nicht herausfand worum es sich dabei handelte ?
Dies war mein Reich und ich musste wissen, was da vor sich ging. Entschlossen wickelte ich mein Gewand fester um meinen frierenden Körper, griff nach meinem altbewährten Wanderstab und verließ meinen Turm, meine Burg, verschloss das große Tor fest hinter mir und machte mich auf den Weg.
Der Staub der großen Ebene stob bei jedem Schritt unter meinen Füßen davon und verwehte hinter mir im Wind, der hier niemals völlig zur Ruhe kam. Die Nacht war erfüllt von beunruhigenden Geräuschen, Rasseln und Zischen und unwillkürlich verstärkte sich mein Griff um den vertrauten Stab in meiner Hand, bis ich selbst in der Dunkelheit meine Fingerknöchel weis hervortreten sah. Kleine Steine und...Gegenstände, stießen immer wieder gegen meine bloßen Füße, versuchten mich zu Fall zu bringen und entlockten mir kleine Schmerzenslaute, wann immer ich auf irgendetwas spitzes trat, dass sich in meine weichen, ungeschützten Fußsohlen bohrte. Schemenhaft erschienen Dinge am äußeren Rand meines Blickfeldes um die ich einen großen Bogen machte, denn auch wenn ich mein Land gut zu kennen glaubte, in den Schatten der Nacht erschien es mir bisweilen fremd und unheimlich.
Eine kleine Ewigkeit schien zu verstreichen, bis sich schließlich die dichte Masse des nächtlichen Waldes vor mir erhob. Entschlossen schritt ich aus, um diesen Teil der unheimlichen Reise möglichst schnell hinter mich zu bringen, als etwas nach meinen Knöcheln griff und mich zu Fall brachte. Ich unterdrückte den Aufschrei in meiner Kehle, hob den Blick und starrte mit schreckensweiten Augen in eine fürchterliche Fratze aus Hörnern und Zähnen. Wie von Sinnen zerrte ich an den Fesseln um meine Beine, kam frei, rannte los, schlug mich panisch durch die Äste und das finstere Buschwerk, dass von allen Seiten auf mich eindrang, mich halten, fesseln und mir die Luft zum atmen nehmen wollte.
Endlich war ich aus dem Wald heraus, durchbrach die letzten Barrikaden mit meinem Wanderstab, der dabei entzwei ging, stürzte ins Freie, strauchelte und schlug hart auf dem felsigen Boden auf. Ich rollte mich zu einem Päckchen zusammen, wie ein Fötus lag ich da auf dem nackten, kalten Boden. Zitternd, nach Luft ringend und immer wieder diesen einen Gedanken wiederholend. „Es ist mein Land. Mein Land. Mein Land ! Hier gibt es nichts böses, nichts unbekanntes. Es ist mein Land!“
Als mein Atem sich langsam beruhigt hatte und das unkontrollierbare Zittern endlich verebbte, wagte ich es einen Blick durch meine Finger zu werfen, die ich schützend vor meine Augen geschlagen hatte. Da war es. Das Licht. Das rote Licht. Hell und klar schimmerte es zwischen den Felsen durch die Dunkelheit, vermittelte ein seltsames Gefühl von Frieden. Spendete Trost und Wärme.
Ich kam auf die Knie, robbte, kroch und zog mich vorwärts. Zum Licht. Erreichte endlich seine Quelle, eine senkrechte Wand, an der es zu verharren schien und legte mich in seinem Sanften Schimmer zur Ruhe. Genoss die Wärme und Geborgenheit des roten Leuchtens und die Gewissheit, dass nichts böses es wagen würde sich diesem Licht zu nähern.
So schlief ich endlich friedlich ein.
Als ich erwachte war es rings um mich hell und eine erschreckend vertraute Stimme vertrieb auch die letzten Reste von Benommenheit aus meinem Kopf. Starke, große Hände umfassten mich sanft, hoben mich empor und hielten mich fest und sicher.
„Schatz, komm doch bitte mal her und schau Dir diese Bescherung an“ vernahm ich die belustigte Stimme meines Vaters. Schritte näherten sich und die erstaunte Stimme meiner Mutter erklang. „Aus dem Bett, die Rutsche runter, durch das Spielzeugminenfeld, den kompletten Kleiderschrank mit den Faschingskostümen und den Weihnachtsgestecken, durch das ganze Wohnzimmer, durch sämtliche Sofakissen, barfuss über den kalten Steinfußboden bis zum Ladegerät für Dein Handy, Schatz.
Die rote Kontrollleuchte hat es Dir wohl angetan, was Mäuschen ?" Meine Mutter hob mich aus den Armen meines Vaters, der sich daraufhin bückte und etwas vom Boden aufhob. „Der hat es hinter sich. Zum Glück ist bald wieder Volksfest, da bekommst Du einen neuen Lutschbonbonspazierstock.“ Und jetzt ziehen wir Dir erst mal Papas Bademantel aus und machen eine frische Windel“, flüsterte meine Mutter.
Ich kuschelte mich an sie und lächelte meinen Vater an. Das war mein Land.
© 09.2010 by Biker_696