Die Wiege der Zeit 12
Die Schwere wich nur langsam aus Balthasar’s Körper. Verzweifelt lag sein Blick auf dem Pergament, das sich vor seinen Augen auflöste. Unbekannte Geschichte für immer verloren. Seine Glieder gehorchten ihm nur widerwillig, doch erhob er sich aus seinem Sessel und schlurfte auf die Stelle zu, an der eben noch ein unbezahlbarer Schatz gelegen hatte. Die verkohlten Reste des Pergaments wehten unter dem leichten Windhauch davon, den Balthasar mit seinen Schritten verursachte. Dann bemerkte er die Hinterlassenschaft des Bösen, das sich für immer in den Holzboden der Bibliothek gebrannt hatte: ein schwarz glänzendes Brandzeichen in Form eines Hufes. Balthasar fröstelte es trotz der noch immer leicht erhöhten Raumtemperatur. Er bückte sich ächzend, ließ seine Finger über die gebrandmarkte Stelle gleiten. Es zischte leicht an seinen Fingerkuppen, so dass er reflexartig die Hand zurückzog. Kleine Schwefelwölkchen erhoben sich in Kringeln über dem Zeichen um sich dann aufzulösen. ‚Nun ja, solche Erlebnisse hinterlassen nun mal Spuren’ dachte er und erhob sich, um den Rest seiner Bibliothek zu begutachten, in der Hoffnung, der Feuerball und die Flammenhölle hatten nicht noch mehr Schaden angerichtet.
Hier und da waren die Holzwände der Regale in Mitleidenschaft gezogen und trugen nun ein wenig dunklere Maserungen zu Tage. Doch seine Bücher waren unversehrt. Das ließ Balthasar beruhigt durchatmen. Der Boden, direkt unter der Glaskuppel, auf dem die beiden Kontrahenten ihren Kampf ausgefochten hatten, trug auf wundersame Weise jedoch keine Spuren davon.
Balthasar schüttelte den Kopf über die vergangenen Stunden, wollte er doch nur ein wenig Ruhe. Doch je mehr er daran dachte, umso heftiger wurde das, was sich vor ihm auftat. So beschloss er, fürs Erste nichts mehr zu planen.
Die dunklen Gewitterwolken hatten sich nur zäh über den Himmel verzogen, das Licht gewann wieder die Überhand in der Bibliothek. Auch die Temperatur normalisierte sich. Balthasar blickte hinauf zur Empore und entschloss sich zu etwas, das er nur alle paar Jahrhunderte zuließ.
Seine Finger glitten durch das noch immer wild abstehende Haar, glätteten es über den Hinterkopf. Dann zog er seine Kleidung zurecht und betrat die Wendeltreppe der Empore. Sehr bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er angekommen war und den langen Gang entlang schritt. Sein Ziel lag am Ende des Ganges. Dieser war jedoch nicht das, was man sich unter dem Gang einer sonst üblichen Bibliothek vorstellen durfte. Es war der Tunnel der Zeit. Je weiter Balthasar ihn entlang schritt, umso schneller glitten die Bücherregale an den Wänden an ihm vorbei. Mit bloßem Auge war die rasante Geschwindigkeit kaum mehr wahrnehmbar, Balthasar wusste jedoch nur zu genau, wo er sich befand, vielmehr: Wann.
Sein Ziel lag direkt vor ihm. Ein Dunkel, das fast greifbar war, sogar das Licht wagte sich nicht in diesen Winkel. Balthasar ging an das Ende der Regalwand. Neben dem Holz des Regalrahmens war nichts zu erkennen, doch Balthasar schritt unbeirrt auf dieses Nichts zu. Das Dunkel umhüllte ihn wie weicher Samt, der sich den Konturen eines Körpers anpasste. Dann war er angekommen. Die krumme Holztür, die die Dicke eines mächtigen Baumstammes hatte, versperrte ihm den Weg. Balthasar griff unter seinen Pullover um einen Schlüssel, der an einer feingliedrigen Kette baumelte, hervorzuholen. Der Schlüssel hatte sich im Lauf der Ewigkeiten von seiner goldenen Farbe zu einem rauen Bronzeton gewandelt. Doch noch immer waren die dicken Barten glatt und ohne jegliche Korrosion. Balthasar schob den schweren Schlüssel in die Öffnung des aufgesetzten Schlosses mit dem gebogenen Griff. Die Berührung der Metalle wurde von einem Schaben unterlegt. Zweimal drehte Balthasar den Schlüssel. Er vernahm das mechanische Gleiten des Riegels in der Konstruktion, ein Klacken begleitete den Griff, der sich wie von Geisterhand allein nach unten bewegte und die Tür geräuschlos aufgleiten ließ.
Ein Windzug erfasste Balthasar und schien ihn in die dahinterliegende Kammer zu ziehen. Muffig und staubtrocken war die Luft in diesem winzigen Raum, der seit unendlichen Zeiten nicht mehr geöffnet worden war. Eine Dachschräge, die fast bis zum Boden reichte, lag der Tür gegenüber, durch das alte, marode Dach fiel vereinzelt ein Lichtschimmer, der den silbern glänzenden Staub in Strahlen tanzen ließ. Leise pfeifend drang Wind durch eine verborgene Ritze in die Dachkammer und sorgte dafür, dass die stickige Luft aufgewirbelt wurde. Balthasar schloss leise die Tür hinter sich und schritt über den knarrenden Holzboden. Gedämpft klangen seine Schritte, der Staub unter seinen Füßen wirkte wie Watte, die jegliche Schallwellen zu verschlucken schien. Dann hatte er seinen alten Schaukelstuhl erreicht. Er tippte ihn an der Lehne an, um zu testen, ob er noch stabil genug war, um sein Körpergewicht zu tragen. Willig bewegte sich der Stuhl auf seinem abgerundeten Holz nach hinten und wieder vor, bis er ausgependelt war. Vorsichtig ließ sich Balthasar auf der Sitzfläche nieder. Ein wenig ächzte das uralte Material, doch trug es den Bibliothekar zuverlässig.
Balthasar lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete den Geruch der Erinnerungen ein, ließ sich beruhigen durch das sanfte Wiegen des alten Möbelstückes. Er drehte seinen Kopf schläfrig zur Seite, dabei fiel ihm der winzige runde Tisch auf. Ein abgegriffenes Heft lag darauf. Klein, unscheinbar, und doch wurde es Balthasar warm ums Herz, als er es erkannte. Er beugte sich vor und konnte dadurch den Tisch erreichen, um sich das Heft zu greifen. Seine Fingerkuppen hinterließen im Staub des Einbands dunkle Stellen. Er pustete kräftig über das in öligem Pergament gebundene Heft und beobachtete den Staub bei seiner wirbelnden Reise durch den Raum.
Balthasar lehnte sich wieder zurück und schlug das Heft in der Mitte auf, dort wo das Band des Lesezeichens die alten Seiten teilte. Ungelenk niedergeschriebene Tintenbuchstaben zierten die vergilbten Seiten des rauen Pergaments. Die Buchstaben begannen einen Tanz, der sich pirouettenförmig über den Seiten fortsetzte, dann aufstiegen und als kleiner Kometenschweif in den Raum flogen. Dort formierten sie sich zu einem kleinen Spiegel, der wie flüssiges Quecksilber zerfloss, wuchs und den Blick in eine andere Welt freigab.
Ein kleiner Junge beugte sich über einen grauen Steinkreis, der von einer Wiese umrahmt wurde. Die Hand des Kindes griff in die Mitte des Kreises und zog etwas Ovales hervor. Auf den ersten Blick nicht erkennbar, doch dann offenbarte es sein Geheimnis. Die gelborange getönte Oberfläche, die wie ein Golfball mit kleinen Einkerbungen ausgestattet war, erwies sich als Drachen-Ei. Vorsichtig bettete der Junge das wertvolle Ei in beide Hände, hielt es gegen das Licht, dann presste er behutsam sein Ohr an die warme Schale des Eis. Seine Augen leuchteten auf, als er leise schabende Geräusche darin wahrnahm. Jetzt zog er mit seinem Fuß einen ledernen Beutel zu sich heran, den er vorher abgelegt hatte. Er ließ sich mit angehaltenem Atem im Schneidersitz nieder, legte das Ei sicher zwischen seinen Beinen in das so entstandene Dreieck ab und öffnete dann den Beutel. Darin lag eine Kiste, die mit weichem Samt ausgeschlagen war, und genau Platz für das Ei aufwies. Nachdem der Knabe das Ei in die Samtkuhle geschoben hatte, schloss er den Deckel und ließ die Kiste in seinem Beutel verschwinden. Freudestrahlend erhob er sich und begann seinen Weg fortzusetzen.
Das Bild verschwand vor Balthasar’s Augen, nur kurz, dann öffnete sich eine weitere Szene. Der Junge saß inmitten einer Wiese, die sanft geschwungen über einer Hügellandschaft lag. Der Junge blickte in den Himmel, wirbelte mit den Armen, lachte und schien etwas zu rufen. Balthasar hörte jetzt die begeisterte Stimme: „Ja, du hast es geschafft, jetzt kannst du es“. Balthasar löste seinen Blick von dem Jungen hinauf in den Himmel und dort konnte er erkennen, wie ein junger Drache, kaum größer als ein Pony, seine ersten Flugversuche unternahm. Der Drache war ein wunderschönes Tier. Hals und Schwanz fast gleichlang. Vom Schädel des Drachen, über den Rücken bis zur Schwanzspitze zierten gebogene Stacheln die geschuppte Haut, die opalisierend mit der Farbe des Himmels wetteiferte. Junge Drachen besaßen eine Haut, deren Farbe sich noch nicht ganz ausgebildet hat, und so schimmerte die Oberfläche in allen Farben, die es überhaupt geben konnte. Das kräftige Herz pulsierte sichtbar unter der glatten Haut des Unterleibes des Drachen. Der Junge starrte fasziniert auf den Drachen, der sich mit jedem Flügelschlag seiner Schwingen sicherer durch das luftige Element bewegte. „Komm jetzt wieder runter, für heute dürfte es genug sein“ rief der Junge gegen die Lüfte an und beobachtete den Drachen, der sich in seinem Flug in weiten Kreisen dem Boden näherte. Die kräftigen Krallen in den Hinterläufen des Tieres bohrten sich zuerst in den grünen Untergrund, die lederartigen Schwingen flappten über dem Rücken, um sich dann sorgfältig zusammenzufalten. „Das hast du prima gemacht, Dracnar“ flüsterte der Junge in das Ohr des Drachen, der seinen Kopf in den Schoß des Jungen gelegt hatte. Die schimmernde Haut des Tieres war am Kopf mit nur kleinen Schuppen bedeckt, so dass die Finger des Kindes ohne Widerstand darüber gleiten konnten. Leise fauchend schloss Dracnar seine Augen und gab sich der Berührung hin. Der Junge überblickte den bebenden Körper des Drachen. Die Flanken hoben sich unregelmäßig, beruhigten sich langsam. Das Fliegen war anstrengend für das junge Tier und konnte noch nicht lange durchhalten, doch das würde sich mit der Zeit schnell geben. Viel zu schnell, wie der Junge ahnte.
Erneut verliefen die Bilder im fließenden Quecksilber. Der Junge beugte sich jetzt über ein Heft, einen Federkiel zwischen den Fingern, den er grade in ein kleines Tintenfass tauchte. Balthasar erkannte das Heft als das, welches er auf seinem Schoß hielt. Er beobachtete den Jungen, wie er die Feder über das noch frisch wirkende Pergament führte. Leise kratzte die Feder die Tinte in den faserigen Untergrund und verewigte das Wissen über das Leben der Drachen. Konzentriert vollführte der Junge mit der Feder wundervolle Bögen, um die Buchstaben zu formen, die seinen Dracnar beschrieben. Balthasar blickte genauer hin, der Hintergrund in dem Bild klarte auf, und er konnte den Drachen erkennen, der zusammengerollt in einer Ecke des dunklen Raumes ruhte. Er war jetzt um das doppelte gewachsen. Die Krallen an Vorder- und Hinterläufen waren beachtlich. Gefährlich gebogen, spitz zulaufend in einem matten Schwarz. Die Haut des Drachen hatte sich völlig entwickelt und die Farbe des schimmernden Opals war einem blutroten Rubin gewichen. Die Schwanzspitze jedoch hatte sich nicht gefärbt und erschien zerbrechlich in seinem opalfarbenen Glitzern, das wirkte, als würden unter der Hautoberfläche Wolken umherziehen.
Als hätte der Drache den Blick des alten Mannes gespürt, öffnete er seine Augen. Balthasar zuckte erschrocken zurück, als ihn diese tizianblauen Seen erfassten. Dracnar hob aufmerksam sein Haupt, stieß ein tiefes Grollen aus, das von kleinen, blauen Flammen aus seinen Nüstern begleitet wurde.
„Mach dir keine Sorgen, Dracnar, es ist alles in Ordnung. Unser Besucher wird dir nichts tun. Im Gegenteil, er sorgt dafür, dass es uns weiterhin gut gehen wird.“ beruhigte der Junge seinen Drachen. Dann drehte er sich in die Richtung, aus der Balthasar die Szenerie beobachtete. Der Junge hob die Hand, und winkte dem alten Mann mit einem weisen Lächeln zu.
Das Bild löste sich auf, zog sich zusammen und als Quecksilber floss es zurück auf das Pergament des Buches in Balthasar’s Schoß. Die Buchstaben formten sich zu den Worten, die der Junge damals verfasst hatte. Balthasar war versunken in den Gefühlen, die das eben Gesehene in ihm hervorgerufen hatten, so dass er noch lange vor sich hin sinnierte, bevor er das kleine Heft schloss.
Die Augen des alten Mannes folgten den Buchstaben auf dem kleinen weißen Schildchen, das den vorderen Einband des Heftes zierte:
Tagebuch von Balthasar
Die Schwere wich nur langsam aus Balthasar’s Körper. Verzweifelt lag sein Blick auf dem Pergament, das sich vor seinen Augen auflöste. Unbekannte Geschichte für immer verloren. Seine Glieder gehorchten ihm nur widerwillig, doch erhob er sich aus seinem Sessel und schlurfte auf die Stelle zu, an der eben noch ein unbezahlbarer Schatz gelegen hatte. Die verkohlten Reste des Pergaments wehten unter dem leichten Windhauch davon, den Balthasar mit seinen Schritten verursachte. Dann bemerkte er die Hinterlassenschaft des Bösen, das sich für immer in den Holzboden der Bibliothek gebrannt hatte: ein schwarz glänzendes Brandzeichen in Form eines Hufes. Balthasar fröstelte es trotz der noch immer leicht erhöhten Raumtemperatur. Er bückte sich ächzend, ließ seine Finger über die gebrandmarkte Stelle gleiten. Es zischte leicht an seinen Fingerkuppen, so dass er reflexartig die Hand zurückzog. Kleine Schwefelwölkchen erhoben sich in Kringeln über dem Zeichen um sich dann aufzulösen. ‚Nun ja, solche Erlebnisse hinterlassen nun mal Spuren’ dachte er und erhob sich, um den Rest seiner Bibliothek zu begutachten, in der Hoffnung, der Feuerball und die Flammenhölle hatten nicht noch mehr Schaden angerichtet.
Hier und da waren die Holzwände der Regale in Mitleidenschaft gezogen und trugen nun ein wenig dunklere Maserungen zu Tage. Doch seine Bücher waren unversehrt. Das ließ Balthasar beruhigt durchatmen. Der Boden, direkt unter der Glaskuppel, auf dem die beiden Kontrahenten ihren Kampf ausgefochten hatten, trug auf wundersame Weise jedoch keine Spuren davon.
Balthasar schüttelte den Kopf über die vergangenen Stunden, wollte er doch nur ein wenig Ruhe. Doch je mehr er daran dachte, umso heftiger wurde das, was sich vor ihm auftat. So beschloss er, fürs Erste nichts mehr zu planen.
Die dunklen Gewitterwolken hatten sich nur zäh über den Himmel verzogen, das Licht gewann wieder die Überhand in der Bibliothek. Auch die Temperatur normalisierte sich. Balthasar blickte hinauf zur Empore und entschloss sich zu etwas, das er nur alle paar Jahrhunderte zuließ.
Seine Finger glitten durch das noch immer wild abstehende Haar, glätteten es über den Hinterkopf. Dann zog er seine Kleidung zurecht und betrat die Wendeltreppe der Empore. Sehr bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er angekommen war und den langen Gang entlang schritt. Sein Ziel lag am Ende des Ganges. Dieser war jedoch nicht das, was man sich unter dem Gang einer sonst üblichen Bibliothek vorstellen durfte. Es war der Tunnel der Zeit. Je weiter Balthasar ihn entlang schritt, umso schneller glitten die Bücherregale an den Wänden an ihm vorbei. Mit bloßem Auge war die rasante Geschwindigkeit kaum mehr wahrnehmbar, Balthasar wusste jedoch nur zu genau, wo er sich befand, vielmehr: Wann.
Sein Ziel lag direkt vor ihm. Ein Dunkel, das fast greifbar war, sogar das Licht wagte sich nicht in diesen Winkel. Balthasar ging an das Ende der Regalwand. Neben dem Holz des Regalrahmens war nichts zu erkennen, doch Balthasar schritt unbeirrt auf dieses Nichts zu. Das Dunkel umhüllte ihn wie weicher Samt, der sich den Konturen eines Körpers anpasste. Dann war er angekommen. Die krumme Holztür, die die Dicke eines mächtigen Baumstammes hatte, versperrte ihm den Weg. Balthasar griff unter seinen Pullover um einen Schlüssel, der an einer feingliedrigen Kette baumelte, hervorzuholen. Der Schlüssel hatte sich im Lauf der Ewigkeiten von seiner goldenen Farbe zu einem rauen Bronzeton gewandelt. Doch noch immer waren die dicken Barten glatt und ohne jegliche Korrosion. Balthasar schob den schweren Schlüssel in die Öffnung des aufgesetzten Schlosses mit dem gebogenen Griff. Die Berührung der Metalle wurde von einem Schaben unterlegt. Zweimal drehte Balthasar den Schlüssel. Er vernahm das mechanische Gleiten des Riegels in der Konstruktion, ein Klacken begleitete den Griff, der sich wie von Geisterhand allein nach unten bewegte und die Tür geräuschlos aufgleiten ließ.
Ein Windzug erfasste Balthasar und schien ihn in die dahinterliegende Kammer zu ziehen. Muffig und staubtrocken war die Luft in diesem winzigen Raum, der seit unendlichen Zeiten nicht mehr geöffnet worden war. Eine Dachschräge, die fast bis zum Boden reichte, lag der Tür gegenüber, durch das alte, marode Dach fiel vereinzelt ein Lichtschimmer, der den silbern glänzenden Staub in Strahlen tanzen ließ. Leise pfeifend drang Wind durch eine verborgene Ritze in die Dachkammer und sorgte dafür, dass die stickige Luft aufgewirbelt wurde. Balthasar schloss leise die Tür hinter sich und schritt über den knarrenden Holzboden. Gedämpft klangen seine Schritte, der Staub unter seinen Füßen wirkte wie Watte, die jegliche Schallwellen zu verschlucken schien. Dann hatte er seinen alten Schaukelstuhl erreicht. Er tippte ihn an der Lehne an, um zu testen, ob er noch stabil genug war, um sein Körpergewicht zu tragen. Willig bewegte sich der Stuhl auf seinem abgerundeten Holz nach hinten und wieder vor, bis er ausgependelt war. Vorsichtig ließ sich Balthasar auf der Sitzfläche nieder. Ein wenig ächzte das uralte Material, doch trug es den Bibliothekar zuverlässig.
Balthasar lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete den Geruch der Erinnerungen ein, ließ sich beruhigen durch das sanfte Wiegen des alten Möbelstückes. Er drehte seinen Kopf schläfrig zur Seite, dabei fiel ihm der winzige runde Tisch auf. Ein abgegriffenes Heft lag darauf. Klein, unscheinbar, und doch wurde es Balthasar warm ums Herz, als er es erkannte. Er beugte sich vor und konnte dadurch den Tisch erreichen, um sich das Heft zu greifen. Seine Fingerkuppen hinterließen im Staub des Einbands dunkle Stellen. Er pustete kräftig über das in öligem Pergament gebundene Heft und beobachtete den Staub bei seiner wirbelnden Reise durch den Raum.
Balthasar lehnte sich wieder zurück und schlug das Heft in der Mitte auf, dort wo das Band des Lesezeichens die alten Seiten teilte. Ungelenk niedergeschriebene Tintenbuchstaben zierten die vergilbten Seiten des rauen Pergaments. Die Buchstaben begannen einen Tanz, der sich pirouettenförmig über den Seiten fortsetzte, dann aufstiegen und als kleiner Kometenschweif in den Raum flogen. Dort formierten sie sich zu einem kleinen Spiegel, der wie flüssiges Quecksilber zerfloss, wuchs und den Blick in eine andere Welt freigab.
Ein kleiner Junge beugte sich über einen grauen Steinkreis, der von einer Wiese umrahmt wurde. Die Hand des Kindes griff in die Mitte des Kreises und zog etwas Ovales hervor. Auf den ersten Blick nicht erkennbar, doch dann offenbarte es sein Geheimnis. Die gelborange getönte Oberfläche, die wie ein Golfball mit kleinen Einkerbungen ausgestattet war, erwies sich als Drachen-Ei. Vorsichtig bettete der Junge das wertvolle Ei in beide Hände, hielt es gegen das Licht, dann presste er behutsam sein Ohr an die warme Schale des Eis. Seine Augen leuchteten auf, als er leise schabende Geräusche darin wahrnahm. Jetzt zog er mit seinem Fuß einen ledernen Beutel zu sich heran, den er vorher abgelegt hatte. Er ließ sich mit angehaltenem Atem im Schneidersitz nieder, legte das Ei sicher zwischen seinen Beinen in das so entstandene Dreieck ab und öffnete dann den Beutel. Darin lag eine Kiste, die mit weichem Samt ausgeschlagen war, und genau Platz für das Ei aufwies. Nachdem der Knabe das Ei in die Samtkuhle geschoben hatte, schloss er den Deckel und ließ die Kiste in seinem Beutel verschwinden. Freudestrahlend erhob er sich und begann seinen Weg fortzusetzen.
Das Bild verschwand vor Balthasar’s Augen, nur kurz, dann öffnete sich eine weitere Szene. Der Junge saß inmitten einer Wiese, die sanft geschwungen über einer Hügellandschaft lag. Der Junge blickte in den Himmel, wirbelte mit den Armen, lachte und schien etwas zu rufen. Balthasar hörte jetzt die begeisterte Stimme: „Ja, du hast es geschafft, jetzt kannst du es“. Balthasar löste seinen Blick von dem Jungen hinauf in den Himmel und dort konnte er erkennen, wie ein junger Drache, kaum größer als ein Pony, seine ersten Flugversuche unternahm. Der Drache war ein wunderschönes Tier. Hals und Schwanz fast gleichlang. Vom Schädel des Drachen, über den Rücken bis zur Schwanzspitze zierten gebogene Stacheln die geschuppte Haut, die opalisierend mit der Farbe des Himmels wetteiferte. Junge Drachen besaßen eine Haut, deren Farbe sich noch nicht ganz ausgebildet hat, und so schimmerte die Oberfläche in allen Farben, die es überhaupt geben konnte. Das kräftige Herz pulsierte sichtbar unter der glatten Haut des Unterleibes des Drachen. Der Junge starrte fasziniert auf den Drachen, der sich mit jedem Flügelschlag seiner Schwingen sicherer durch das luftige Element bewegte. „Komm jetzt wieder runter, für heute dürfte es genug sein“ rief der Junge gegen die Lüfte an und beobachtete den Drachen, der sich in seinem Flug in weiten Kreisen dem Boden näherte. Die kräftigen Krallen in den Hinterläufen des Tieres bohrten sich zuerst in den grünen Untergrund, die lederartigen Schwingen flappten über dem Rücken, um sich dann sorgfältig zusammenzufalten. „Das hast du prima gemacht, Dracnar“ flüsterte der Junge in das Ohr des Drachen, der seinen Kopf in den Schoß des Jungen gelegt hatte. Die schimmernde Haut des Tieres war am Kopf mit nur kleinen Schuppen bedeckt, so dass die Finger des Kindes ohne Widerstand darüber gleiten konnten. Leise fauchend schloss Dracnar seine Augen und gab sich der Berührung hin. Der Junge überblickte den bebenden Körper des Drachen. Die Flanken hoben sich unregelmäßig, beruhigten sich langsam. Das Fliegen war anstrengend für das junge Tier und konnte noch nicht lange durchhalten, doch das würde sich mit der Zeit schnell geben. Viel zu schnell, wie der Junge ahnte.
Erneut verliefen die Bilder im fließenden Quecksilber. Der Junge beugte sich jetzt über ein Heft, einen Federkiel zwischen den Fingern, den er grade in ein kleines Tintenfass tauchte. Balthasar erkannte das Heft als das, welches er auf seinem Schoß hielt. Er beobachtete den Jungen, wie er die Feder über das noch frisch wirkende Pergament führte. Leise kratzte die Feder die Tinte in den faserigen Untergrund und verewigte das Wissen über das Leben der Drachen. Konzentriert vollführte der Junge mit der Feder wundervolle Bögen, um die Buchstaben zu formen, die seinen Dracnar beschrieben. Balthasar blickte genauer hin, der Hintergrund in dem Bild klarte auf, und er konnte den Drachen erkennen, der zusammengerollt in einer Ecke des dunklen Raumes ruhte. Er war jetzt um das doppelte gewachsen. Die Krallen an Vorder- und Hinterläufen waren beachtlich. Gefährlich gebogen, spitz zulaufend in einem matten Schwarz. Die Haut des Drachen hatte sich völlig entwickelt und die Farbe des schimmernden Opals war einem blutroten Rubin gewichen. Die Schwanzspitze jedoch hatte sich nicht gefärbt und erschien zerbrechlich in seinem opalfarbenen Glitzern, das wirkte, als würden unter der Hautoberfläche Wolken umherziehen.
Als hätte der Drache den Blick des alten Mannes gespürt, öffnete er seine Augen. Balthasar zuckte erschrocken zurück, als ihn diese tizianblauen Seen erfassten. Dracnar hob aufmerksam sein Haupt, stieß ein tiefes Grollen aus, das von kleinen, blauen Flammen aus seinen Nüstern begleitet wurde.
„Mach dir keine Sorgen, Dracnar, es ist alles in Ordnung. Unser Besucher wird dir nichts tun. Im Gegenteil, er sorgt dafür, dass es uns weiterhin gut gehen wird.“ beruhigte der Junge seinen Drachen. Dann drehte er sich in die Richtung, aus der Balthasar die Szenerie beobachtete. Der Junge hob die Hand, und winkte dem alten Mann mit einem weisen Lächeln zu.
Das Bild löste sich auf, zog sich zusammen und als Quecksilber floss es zurück auf das Pergament des Buches in Balthasar’s Schoß. Die Buchstaben formten sich zu den Worten, die der Junge damals verfasst hatte. Balthasar war versunken in den Gefühlen, die das eben Gesehene in ihm hervorgerufen hatten, so dass er noch lange vor sich hin sinnierte, bevor er das kleine Heft schloss.
Die Augen des alten Mannes folgten den Buchstaben auf dem kleinen weißen Schildchen, das den vorderen Einband des Heftes zierte:
Tagebuch von Balthasar