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Ich habe schon viel in dem Forum gelesen und muss sagen, dass man…
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Die Wiege der Zeit

****ra Frau
2.917 Beiträge
Themenersteller 
Die Wiege der Zeit 12


Die Schwere wich nur langsam aus Balthasar’s Körper. Verzweifelt lag sein Blick auf dem Pergament, das sich vor seinen Augen auflöste. Unbekannte Geschichte für immer verloren. Seine Glieder gehorchten ihm nur widerwillig, doch erhob er sich aus seinem Sessel und schlurfte auf die Stelle zu, an der eben noch ein unbezahlbarer Schatz gelegen hatte. Die verkohlten Reste des Pergaments wehten unter dem leichten Windhauch davon, den Balthasar mit seinen Schritten verursachte. Dann bemerkte er die Hinterlassenschaft des Bösen, das sich für immer in den Holzboden der Bibliothek gebrannt hatte: ein schwarz glänzendes Brandzeichen in Form eines Hufes. Balthasar fröstelte es trotz der noch immer leicht erhöhten Raumtemperatur. Er bückte sich ächzend, ließ seine Finger über die gebrandmarkte Stelle gleiten. Es zischte leicht an seinen Fingerkuppen, so dass er reflexartig die Hand zurückzog. Kleine Schwefelwölkchen erhoben sich in Kringeln über dem Zeichen um sich dann aufzulösen. ‚Nun ja, solche Erlebnisse hinterlassen nun mal Spuren’ dachte er und erhob sich, um den Rest seiner Bibliothek zu begutachten, in der Hoffnung, der Feuerball und die Flammenhölle hatten nicht noch mehr Schaden angerichtet.

Hier und da waren die Holzwände der Regale in Mitleidenschaft gezogen und trugen nun ein wenig dunklere Maserungen zu Tage. Doch seine Bücher waren unversehrt. Das ließ Balthasar beruhigt durchatmen. Der Boden, direkt unter der Glaskuppel, auf dem die beiden Kontrahenten ihren Kampf ausgefochten hatten, trug auf wundersame Weise jedoch keine Spuren davon.
Balthasar schüttelte den Kopf über die vergangenen Stunden, wollte er doch nur ein wenig Ruhe. Doch je mehr er daran dachte, umso heftiger wurde das, was sich vor ihm auftat. So beschloss er, fürs Erste nichts mehr zu planen.

Die dunklen Gewitterwolken hatten sich nur zäh über den Himmel verzogen, das Licht gewann wieder die Überhand in der Bibliothek. Auch die Temperatur normalisierte sich. Balthasar blickte hinauf zur Empore und entschloss sich zu etwas, das er nur alle paar Jahrhunderte zuließ.
Seine Finger glitten durch das noch immer wild abstehende Haar, glätteten es über den Hinterkopf. Dann zog er seine Kleidung zurecht und betrat die Wendeltreppe der Empore. Sehr bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen, bis er angekommen war und den langen Gang entlang schritt. Sein Ziel lag am Ende des Ganges. Dieser war jedoch nicht das, was man sich unter dem Gang einer sonst üblichen Bibliothek vorstellen durfte. Es war der Tunnel der Zeit. Je weiter Balthasar ihn entlang schritt, umso schneller glitten die Bücherregale an den Wänden an ihm vorbei. Mit bloßem Auge war die rasante Geschwindigkeit kaum mehr wahrnehmbar, Balthasar wusste jedoch nur zu genau, wo er sich befand, vielmehr: Wann.
Sein Ziel lag direkt vor ihm. Ein Dunkel, das fast greifbar war, sogar das Licht wagte sich nicht in diesen Winkel. Balthasar ging an das Ende der Regalwand. Neben dem Holz des Regalrahmens war nichts zu erkennen, doch Balthasar schritt unbeirrt auf dieses Nichts zu. Das Dunkel umhüllte ihn wie weicher Samt, der sich den Konturen eines Körpers anpasste. Dann war er angekommen. Die krumme Holztür, die die Dicke eines mächtigen Baumstammes hatte, versperrte ihm den Weg. Balthasar griff unter seinen Pullover um einen Schlüssel, der an einer feingliedrigen Kette baumelte, hervorzuholen. Der Schlüssel hatte sich im Lauf der Ewigkeiten von seiner goldenen Farbe zu einem rauen Bronzeton gewandelt. Doch noch immer waren die dicken Barten glatt und ohne jegliche Korrosion. Balthasar schob den schweren Schlüssel in die Öffnung des aufgesetzten Schlosses mit dem gebogenen Griff. Die Berührung der Metalle wurde von einem Schaben unterlegt. Zweimal drehte Balthasar den Schlüssel. Er vernahm das mechanische Gleiten des Riegels in der Konstruktion, ein Klacken begleitete den Griff, der sich wie von Geisterhand allein nach unten bewegte und die Tür geräuschlos aufgleiten ließ.

Ein Windzug erfasste Balthasar und schien ihn in die dahinterliegende Kammer zu ziehen. Muffig und staubtrocken war die Luft in diesem winzigen Raum, der seit unendlichen Zeiten nicht mehr geöffnet worden war. Eine Dachschräge, die fast bis zum Boden reichte, lag der Tür gegenüber, durch das alte, marode Dach fiel vereinzelt ein Lichtschimmer, der den silbern glänzenden Staub in Strahlen tanzen ließ. Leise pfeifend drang Wind durch eine verborgene Ritze in die Dachkammer und sorgte dafür, dass die stickige Luft aufgewirbelt wurde. Balthasar schloss leise die Tür hinter sich und schritt über den knarrenden Holzboden. Gedämpft klangen seine Schritte, der Staub unter seinen Füßen wirkte wie Watte, die jegliche Schallwellen zu verschlucken schien. Dann hatte er seinen alten Schaukelstuhl erreicht. Er tippte ihn an der Lehne an, um zu testen, ob er noch stabil genug war, um sein Körpergewicht zu tragen. Willig bewegte sich der Stuhl auf seinem abgerundeten Holz nach hinten und wieder vor, bis er ausgependelt war. Vorsichtig ließ sich Balthasar auf der Sitzfläche nieder. Ein wenig ächzte das uralte Material, doch trug es den Bibliothekar zuverlässig.

Balthasar lehnte sich zurück und schloss für einen kurzen Moment die Augen, atmete den Geruch der Erinnerungen ein, ließ sich beruhigen durch das sanfte Wiegen des alten Möbelstückes. Er drehte seinen Kopf schläfrig zur Seite, dabei fiel ihm der winzige runde Tisch auf. Ein abgegriffenes Heft lag darauf. Klein, unscheinbar, und doch wurde es Balthasar warm ums Herz, als er es erkannte. Er beugte sich vor und konnte dadurch den Tisch erreichen, um sich das Heft zu greifen. Seine Fingerkuppen hinterließen im Staub des Einbands dunkle Stellen. Er pustete kräftig über das in öligem Pergament gebundene Heft und beobachtete den Staub bei seiner wirbelnden Reise durch den Raum.
Balthasar lehnte sich wieder zurück und schlug das Heft in der Mitte auf, dort wo das Band des Lesezeichens die alten Seiten teilte. Ungelenk niedergeschriebene Tintenbuchstaben zierten die vergilbten Seiten des rauen Pergaments. Die Buchstaben begannen einen Tanz, der sich pirouettenförmig über den Seiten fortsetzte, dann aufstiegen und als kleiner Kometenschweif in den Raum flogen. Dort formierten sie sich zu einem kleinen Spiegel, der wie flüssiges Quecksilber zerfloss, wuchs und den Blick in eine andere Welt freigab.

Ein kleiner Junge beugte sich über einen grauen Steinkreis, der von einer Wiese umrahmt wurde. Die Hand des Kindes griff in die Mitte des Kreises und zog etwas Ovales hervor. Auf den ersten Blick nicht erkennbar, doch dann offenbarte es sein Geheimnis. Die gelborange getönte Oberfläche, die wie ein Golfball mit kleinen Einkerbungen ausgestattet war, erwies sich als Drachen-Ei. Vorsichtig bettete der Junge das wertvolle Ei in beide Hände, hielt es gegen das Licht, dann presste er behutsam sein Ohr an die warme Schale des Eis. Seine Augen leuchteten auf, als er leise schabende Geräusche darin wahrnahm. Jetzt zog er mit seinem Fuß einen ledernen Beutel zu sich heran, den er vorher abgelegt hatte. Er ließ sich mit angehaltenem Atem im Schneidersitz nieder, legte das Ei sicher zwischen seinen Beinen in das so entstandene Dreieck ab und öffnete dann den Beutel. Darin lag eine Kiste, die mit weichem Samt ausgeschlagen war, und genau Platz für das Ei aufwies. Nachdem der Knabe das Ei in die Samtkuhle geschoben hatte, schloss er den Deckel und ließ die Kiste in seinem Beutel verschwinden. Freudestrahlend erhob er sich und begann seinen Weg fortzusetzen.

Das Bild verschwand vor Balthasar’s Augen, nur kurz, dann öffnete sich eine weitere Szene. Der Junge saß inmitten einer Wiese, die sanft geschwungen über einer Hügellandschaft lag. Der Junge blickte in den Himmel, wirbelte mit den Armen, lachte und schien etwas zu rufen. Balthasar hörte jetzt die begeisterte Stimme: „Ja, du hast es geschafft, jetzt kannst du es“. Balthasar löste seinen Blick von dem Jungen hinauf in den Himmel und dort konnte er erkennen, wie ein junger Drache, kaum größer als ein Pony, seine ersten Flugversuche unternahm. Der Drache war ein wunderschönes Tier. Hals und Schwanz fast gleichlang. Vom Schädel des Drachen, über den Rücken bis zur Schwanzspitze zierten gebogene Stacheln die geschuppte Haut, die opalisierend mit der Farbe des Himmels wetteiferte. Junge Drachen besaßen eine Haut, deren Farbe sich noch nicht ganz ausgebildet hat, und so schimmerte die Oberfläche in allen Farben, die es überhaupt geben konnte. Das kräftige Herz pulsierte sichtbar unter der glatten Haut des Unterleibes des Drachen. Der Junge starrte fasziniert auf den Drachen, der sich mit jedem Flügelschlag seiner Schwingen sicherer durch das luftige Element bewegte. „Komm jetzt wieder runter, für heute dürfte es genug sein“ rief der Junge gegen die Lüfte an und beobachtete den Drachen, der sich in seinem Flug in weiten Kreisen dem Boden näherte. Die kräftigen Krallen in den Hinterläufen des Tieres bohrten sich zuerst in den grünen Untergrund, die lederartigen Schwingen flappten über dem Rücken, um sich dann sorgfältig zusammenzufalten. „Das hast du prima gemacht, Dracnar“ flüsterte der Junge in das Ohr des Drachen, der seinen Kopf in den Schoß des Jungen gelegt hatte. Die schimmernde Haut des Tieres war am Kopf mit nur kleinen Schuppen bedeckt, so dass die Finger des Kindes ohne Widerstand darüber gleiten konnten. Leise fauchend schloss Dracnar seine Augen und gab sich der Berührung hin. Der Junge überblickte den bebenden Körper des Drachen. Die Flanken hoben sich unregelmäßig, beruhigten sich langsam. Das Fliegen war anstrengend für das junge Tier und konnte noch nicht lange durchhalten, doch das würde sich mit der Zeit schnell geben. Viel zu schnell, wie der Junge ahnte.

Erneut verliefen die Bilder im fließenden Quecksilber. Der Junge beugte sich jetzt über ein Heft, einen Federkiel zwischen den Fingern, den er grade in ein kleines Tintenfass tauchte. Balthasar erkannte das Heft als das, welches er auf seinem Schoß hielt. Er beobachtete den Jungen, wie er die Feder über das noch frisch wirkende Pergament führte. Leise kratzte die Feder die Tinte in den faserigen Untergrund und verewigte das Wissen über das Leben der Drachen. Konzentriert vollführte der Junge mit der Feder wundervolle Bögen, um die Buchstaben zu formen, die seinen Dracnar beschrieben. Balthasar blickte genauer hin, der Hintergrund in dem Bild klarte auf, und er konnte den Drachen erkennen, der zusammengerollt in einer Ecke des dunklen Raumes ruhte. Er war jetzt um das doppelte gewachsen. Die Krallen an Vorder- und Hinterläufen waren beachtlich. Gefährlich gebogen, spitz zulaufend in einem matten Schwarz. Die Haut des Drachen hatte sich völlig entwickelt und die Farbe des schimmernden Opals war einem blutroten Rubin gewichen. Die Schwanzspitze jedoch hatte sich nicht gefärbt und erschien zerbrechlich in seinem opalfarbenen Glitzern, das wirkte, als würden unter der Hautoberfläche Wolken umherziehen.
Als hätte der Drache den Blick des alten Mannes gespürt, öffnete er seine Augen. Balthasar zuckte erschrocken zurück, als ihn diese tizianblauen Seen erfassten. Dracnar hob aufmerksam sein Haupt, stieß ein tiefes Grollen aus, das von kleinen, blauen Flammen aus seinen Nüstern begleitet wurde.
„Mach dir keine Sorgen, Dracnar, es ist alles in Ordnung. Unser Besucher wird dir nichts tun. Im Gegenteil, er sorgt dafür, dass es uns weiterhin gut gehen wird.“ beruhigte der Junge seinen Drachen. Dann drehte er sich in die Richtung, aus der Balthasar die Szenerie beobachtete. Der Junge hob die Hand, und winkte dem alten Mann mit einem weisen Lächeln zu.

Das Bild löste sich auf, zog sich zusammen und als Quecksilber floss es zurück auf das Pergament des Buches in Balthasar’s Schoß. Die Buchstaben formten sich zu den Worten, die der Junge damals verfasst hatte. Balthasar war versunken in den Gefühlen, die das eben Gesehene in ihm hervorgerufen hatten, so dass er noch lange vor sich hin sinnierte, bevor er das kleine Heft schloss.

Die Augen des alten Mannes folgten den Buchstaben auf dem kleinen weißen Schildchen, das den vorderen Einband des Heftes zierte:
Tagebuch von Balthasar
Einfach faszinierend!

Wo bekommst du nur deine Ideen her? Da würd ich mich auch gern mal anstellen! *zwinker*

Luna
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Liebe Luna!

Keine Ahnung, wie es Lysira macht, aber bei mir ist es so (und ich vermute mal, bei ihr dürfte es ähnlich sein): Aufhören zu denken und es einfach fließen lassen ...

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
So ist es auch bei mir, Anthagar ... das Denken kommt erst Wochen später *grins*

Aber die Geschichte ist schon sehr, sehr gut und spannend.

Ich freue mich auf jeden neuen Teil. *ja*
****ra Frau
2.917 Beiträge
Themenersteller 
Keine Ahnung, wie es Lysira macht, aber bei mir ist es so (und ich vermute mal, bei ihr dürfte es ähnlich sein): Aufhören zu denken und es einfach fließen lassen ...

danke Antaghar, ich hätte das wirklich nicht besser beschreiben können. Meist weiß ich nicht, wenn ich mit einer Geschichte anfange, wie sie endet. Ich bin dann jedesmal selbst überrascht wohin sich die Hauptdarsteller bewegen. Es ist selbst für mich spannend und immer wieder aufregend, zu sehen, was während des Schreibens aus mir fließt.

ich umarm Euch ganz doll, auch wenn ich momentan zu einer kleinen Zwangspause verdammt bin, eine verdammt böse *hexe* hat mich abgeschossen *traurig* und die Schmerzen lassen mich nicht lange vorm PC aushalten (bin richtig böse auf die *hexe* - ha, der werde ich ganz sicher ein eigenes Kapitel widmen, wenns mir wieder gutgeht *fiesgrins*.

jetzt will ich erst mal sehen, dass ich für nächste Woche fit werde - will unbedingt zum Treffen kommen - humpeln - egal..


Lys
****ra Frau
2.917 Beiträge
Themenersteller 
das nächste Mal kriegt Balthasar aber wieder Besuch *zwinker*

hier gehts weiter
****ra Frau
2.917 Beiträge
Themenersteller 
Die Wiege der Zeit 13

Balthasar fiel erschöpft zurück in den Schaukelstuhl und schloss die Augen. Er konnte sich noch ganz genau an diese Zeit erinnern, als er mit Dracnar die wundervollsten Momente erlebte. Die Pflege des zerbrechlichen Eis, das Schlüpfen des Drachenjungen und seine Aufzucht. Trauer überfiel ihn, als er in tiefen Schlaf sank. Seine Finger schlossen sich um das Heft, um es am herab gleiten von seinem Schoß zu hindern, dabei fuhren seine Finger zwischen die alten Seiten des Heftes.
Der kaum geöffneten Stelle des Heftes entstiegen Nebelschwaden, doch Balthasar bekam dies nicht mehr mit.

Er saß zwischen den mächtigen Stacheln seines inzwischen ausgewachsenen Drachen und ließ sich von ihm durch den grünen Himmel des Drachenlandes fliegen. Die schuppige Haut des Tieres passte sich hervorragend dem Wind an, der die beiden kaum zu berühren schien. Balthasar jauchzte vor Vergnügen, wenn Dracnar zu einem Sturzflug ansetzte, um kurz vor Erreichen des Bodens mit einem mächtigen Schwung erneut in die Wolken aufzusteigen. Dabei drehte er sich um sich selbst, so dass Balthasar sich in den Schuppen festkrallte und vor Glück fast weinte. „Juchuuuuu“ brüllte Balthasar, spürte den Wind an seinen Haaren zerren und Dracnar stieß fauchend eine kleine Rauchwolke aus, die Balthasar für kurze Zeit umhüllte und ihm die Sicht nahm. Ein großes Feuer hatte Dracnar noch nie wirklich gespien, waren diese Flammen ein Zeichen für seine Emotionen. Je erregter er war, umso größer die Flammen.
Für Balthasar hätte es ewig so weiter gehen können. Sein eigener Drache, sein Dracnar.

Als er ein junger Mann war, geschah es. Dracnar war verschwunden. Er unternahm oft allein lange Flüge, jedoch nur so weit, dass Balthasar ihn am Himmel erkennen konnte, in Rufweite für das scharfe Gehört des Drachen. Balthasar wartete zwei Tage, bevor er aufbrach, seinen Drachen zu suchen. Er ließ sich treiben, spürte die Verbindung in seinem Inneren zu Dracnar, folgte dem Band, das ihn zu seinem Drachen zog. Er durchwanderte die Schluchten der gebogenen Farne, deren rauschendes Meer ein unheimliches Summen hervorbrachte. Balthasar überquerte die Berge des kreisrunden Labyrinthes, das er damals bewältigen musste, während des Überganges vom Knaben zum Mann. Er lächelte bei der Erinnerung daran. Von außen erschien das Labyrinth ein einfacher Kreis zu sein, der leicht zu durchlaufen schien, doch sobald man sich hineinbegab, wurde man umfangen von einem Urwald, dessen Dickicht so undurchsichtig war, das man Angst bekommen konnte. Derjenige, der bereits am Eingang vor Angst stockte, musste wieder umkehren und es im nächsten Jahr erneut versuchen. Doch Balthasar schritt mutig hindurch und trat nach wochenlangem Umherirren als Mann aus dem Labyrinth heraus. Der darauf folgende Besuch im Dorf der Hexen gestaltete sich als lehrreich und weckte die Erkenntnis, dass ihm die Zeit Untertan war. In dieses Dorf wollte Balthasar nun, um Dracnar zu finden.

Der schmale Grat, der am Labyrinth auf der Spitze des Berges vorbei führte, brachte ihn auf direktem Wege in das Dorf. Sonne, Mond und Sterne begleiteten ihn auf seiner Wanderung, die jenseits aller Zeiten stattfand. Als sich das von ihm gesuchte Tal vor ihm eröffnete, hielt er an, stemmte er seine Hände in die Hüften und blickte tief einatmend hinab zu dem dunklen Wäldchen, in dem das Hexendorf lag. Der Abstieg wurde durch Balthasars Ungeduld beschleunigt. Diese Ungeduld sorgte dafür, dass die Landschaft an ihm vorbeizog, vor seinem Blick verschwamm und er nur noch das Ziel vor Augen hatte. Die zwei mächtigen Eichen, die den Eingang des Dorfes markierten. Wer nicht wusste, dass er zwischen diesen Eichen hindurchgehen musste, würde das Hexendorf nie erreichen. Selbst wenn er direkt im Dorf stehen würde, weil er zufällig diese Stelle im Wald passierte. Der Zugang blieb ihm verwehrt.
Balthasar hatte die Eichen erreicht. Strich zuerst über die knorrige Rinde des Baumes zu seiner Rechten, dann über den anderen und murmelte den Spruch, der um Einlass in den magischen Wald bat. Er trat einen Schritt zurück, dann erhellte sich zwischen den Bäumen der Weg. Licht fiel durch die wogenden Baumkronen und legte einen schnurgraden Pfad frei, dem Balthasar nun folgte. In diesem zeitlosen Raum wurden sämtliche Geräusche verschluckt, sogar seine eigenen Schritte hallten nicht wider. Balthasar huschte durch diesen Zeittunnel und schon stand er in der Mitte des Hexendorfes, dessen Hütten kreisrund angeordnet waren. Er wusste, an welche der weisen Frauen er sich wenden musste, und machte sich sofort auf den Weg zur Hütte der Hexe. Ihm war bewusst, dass seine Ankunft bemerkt worden war, noch bevor er den Zeittunnel betreten hatte und auch jetzt wurde jeder seiner Schritte beobachtet. Es kümmerte ihn jedoch wenig, er dachte nur an Dracnar.

Felicia öffnete die Tür ihrer Hütte, als Balthasar bereits seine Hand gehoben hatte, um anzuklopfen. Leise schabte das uralte Holz über den gestampften Boden, dann trat Felicia schweigend zur Seite und winkte Balthasar herein. Seine Augen mussten sich erst an das Dunkel gewöhnen, dann hellte sein Blick auf. Felicia war noch immer wunderschön. Eine Frau ohne Alter. Doch Balthasar wusste, dass sie bereits auf über tausend Jahre Dasein zurückblicken konnte. Balthasar war bei ihrer Geburt dabei gewesen.
„Ich grüße Euch, werter Balthasar“ und mit diesen Worten verneigte sich Felicia vor ihm. „Ich danke dir, Felicia. Du weißt, was mich zu dir geführt hat. Kannst du mir sagen, wo Dracnar ist?“ fragte er, während er die Hexe betrachtete. Sie hatte rabenschwarzes Haar, das hüftlang an ihrem schmalen Körper entlang floss. Ihre goldfarbenen Iris’, in denen sich kleine schwarze Pünktchen im Kreise drehten, schauten ihn ängstlich an. Sie verschränkte ihre langen Finger und legte ihre Hände auf ihren Rücken. „Ihr wisst, ich kann vor Euch nichts verbergen. Ja, ich weiß, wo sich Euer Drache befindet“ antwortete sie mit gesenktem Haupt, während sie nervös auf und ab schritt. „Xanira hält ihn gefangen…..“ flüsterte sie jetzt kaum hörbar. Balthasar zog scharf die Luft durch seine Nase ein und ließ sich auf eine kleine, grob geschnitzte Bank sinken.
„Verdammt“ murmelte er. „Was will sie von meinem Drachen?“ fragte er nun weiter. „Balthasar, bitte, beeilt Euch, wenn Ihr Euren Drachen lebend erreichen wollt. Ich kann nicht viel darüber berichten, Xanira hat sich von uns abgewendet, um der dunklen Seite zu dienen. Sie handelt im Verborgenen, keine von uns weiß, was sie wirklich tut“ riet Felicia dem jetzt zusammengesunken Balthasar. Sie legte zum Trost ihre Hand auf seine Schulter. Er spürte die Wärme der weisen Frau in seinen Körper eindringen, hob seinen Kopf und versank in den goldenen Spiegeln ihrer Augen. „Ich gehe!“ stieß er entschlossen hervor und erhob sich so ruckartig, dass Felicia zurückstolperte. Felicia zog sich einen unscheinbaren Ring vom Finger, um ihn über Balthasars kleinen Finger zu streifen. „Bitte tragt ihn, er kann wenigsten Euch vor dem Bösen beschützen“ sprach Felicia traurig. Balthasar dankte ihr mit einer kurzen Umarmung und trat bereits wieder aus der Hütte. Jetzt war die Mitte des Häuserkreises nicht mehr leer. Alle Hexen des Dorfes waren erschienen, murmelten zum Schutze Balthasars mächtige Worte, die ihn ergriffen und seine Haut zum Leuchten brachte. Er trat einen Schritt vor, als sich ein Weg durch den Wald bahnte, der ihn direkt zu Xanira bringen würde. Dieser Weg war dunkel, so dunkel, wie das, was ihn erwarten sollte. Er spürte das Böse, dem er sich mit jedem seiner Schritte näherte, doch auch spürte er die Anwesenheit seines Drachen. Das laute Schlagen des Drachenherzens erfüllte ihn. Balthasar wurde unruhig, wusste nicht, was dies zu bedeuten hatte. Er beschleunigte seine Schritte und im Bruchteil einer Sekunde hatte er die Höhle der Hexe erreicht. Hier waberte das Böse greifbar in der Luft. Schwarze Schatten zogen sich von den Wänden der Höhle zusammen um seine Ankunft lautstark kreischend zu verkünden. Aus den Tiefen des steinernen Gemäuers zuckten Flammen und ein schrilles Lachen ließ Balthasar erstarren. „Du willst also deinen Drachen zurück, dummer Junge?“ keifte die Alte, die jetzt zum Eingang der Höhle gehumpelt kam.

Auf einen Stock gestützt, der sich bei näherer Betrachtung als eine versteifte Schlange herausstellte, hob sich ihr Buckel in die Höhe. Die Hakennase zeigte pfeilförmig zu Boden, ihre schwarzen Augen waren überzogen von einem gräulichen Schimmer. Die Haut glich einer Kröte, bedeckt mit entzündeten Pusteln, die eine gelbliche Paste absonderten. Der Gestank ließ Balthasar zurückweichen. „Ja!“ antwortete Balthasar mit klarer Stimme und blickte sich in der Höhle um. Er suchte seinen Drachen. „Er ist hier, ganz nah“ kicherte die Alte und stierte Balthasar von schräg unten ins Gesicht. „Ich spüre ihn, wo ist er, verdammte Hexe? Was willst du von ihm?“
„Ha, ich brauche ihn. Ganz einfach. Wenn du ihn zurückhaben willst, musst du für Ersatz sorgen. Für Ersatz der Zutat eines meiner Gebräue. Such mir die Gwarnarknolle und du bekommst dein erbärmliches Schuppentier zurück“ röchelte die Hexe, drehte sich um und glitt zurück ins Dunkel der Höhle.
‚Die Gwarnarknolle, ich weiß wo es sie gibt, doch sie ist so selten, woher weiß ich, dass sie im richtigen Wachstumsstadium für die alte Hexe ist’ dachte Balthasar, als er erneut ihre Stimme vernahm, „Geh du Held, sie ist es. Bring sie mir“.

Damit war Balthasar entlassen. Er verließ diesen düsteren Ort und wollte sich auf den Weg machen, die Knolle zu besorgen. Er folgte seinem inneren Kompass und schlug einen Weg ein, der ihn zur Knolle führen würde. Doch dieser Weg würde lange Zeit in Anspruch nehmen. Diese Zeit konnte sogar er nicht verkürzen. Balthasar vernahm plötzlich ein Rascheln im niederen Dickicht, als er eine lispelnde Stimme hörte. „Hallo“ säuselte ein winziger Gnom. Balthasar musste genauer hinsehen, um dieses kleine Wesen in den bunten Farben des Waldes erkennen zu können. Jetzt blinzelte der Gnom kurz, damit gab er vollständig seine Konturen preis und trat näher an Balthasar heran. „Felicia hat mich geschickt, sie hat für dich die Gwarnarknolle besorgt. Sie wusste, du würdest sie brauchen“ mit dieser Aussage kramte der Gnom, dessen spitze Ohren bei jedem seiner Worte ein wenig flatterten, in seinem kleinen Lederwams und zog aus dem winzigen Beutel auf seinem Bauch, die Knolle hervor. „Hier, nimm sie, die Zeit drängt“ und schon presste der Gnom die Knolle in die Hand des verdutzten Balthasar, der seine Finger grade noch rechtzeitig um die Knolle schließen konnte. Der Gnom sprang kurz in die Luft, drehte sich dabei und sprang leichtfüßig durch das Unterholz des Waldes und war verschwunden. „Oh danke ihr Hexen, danke Felicia“ flüsterte Balthasar dem Gnom hinterher und machte kehrt, um zur Höhle zurückzukehren.

„Hier“ rief Balthasar laut in den Eingang der Höhle. „Was zum Teufel….“ schrillte es aus dem inneren des Steinberges zurück. Die Alte schoss aus ihrer Behausung und begutachtete aus zusammengekniffenen Augen das, was Balthasar ihr direkt vor die Nase hielt. Ein erstaunter Ausdruck huschte über ihr Gesicht „Ich weiß nicht, wie du das hingekriegt hast, aber gut, du hast sie gefunden. Gib sie mir“ und schon umschlossen ihren gichtigen Klauenfinger die Knolle, die die Form eine Drudenfußes hatte. Balthasar zuckte vor der Kälte dieser Berührung zurück. „Wo ist Dracnar?“ fragte er wütend. Die Hexe wedelte mit der Hand in die Richtung des Waldes. „Er ist angekettet am Baum der inneren Sehnsucht. Geh ruhig hin, ich folge dir gleich“ antwortete sie mit gierigem Blick auf die Knolle. Balthasar machte sich sofort auf, um zu Dracnar zu gelangen. Er war nervös, er spürte, dass sein Drache litt. So eilte er durch die Bäume, ließ sich vom Band zwischen Dracnar und ihm ziehen.

Noch bevor er Dracnar sah, hörte er ihn bereits. Ein schweres Keuchen und Röcheln begleitete jeden Atemzug, den der Drache nahm. Balthasar erschrak, als er Dracnar erreichte. Gebunden an leuchtenden Lichtfäden, war er bewegungsunfähig an dem Baum gefesselt. Das schimmernde Rubinrot seiner Schuppen war verblasst, das Opalisieren seiner Schwanzspitze ähnelte einer grauen Suppe, die fortgeschrittener Verwesung nahe kam. Dracnar hatte seine Augen geschlossen, versuchte seine Lider anzuheben, als er die Nähe seines Freundes wahrnahm. Trüb und gebrochen war sein Blick. Nicht mehr fähig seinen Kopf anzuheben. So begrüßte er mit einem tiefen Seufzer den Begleiter seines Lebens. Balthasar schrie wütend auf und wollte zurückstürmen um die Alte zur Rechenschaft zu ziehen. Doch sie stand bereits mit einem hämischen Grinsen neben den beiden. „Ich brauche sein Blut. Dieses wird meinem Trank die Macht verleihen, den Herrn der Finsternis auf mich aufmerksam zu machen. Und dein Drache war gesund und stark, die Energie, die ich ihm bereits entzogen habe, hat mir geholfen den Trank nun fast fertig zustellen. Es fehlt nur noch eine letzte Zugabe, die Wichtigste“ krächzte die Alte neben Balthasar. Dracnar hatte seinen Kopf ein wenig aufgerichtet und starrte aus schmalen Schlitzen seiner schweren Lider hasserfüllt auf die Hexe. Aus seinen Nüstern stieg Dampf empor, ein Zeichen seiner Wut, doch verpufften die kleinen Schwaden noch bevor sie die Hexe erreichen konnten. „Ha ha ha, du kümmerlicher Lindwurm, was willst du denn damit erreichen? Soll ich mir die Finger wärmen?“ gröhlte sie siegessicher. Balthasars Hände ballten sich neben seinem Körper zu Fäusten, doch musste er noch abwarten, bevor er handeln konnte.

„Du hast jetzt diese Knolle, also kannst du mir den Drachen zurückgeben“ forderte Balthasar unruhig, der spürte, wie der Herzschlag seines Drachen begann unregelmäßig zu stolpern. „Ja ja ja, nur nicht so ungeduldig, junger Balthasar“ wich die Alte aus und humpelte auf Dracnar zu. Balthasar trat von einem Fuß auf den anderen, er wollte seinen Freund endlich befreit sehen und dafür sorgen, dass es ihm wieder besser ginge. Er beobachtete die Alte ganz genau, die unverständliche Worte flüsterte. Die Lichtfesseln lösten sich zischend vom Baum und gaben Dracnar frei. Doch war er noch viel zu schwach, sich zu erheben. Nur langsam bewegte das Tier seinen schweren Körper, richtete sich vorsichtig auf, bis er wankend vor den beiden saß. Der schuppige Bauch des Drachen war leichenblass, das Herz schimmerte als pochende Masse in seinem Inneren. Balthasar spürte jeden Schlag des riesigen Organs in sich selbst vibrieren. Er bereitete sich vor, mit seinem Drachen nun den Heimweg anzugehen, als er erstarrte und auf das blickte, was passierte.

Die widerliche Hexe hatte ihren langen Stab wie eine Lanze ergriffen und flog auf das Herz des Drachen zu. „Die letzte Zutat. Ich brauche das Herzblut eines sterbenden Drachen“ schrie sie und rammte die versteinerte Schlange tief in den Leib Dracnars, genau an die Stelle, die eben noch das Blut durch seinen geschwächten Körper pumpte. Dracnars Kopf sank auf die Brust, seine Augen waren weit aufgerissen und er öffnete sein riesiges Maul. Zum ersten und letzen Mal in seinem Leben spie Dracnar das Feuer seiner Emotionen. Die rote Stichflamme ergriff die verblüffte Hexe und ließ sie im lodernden Feuertanz als lebende Fackel schreiend verbrennen.
Dracnar wankte noch einmal, dann fiel sein schwerer Körper auf die verkohlten Überreste des bösen Weibes, begrub sie unter sich.
Sein wunderschöner Schuppenkopf landete vor dem weinenden Balthasars, dessen Herz in diesem Moment aussetzte.
**********Engel Frau
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*heul2*
****ra Frau
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Die Wiege der Zeit 14



Balthasar schlug das Heft zu und wischte sich die Tränen ab, die hemmungslos über seine Wangen liefen. „Dracnar, mein Drache“ flüsterte er mit erstickter Stimme. Er streckte sich in seinem Stuhl, seine steifen Gelenke knackten, dann erhob er sich und schritt an das winzige Fenster in der Dachschräge. Er hielt das Heft weiterhin zwischen seinen Fingern, die sanft über den Einband strichen, als müssten sie für Beruhigung zwischen den beschriebenen Seiten sorgen. Balthasar blickte durch das angelaufene Fenster hinaus in die Ebenen des Landes ohne Zeit. Hier gab es weder Jahres- noch Tageszeiten. Müsste man das, was er dort betrachtete beschreiben, würde man es mit der Dämmerung in der Menschenwelt vergleichen können.
Hier, im Land ohne Zeit jedoch, gab es keinen Horizont, kein wahres Licht. Der Blick driftete in die Unendlichkeit und gleichzeitig war er gefangen in einem diffusen Schimmer, der direkt vor dem Betrachter endete. Wer die Hand danach ausstreckte, würde die Zeit berühren. Leben gab es hier nur wenig und sehen konnte man es nur, wenn es Zeit dafür war. Daher verlor sich Balthasars Blick in dem watteweißen Zeitgespinst, das seine Form änderte, sobald man nur blinzelte. Die nächste Landschaft, die sich auftat, wenn man seine wieder Augen öffnete, war eine unbekannte. Verlaufen konnte man sich hier jedoch nicht, denn es gab kein örtliches Ziel, sondern ein zeitliches. Und dieses erreichte man nur, wenn man seinen Wünschen folgte.

Balthasar hing diesen Gedanken nach, schmerzte doch der Verlust seines Drachen auch noch nach dieser unendlich langen Zeit. Er lehnte seine Stirn an das warme Holz der Dachschräge, atmete das harzige Aroma ein und schloss seine Augen. Sein Daumen rieb erneut über den Einband des Heftes und seine Erinnerung kehrte wieder.

Der Moment als Dracnar zu seinen Füßen starb, ließ auch in ihm ein großes Stück seines Selbst sterben. Er wollte schreien, doch dieser Anblick schien so unwirklich, dass er glaubte, in einem Alptraum gefangen zu sein. Erst als der tote Drachenleib anfing zu glühen, wusste er, dass das eben Geschehene tatsächlich passiert war. An der Stelle, an der das durchbohrte Herz des Drachen saß, leuchtete ein gleißendes Licht auf, das den Drachen von innen erhellte. Es lief über den dornenbesetzten Rücken entlang, hinauf zum Kopf bis hinunter zur Schwanzspitze. Verteilte sich über den mächtigen Leib und endete in den verkrampften Fängen des toten Tieres. Balthasar musste die Augen schließen, so grell glühte sein Drache nun auf.
Von weitem drang ein Rauschen an Balthasars Ohr, das er nicht einordnen konnte. Als er seine Lider vorsichtig öffnete, sah er einen Wirbelsturm auf sich zukommen. Die Spitze des Windkreisels saß wie ein Fuß auf dem Boden, der ihn direkt zu Balthasar führte. Das Tosen des Windes wurde lauter, Balthasars Haare wirbelten um seinen Kopf, die Böen rissen an seiner Kleidung, die knatternd der Luftgewalt nachgab. Balthasar wankte, als ihn die Energie des Windes erfasste, doch, als hätte das Wesen bemerkt, dass Balthasar nicht das war, nach dem es suchte, zog es sich zurück und glitt sanft über den toten Leib des Drachen, der inzwischen schimmerte, als wäre er mit Gold überzogen. Der Fuß des Windkreisels suchte die Schwanzspitze des Drachen, setzte sich vorsichtig darauf und schwebte über dem Körper Dracnars. Balthasar blieb nichts übrig, als dieses Schauspiel weiter zu beobachten. Das Heulen des Windes war ohrenbetäubend, es klang wie das Klagen tausender Münder. Fast zärtlich glitt der Wirbelsturm über den goldenen Drachen, der langsam seine Konturen verlor. Wie in einem Zerrspiegel verschob sich der Körper des Tieres.

Balthasars Herz verkrampfte sich bei diesem Anblick. Jetzt würde er seinen Jugendfreund für immer verlieren. Diese Zeremonie dauerte nicht lange, dann hatte sich Dracnar vollkommen verwandelt. Balthasar glaubte eine kleine Feuerwolke aufsteigen zu sehen, kurz bevor der große Wirbelsturm abdrehte und zurück in die Ferne verschwand. Das laute Tosen nahm er mit, und der kleinere Wirbelsturm summte unsicher, als wüsste er noch nicht genau, wie er sich drehen sollte. Er schien zu zögern, wollte sich nicht von Balthasar lösen, der den Verlust seines Freundes körperlich spürte. Der Wirbel schob sich auf seinem schlauchartigen Fuß an Balthasar heran. Erneut stiegen diesem die Haare zu Berge, Luft zerrte an seiner Kleidung. Balthasar fühlte sich eigenartig umhüllt von diesem Luftwesen, seine Traurigkeit verschwand mit jeder Umdrehung des Sturmes. Dracnar sog den Schmerz der Trauer aus seinem Freund, dem er sein Leben zu verdanken hatte. Mit einer letzten schnellen Umdrehung, die wie das vertraute Fauchen des Drachens klang, ließ er Balthasar frei und folgte dem großen Wirbel ins Nirgendwo.

Balthasar richtete sich auf und blickte erneut aus dem Fenster. Er lächelte, als ihm diese Erinnerung aufzeigte, dass er Dracnar nicht verloren hatte. Der kleine Wirbelsturm schaffte es immer wieder, durch den Tunnel der Zeit zu reisen, um ab und zu für ein kleines Durcheinander in der Bibliothek zu sorgen. Für wenige Sekunden waren sie in diesen Momenten wieder vereint. Dracnar und Balthasar.

Mit leichtem Herzen atmete Balthasar tief ein, legte das Heft zurück an seinen Platz und schritt aus der Kammer. Die Tür öffnete und schloss sich, verschwand danach sofort im Nichts, als Balthasar den Tunnel der Zeit betrat. Diesmal schritt er schneller aus, er wollte zurück in seine Bibliothek. Viele Jahrtausende ließ er im Eilschritt hinter sich, als er schwer atmend das Treppengeländer seiner Empore erreichte.


© Lys
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Die Wiege der Zeit 15


Am Treppenansatz angekommen, ordnete Balthasar seine Kleidung, strich sich durch das wirre Haar, rückte seine Brille auf der Nase zurecht und stieg langsam die knarrenden Stufen hinab. Mit jeder weiteren Stufe fühlte er sich leichter, freute sich auf den nächsten Besuch seines Drachen, der bald wieder erfolgen würde. Zuversicht und Hoffnung würden ihn stets begleiten.

Für Balthasar spielte Zeit keine Rolle, daher fühlte er sich frisch und erholt nach diesem Erlebnis der Vergangenheit. Nun wollte er sich mit etwas befassen, das sich viele tausend Jahre nach Dracnar ereignet hatte. Er bettete die Erinnerung an damals tief in seinem Herzen ein, so konnte er sich seinen Büchern unbelastet widmen. Balthasar blickte hinauf zur Kuppel, die Sonne strahlte so hell, wie sie selbst in der Karibik nicht strahlender scheinen konnte. Dabei kam ihm die Idee, wen er zu sich einladen wollte. Er drehte sich um, erreichte das Regal, in dem der dünne Band zu finden war. Hellblau wie der Himmel über ihm, gab der Einband den Titel in weißen Lettern preis. Balthasar nahm auf seinem Sessel Platz, räusperte sich kurz, dann schlug er das dünne Buch auf.

Er lauschte den Schritten, die schwerfällig klangen, als der Besucher dem langen Gang folgte. Er stoppte kurz als er die erste Stufe erreichte, ächzte leise und begann die Treppe hinabzusteigen. Hielt zwischendrin an, so dass Balthasar schon befürchtete, sein Gast hätte es sich anders überlegt, doch schon ging es weiter. Tapp, Tapp, Tapp. Dann kam er direkt auf Balthasar zu. Den Kopf traurig gesenkt, so dass Balthasar die hohe Stirn mit dem schütteren Haaransatz noch vor dem Gesicht des Gastes betrachten konnte. Die Brille, die auf der Nase saß schimmerte metallisch.
Hinter dem rechten Ohr klemmte ein kurzer Bleistift. Leichte Leinenkleidung hüllte den alten Mann ein, dessen ganze Ausstrahlung Hoffnungslosigkeit ausdrückte. Seufzend plumpste der Mann auf die kleine Bank gegenüber Balthasars Sessel. Dann erst nahm Balthasar wahr, was der Gast in seiner Hand hielt. Er zuckte zusammen, doch noch bevor er etwas äußern konnte, hob sein Gast den Kopf.
„Alles Mist. Es reicht. Es will einfach nicht kommen, das Schreiben. Alles was du tun musst, ist einen wahren Satz zu schreiben. Doch selbst das kann ich nicht mehr“ begann der Mann zu sprechen. Balthasar blickte ihm in die Augen, unter denen sich Tränensäcke gebildet hatten. Eine grade geschnittene Nase saß über einem strohweißen Schnauzbart, der Vollbart um den strengen Mund hatte die gleiche Farbe und zog sich bis zu den Ohren. Da sein Gast nicht auf eine Begrüßung zu bestehen schien antwortete Balthasar: „Je mehr du es willst, umso mehr entzieht es sich dir. Setz dich nicht unter Druck, und es wird wieder kommen.“ Dabei versuchte er zu lächeln, doch das erstarb sofort, als er in die Augen seines Gegenübers blickte. Hoffnungslosigkeit, Schmerz und Trauer zeichneten sich darin ab.
„Nein. Nicht bei mir. Ich habe mein ganzes Leben danach getrachtet, danach gehofft, zufrieden zu werden. Doch schon als Junge wurde mir Leichtigkeit versagt. Mein Vater, der Tyrann, duldete keine Träumereien. Noch heute schmecke ich die Seife, mit der er mir den Mund auswusch. Selbst verklemmt und fanatisch religiös, machte er uns allen das Leben schwer. Bis er sich selbst erschoss war das Leben meiner Angehörigen eine Folter.“
Seine freie Hand schob die Brille auf die Stirn, strich grob über sein Gesicht, drückte seine Augäpfel, rieb sich den Nasenrücken und zog die Brille erneut auf die Nase. Balthasar wollte antworten, doch sein Gast setzte wieder an:“Was ein Schriftsteller ausdrücken will, muss der Leser sehen, fühlen, riechen, hören können. Doch wie soll ich das noch hinbekommen, wenn ich mich innerlich tot fühle? Gertrude sagte mir einst, dass Geschichten, die nur Bemerkungen enthielten, keine Literatur seien. Ich fühle mich nicht mehr imstande auch nur etwas Sinnvolles zu schreiben. Ich befürchte, es würden nur mehr Bemerkungen meines Selbst entstehen. Die habe ich zwar stets in meinen Geschichten versteckt, doch jetzt? Ich schaffe das nicht mehr. Das Schreiben als Selbsttherapie ist für mich verloren.“
Erneut sank sein Kopf auf die Brust. Jetzt stand das Mitbringsel zwischen seinen Beinen auf dem Boden. Er drehte es gedankenverloren zwischen seinen Händen hin und her. Balthasar spürte, dass sich Schweiß in seinem Nacken sammelte und langsam über die Wirbelsäule seinen Weg hinab suchte. „Nie konnte ich mich wirklich ausleben. Zu sehr wurde bereits in meiner Kindheit dafür gesorgt, dass ich mich anpasse. Eine zivilisatorische Unterdrückung im Namen von Anstand und Moral. Auch meine Frauen halfen mir nicht wirklich bei meiner Triebentfaltung. Sie waren zu stark für mich. Bevor sie mich verletzen konnte, verließ ich sie lieber. Macho eben.
Freude machte mir das Fischen auf Havanna. Oh ja. Marlinfischen. Das waren die wenigen Momente, in denen ich glücklich war. Die Jagden in Afrika erreichten dies zwar auch, doch musste ich dort stets Mann sein. Wie satt ich das habe. Ich bin zerbrochen daran, der zu sein, den man von mir erwartete. Ich kann nicht mehr der Macho sein, den die Presse aus mir machte. Bin ich noch ein ganzer Mann? War ich es jemals?“
Balthasar wusste keine Antwort auf diese wohl auch eher rhetorische Frage. „Die provozierten Prügeleien in den Bars, wenn ich betrunken war. Ja, da konnte ich noch den Mann aus mir lassen, aber sonst? Sogar körperlich kann ich meiner Mary nicht mehr das geben, was ein Mann tun sollte.“
Balthasar erschreckte die tiefe Bodenlosigkeit in den Gedanken seines Gastes. „Aber überlege doch. Du hast doch viele tolle Erfolge. Zählen diese denn gar nicht? Das was du den Menschen mit deinen Geschichten gegeben hast? Ich denke da an den alten Mann…..“
„Ach der. Ja. Natürlich gaben mir die Erfolge etwas. Doch überlege, in der Geschichte des Alten. Der erbeutete, große Fisch, der an der Seite des Bootes befestigt war. Zerfleischt von Haien. Erst ein dicker Fang, ein toller Erfolg, der gnadenlos zerrissen wurde. Und genau so macht es die Presse! Erst loben sie dich, dann zerreißen sie dich.“

Jetzt griff seine Rechte nach dem Objekt, das er umklammerte, und das Balthasar so nervös machte. Der Mann legte es sich über die Oberschenkel und blickte auf. „Die ganzen Therapien… sogar Elektroschocks bekam ich. Nichts half wirklich. Der Alkohol tat sein übriges. Was habe ich noch für Perspektiven? Einen Nobelpreis habe ich bereits erhalten, auch wenn ich das Gefühl habe, ihn nicht wirklich verdient zu haben. Die zahlreichen Unfälle in meinem Leben haben meinen Körper zerstört. Meine Seele ist schon lange dahin. Also – was soll’s….“

Mit diesen Worten, die er zum Schluss immer leiser aussprach, sprang er erstaunlich behände von der Bank auf.
Balthasar zuckte vor Schreck zusammen. Blitzartig erhob auch er sich, dabei rutschte das Buch von seinem Schoß und fiel zu Boden, um sich langsam zu schließen. Doch sogar dies geschah zu schnell für Balthasar. Er sah noch, wie sein Gast die Läufe der Schrotflinte in sein Gesicht hielt und den Abzug umfasste.
Balthasar hatte das Gefühl sich in zäher Zeitlupe zu bewegen.
Bevor er Ernest erreichen konnte, um ihn davon abzuhalten, löste dieser sich auf. Nur noch der Nachhall des Schusses wehte durch den Nebel in Balthasars Bibliothek.

© Lys
Kurze Geschichten
Ich mag Kurzgeschichten sehr.
Aber eben kurze. Die obenstehende ist schon fast ein Roman.
Da fehlt mir einfach die Zeit, das alles zu lesen.
Da weiß ich Rat: Immer post für post lesen.
**********Engel Frau
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Gruppen-Mod 
Tja, schade für Dich, wenn Du die Zeit nicht findest. Es entgeht Dir etwas Tolles.

Aber dann lass es einfach - ich lese auch nicht alles.
Nur bei dieser Geschichte... da warte ich schon immer ungeduldig auf die Fortsetzung *g*

@**s...
Wieder mal ganz wundervoll... danke für diese weitere kleine Reise!

LG Gabi
Ich warte auch immer mit Spannung darauf, wie es weiter geht!

Luna
****ra Frau
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Themenersteller 
so, Ihr Lieben. Das Ende naht. Ich bin zwar noch unentschlossen, aber vermutlich werde ich nicht mehr weiterschreiben - zumindest die nächsten Teile nicht hier einstellen *snief*

Ich möchte diese Geschichte gern veröffentlichen, wenn sie denn in Zukunft fertig sein wird, und möchte natürlich nicht bis zum Schluß hier alle Teile eingestellt haben. Auch wenn mir Euer Feedback gutgetan hat, hilfreich war und mich ermutigt hat, weiter zu schreiben, fällt es mir ziemlich schwer, es nicht mehr zu tun.

Einen letzten Teil schenke ich Euch noch *g*

Lys
****ra Frau
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Die Wiege der Zeit 16

Balthasar konnte sich nicht vom Fleck rühren. Wie versteinert stand er da und starrte auf die Stelle, an der Ernest in seinen Tod verschwand. Als er sich bückte, um die Biografie des berühmten Schriftstellers aufzuheben, spürte er, dass die Raumtemperatur merklich sank. Kurz schloss er seine Augen um sich für das zu wappnen, was nun auf ihn zukommen würde. Das Absinken der Temperatur kündigte nur den einen, besonderen Besuch an.

„Ja genau, alter Mann. So ist es!“ schnitten die Worte durch die abgekühlte Luft. Balthasar fror entsetzlich. Er erhob sich langsam, umklammerte das kleine Buch und schlang seine Arme um den Oberkörper im Versuch, sich ein wenig zu wärmen. Gemächlich drehte er sich um, auf der Suche nach seinem neuen Besucher. An ein Regal gelehnt stand sie da. Eine Gestalt, selbstsicher und energiegeladen. Da Balthasar selbst im Licht stand, sein Gast im Dunkel unter der Empore, konnte er nicht sofort erkennen, wen er vor sich hatte. Balthasar wurde immer kälter. Mit steifen Fingern legte er das Buch auf den kleinen Tisch neben seinem Sessel und bemerkte erstaunt, dass die Platte des Möbels mit einer dünnen Eisschicht überzogen war. Eine weiße Dampfwolke stieg vor seinem Gesicht auf, als er heftig ausatmete. Er zitterte und seine Zähne begannen zu klappern, als er sich fast steif gefroren in seinem Sessel niederließ. Das kalte Leder schien für einen kurzen Moment seinen Rücken zu lähmen, als er sich an die Lehne drückte. Sein Blick kroch zäh über seine geliebten Regale und wollte es kaum glauben, was er sah. Sämtliche Regale und somit auch die Bücher waren vereist. Eingefroren in glasklares Eis, das sich wie ein Panzer um jeden einzelnen Band gelegt hatte. Gedanken rasten durch sein Hirn, was würde wohl mit seinen Büchern passieren, wenn dies taute? Das Wasser würde das empfindliche Pergament zerstören, die Worte in uralter Tinte niedergeschrieben würden verwischen….
„Verdammt, kannst du an nichts anderes denken, als an deine gammeligen Bücher?“ riss ihn erneut die Stimme des Gastes aus seinen Gedanken. Balthasar war kaum mehr in der Lage seinen Körper zu bewegen, einzig die Augen gehorchten seinem Willen. Diese zeigten ihm, dass das gleiche Eis, das seine Bücher umhüllte, anfing an seinen Füßen empor zu wachsen. Jetzt erreichte es seine Waden, kroch hinauf über seine Knie und fraß sich auf seinem Körper weiter nach oben. Balthasar schrie. Zumindest glaubte er dies. Doch waren seine Muskeln bereits gelähmt, während ihn dieser Eiskokon umhüllte.
„Nur so kann ich sicher sein, dass mir deine gesamte Aufmerksamkeit gehört und ich mit Nachdruck vermitteln kann, was mein Gebieter von dir verlangt“ erklärte der Besucher, der sich langsam aus dem Dunkel schälte. Balthasar beobachtete die Gestalt, die mit eleganten Schritten in das Licht trat. Unter der Kuppel angekommen konnte Balthasar nicht anders, als diese Person gebannt anzustarren. Inzwischen hatte das Eis seine Schädeldecke und Hinterkopf erreicht, wo es in seinem Fluss stoppte und knirschend aushärtete. Es ließ gnädigerweise das Gesicht frei, so dass er noch atmen und sehen konnte. Sein Gast trat näher an Balthasar heran, der kaum glauben wollte, was sich ihm darbot.
Die Frau, die vor ihm stand war gekleidet in einen hautengen, schwarzen Lederanzug. Nein, doch nicht. Sie trug ein rosa Kleid mit einem Rüschenkragen. Balthasar blinzelte verwirrt und schon zweifelte er an seinem Verstand, als er sie erneut ansah. Sie trug einfache Jeans, einen weiten, beigefarbenen Pullover. Jetzt ein violett schimmerndes Paillettenkleid, um sofort in ein graues Businesskostüm zu wechseln. „Ha ha ha“ lachte sie kehlig. „Ich liebe es immer wieder, diese Reaktion an euch armseligen Menschenwürmern zu beobachten; eigentlich stehe ich völlig nackt hier vor dir. Du willst es nur nicht sehen. Mein Äußeres spiegelt deine eigenen Fantasien wider. Du siehst nur das, was du an mir sehen möchtest, kannst dich jedoch nicht wirklich entscheiden“ erklärte sie mit lasziv rauer Stimme. Sie schritt vor Balthasar auf und ab, und hörte nicht auf, sich wie ein Chamäleon zu wandeln.

Eben noch trug sie einen rot schimmernden Latexbody mit halsbrecherisch hohen HighHeels, jetzt ein uriges Dirndl. Sogar ihre Frisur und Haarfarbe passte sich dem entsprechenden Outfit an. Es vollzog sich so schnell, dass Balthasar glaubte, er würde sich dies alles nur einbilden. „So ist es auch, mein armer verwirrter Hüter der Zeit“ grinste sie und beugte sich zu Balthasar herab. Ein leichter Schwefelhauch begleitete diese Bewegung und ließ Balthasar würgen. „Na na na, wer wird denn gleich?“ lachte sie und strich mit ihrer eisigen Hand über Balthasars Wange. Selbst durch seine kalte Haut konnte er spüren, dass ihre Haut um ein Vielfaches kälter war, als seine.
„Ich werde mich wohl besser erst mal vorstellen. Wir haben ja alle Zeit der Welt – nicht wahr?“ fragte sie, als sie sich wieder aufrichtete und ihren kalten Blick auf ihn warf. Balthasar versuchte zu nicken, doch der feste Eispanzer hielt ihn in dieser einzigen Position, die möglich war. „Ich bin Gabriela. Der Lieblingsengel meines Herrn, was ich mit Stolz behaupten darf. Du kannst Dir denken, weshalb er mich zu dir schickt. Deine ständigen Spielchen mit der Zeit, mit deinen Büchern und den Besuchern. Du solltest dich mehr deiner wirklichen Aufgabe widmen. Mein Gebieter wartet noch immer auf die nächste Verteilung der Zeit. Mir scheint, du wirst langsam alt und vergisst über deine Trödeleien deine Pflichten.“ Sie stützte ihre Arme, die jetzt in langen Satinhandschuhen steckten in ihre Wespentaille, die durch ein reichverziertes, brokatbesticktes Korsagenkleid geformt wurde. Ihr vollkommenes Gesicht verzerrte sich für eine Sekunde und Balthasar konnte ihre wahre Gestalt erkennen: einen kahlen Schädel mit dunklen Augenhöhlen, ein graues Knochenskelett, an dem verwesendes Fleisch in Fetzen hing.
Jede ihrer Bewegungen ließ erneut Schwefeldampf aufsteigen, der Balthasar die Luft raubte.
„Mein Herr hat dir nicht verziehen, dass er Michelangelo wegen dir in die ‚Tausendjährigen Qualen’ schicken musste, zur Strafe für sein Versagen bei Merlin. Und auch ich habe ein ganz persönliches Interesse an seiner Rache. Ich muss durch diese Tatsache ziemlich lange auf meinen Geliebten verzichten.“
Bei diesen Worten verzerrte sich ihr Gesicht, Wut kochte darin, weißglühende Flammen stiegen aus dem Kragen ihrer blutroten Lederjacke und begannen die Haut zu verzehren. Gabriela hob ihre Hand, strich kurz über ihr Gesicht und sofort erloschen die Flammen. Jedoch hatten die kleinen tanzenden Feuergeister bereits Spuren in Form von schwelenden Löchern in ihrer Haut hinterlassen. Das schien Gabriela nicht weiter zu stören. Sie lief jetzt erregt vor Balthasar hin und her und gestikulierte großzügig. „All das hier, wie kannst du dies über alles stellen, was wirklich wichtig ist? Ach, was mühe ich mich hier eigentlich ab. Du kannst mir nicht antworten, aber nur deshalb, weil ich es nicht will. Weshalb sollte ich mir das sentimentale Gewinsel eines alten Mannes anhören. Hör zu, Unseliger. Mein Herr verlangt, dass du die nächsten Kapitel in den Folianten schreibst. Ich habe den Befehl, dir bis zur Erledigung zur Seite zu stehen. Ja, ich weiß….“ sie verdrehte genervt die Augen „du kannst in diesem Zustand nicht schreiben, doch bin ich nicht blöd, ich werde schon dafür sorgen, dass du es kannst. Sieh her!“ befahl sie und stieß ihre Hand mit den langen, schlanken Fingern in die Höhe. Deutete auf das Regal in dem der Foliant der Ewigkeit stand. Unter den Reihen der eingefrorenen Bücher hob sich der große Foliant ab, indem er dampfte. Das Eis hatte keine Chance, sich auf die gegerbte Haut zu legen, die wie im Fieber zu glühen schien. Es wich zischend vor dem Leder zurück, kondensierte sofort.
Eine kleine Handbewegung Gabrielas brachte den Folianten dazu, sich aus dem Regal zu schieben, unterlegt von einem leichten Schaben. Dann erhob sich der kiloschwere Band und schwebte scheinbar schwerelos auf Balthasar zu. Der schwach schimmernde Lichtstrahl, auf dem das Buch schwebte, bildete eine stabile Unterlage vor Balthasar, der seine Augen auf den Folianten heftete, als dieser vor ihm zu liegen kam. Ein wenig bewegte sich der Band auf und nieder, als würde das Licht pulsieren und diese Bewegung an das Buch weitergeben. Mit einem fragenden Blick starrte Balthasar Gabriela an, die auf ihn zukam.
„Hier“ stieß sie laut hervor und mit einem Ruck öffnete sich raschelnd der Foliant und die großen Pergamentseiten, beschriftet mit den schrecklichen Ereignissen des Schicksals, blätterten bis fast ans Ende des Buches. Balthasar spürte den Lufthauch, den dieses Blättern verursachte und schloss kurz die Augen, um der Kälte zu entgehen, die diesem entströmte. Als er sie wieder öffnete, tränten sie, so beißend hatte sich die Kälte inzwischen in seinen Körper gefressen. Die Tränen gefroren sofort und fielen als gläserne Perlen zu Boden, auf dem sie klirrend zersprangen.
Gabriela beugte sich zuckersüß lächelnd über den Bibliothekar und leckte mit einer erstaunlich heißen Zunge über dessen Gesicht. „Nun? Ist das besser?“ flüsterte sie mit ihrer tiefen rauchigen Stimme direkt in sein Ohr. Sie war in diesem kurzen Moment wie eine griechische Göttin gekleidet. Balthasar spürte ein höllisches Brennen in seinem Gesicht, das einer noch viel schlimmeren Kälte wich. Klirrend verwandelte sich ihr Speichel in winzig kleine Eiskristalle, die sich in seine Haut bohrten. Sie lachte genüsslich, streckte sich und Balthasar erhaschte einen Blick auf ihr Nonnengewand.
‚Das sind alles meine Fantasien, all diese Kleidungsstücke?’ fragte sich Balthasar trotz seiner ausweglosen Situation. „Ach alter Mann“ rief Gabriela und hielt sich vor Lachen den Bauch, der in einem mittelalterlichen langen Kleid steckte. „Du glaubst mir nicht? Aber das kann mir nur Recht sein. Warum sollte mir deine Sympathie etwas wert sein?“ fragte sie mit eisigem Blick. „Doch kommen wir nun zur Sache.“
Mit diesen Worten näherte sie sich Balthasar und strich mit ihrem Zeigefinger über die Stelle des Eises, unter der sich Balthasars rechter Arm befand. Zischend verdampfte das Eis an dieser Stelle, bis sein Arm zum Vorschein kam und er ihn bewegen konnte. Gabriela ergriff seinen Unterarm, drehte die Innenseite nach oben und blitzschnell stieß sie einen spitzen, gewellten Dolch in seinen noch unterkühlten Arm. Nur langsam quoll sein kaltes, zähes Blut aus der Wunde, sammelte sich und lief wie von Zauberhand in Richtung seiner Hand, an der sich sein Zeigefinger ausgestreckt hatte und von einer dünnen Eisspitze umhüllt war. Darin begann sich das Blut zu sammeln.
„Na los! Worauf wartest du noch? Schreib! Mein Herr hat nicht mehr viel Geduld mit dir“ keifte Gabriela.
In diesem Moment, als Balthasar die Spitze des Eisfingers auf das Pergament setzte, stoppte ihre wundersame Verwandlung. Eben noch trug sie ein hellblaues Kleid im Stile Jackie Onassis auf ihrer samtenen Haut, so zeigte sie jetzt ihre wahre Gestalt. Balthasar konnte nicht anders, als dieses Monster näher zu betrachten. Nicht nur das Skelett mit dem verwesenden Fleisch entlockte ihm einen tiefgründigen Ekel. Als er genauer hinblickte erkannte er zwischen ihren Rippen sich windendes Gewürm, das von grünlichem Schleim umgeben war. „Mein Frühstück!“ grinste Gabriela nur und tippte mit ihrem knochigen Finger auf Balthasars Hand. „Schreib!“ zischte sie aus ihrem zahnlosen Kiefer hervor.
Balthasar blickte auf den Folianten und zuckte zusammen, als er erkannte, dass sein noch immer fließendes Blut eine riesige Lache auf dem Pergament hinterlassen hatte. Ihm wurde schwindelig bei dem Anblick seines eigenen Blutes und vor allem noch in dieser Menge. „Ich…“ krächzte er hilflos „mir wird übel, Gabriela“ stammelte er und ihm wurde schwarz vor Augen, als sie forderte: „Schreib! Sobald du die ersten Worte niedergeschrieben hast, wird der Blutfluss stoppen. Vertrau mir“ lächelte sie zahnlos und Balthasar entging nicht der hämische Unterton in ihrer Stimme.
So atmete er tief ein, setzte seine zitternde Hand ein wenig weiter unter dem Blutfleck an und begann zu schreiben. Zufrieden wie eine Katze die an einem Sahnetöpfchen schleckte, beobachtete Gabriela, wie Balthasar mit jedem Wort, das er ins Pergament kratzte schwächer wurde. Er selbst bemerkte nicht mehr, wie sich seine Wunde immer weiter öffnete und das Blut aus seinem eisigen Körper gepumpt wurde.

© Lys 11/2010
Wieder mal erste Sahne, Lysira *top2*

Wenn es als Buch erscheint, dann schreib mich bitte an. Ich muss unbedingt weiter lesen.

LG. Luna
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Ich auch!

(Der Antaghar)
**********Engel Frau
25.832 Beiträge
Gruppen-Mod 
Ich auch!!

Du darfst uns da jetzt nicht hängen lassen. *g*

LG Gabi
Will auch!
Los her
mit der
ISDN
weill ich sonst flenn

*heul*laf
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