Das Zimmer meiner Mutter
Am Anfang dachten wir Kinder: das wird sie nicht lange aushalten!Die Farbe war ja auch ziemlich gewagt, das kräftige, tiefe Orange, mit dem sie die Wände ihres Arbeits-und Schlafzimmers damals nach dem Einzug anpinselte. Ich weiß noch, dass sie dabei immer wieder einen traurigen Song spielte, mit der Textzeile: ...cause I need more colour in my life.
Aber dann gewöhnten wir uns nicht nur an die Farbe, sondern erkannten, wie viel Wärme sie gab. In Mutters Zimmer schien immer die Sonne, auch an trüben Tagen. Und ihre Lieblingsbilder – Frauen in verschiedenen Posen - in öligen Braun- und Gelbtönen passten hervorragend zu diesem Hintergrund. Wie auch ihre Holzmöbel.
Zwei große Schränke, voll mit Kleidern aus mehreren Jahrzehnten, die ein Fundus für besondere Gelegenheiten waren.
Ihr Schreibtisch war immer etwas unordentlich: ungeöffnete Post, weil sie keine Lust auf Rechnungen und offizielle Schreiben hatte; unsere Schularbeiten, die sie korrigierte und unterschreiben musste; dazwischen Nähzeug, Nagellack, Haarklammern und Ohrringe. Und immer eine Teetasse mit einem vertrocknenden Rest am Boden. Ebenso beständig ein Päckchen Zigaretten. Ein wenig kalte Asche fand sich überall, auch in den aufgeschlagenen Seiten eines Buches.
Bücher hortete Mutter in Stapeln: im Regal, das sich unter der Last schon bog, auf der Kommode, dem Nachtisch. Mutter ohne Buch war undenkbar. Für alles hatte das Passende. Ging es um Wissen, schleppte sie Nachschlagewerke an, Gedichte nahm sie wie Nahrung zu sich und für jede Lebensangelegenheit zitierte sie ihre Lieblingsautoren. Wichtige Zitate klebten auch mal an Wänden, Türen und Spiegeln.
Das Bügelbrett stand meistens mitten im Zimmer. Sie war eine von denen, die sogar die Küchentücher noch faltenfrei dampfte. Wenn wir das Frühstück oder Abendessen bei ihr einnahmen, diente es auch als Anrichte, die wir vor das Bett schoben. Denn wir aßen im Bett.
Mutters Bett war der beste Ort im ganzen Haus. Darin wurde nicht nur geschlafen; wir schauten dort fern, wir aßen, wir redeten, wir wärmten uns.
Die wichtigsten Gespräche und der größte Kummer wurden darin behandelt. Mutter wusste schon: kam einer zu ihr und rollte sich ins Bett, dann musste sie Zeit haben. Ein offenes Ohr und Verständnis.
Wer bis in ihr Zimmer, bis in ihr Bett kam, war kein Fremder mehr. Das lernten auch ihre Männer schnell: sie gehörten dann zur Familie – und die Familie zu ihnen. Und nur wer das aushielt und mochte, der passte zu uns.
In Mutters Zimmer war immer Licht, Wärme und Platz. Kein Gedanke konnte mir so viel Kraft und Trost spenden wie das Wissen um diesen Raum.
©tangocleo 2010