Am Fenster
Ich stehe am Fenster und sehe Dir nach. Es regnet und es wird schon dunkel. Ich kann noch Deine Umrisse erkennen, als Du in Deinen Wagen steigst. Die Rücklichter leuchten auf, Du lenkst den Wagen aus der Parklücke. Langsam rollst du auf die Ampel zu. Noch ist sie rot und ein wenig bist Du noch hier, bei mir. Dann springt das Licht um, es wird grün, und Meter um Meter legt sich zwischen uns. Du fährst nach Hause. Zu ihr. Irgendwie spüre ich heute jeden dieser Meter, als würden Ringe aus Eisen um meinen Brustkorb gelegt. Einer pro Meter. Enger und enger. Das atmen fällt mir schwer. Ein Schluck Bier aus der Flasche in meiner Hand. Es ist warm geworden und schmeckt schal. Inzwischen holst Du es Dir selbst aus dem Kühlschrank. Das erste Mal, als Du nach dem Sex aufgestanden bist und nackt zum Kühlschrank gegangen bist, zwei kalte Flaschen herausgenommen hast, zur Schublade gingst, den Öffner griffst und mir eine der Flaschen reichtest, da musste ich schmunzeln über die Selbstverständlichkeit der Geste. Fast, als würdest Du hier wohnen. Tust Du aber nicht. Das mit uns, das ist nur Sex. Nein, nicht „nur“ Sex. „Nur“ klingt, als würde man es herabsetzen, aber das will ich nicht. Das mit uns, das ist Sex. Es war Sex vom ersten Moment an, als wir uns sahen. Du saßest mir gegenüber und etwas an Deiner Haltung, an der Art, wie Du Dich bewegtest, machte, dass ich Dich wollte. Wir haben noch eine Weile um den heißen Brei getan, wie um die Form zu wahren, aber im Grunde war es von Anfang an Sex. Ungeduldig, atemlos, gierig, wild. Du tust mir weh, wenn wir es tun. Du drängst Dich mir auf. Du bist der Bestimmer. Du nimmst Dir, was Du willst. Mich. Oft komme ich so schnell gar nicht hinterher mit meinen Sinnen. Du wartest nicht auf mich. Du nimmst keine Rücksicht. Du fickst mich. Du greifst mir in die Haare, bis es schmerzt, Du zwingst mir die ganze Last Deines Körpers auf, machst mich wehrlos gegen Deinen Atem, Deinen Geruch, Deinen Schwanz.
Zieh Dich aus, sagst Du.
Leg Dich hin, sagst Du.
Öffne Deine Schenkel, ich will Dich ganz sehen, sagst Du.
Ich folge. Zitternd vor Erregung und vor Lust auf Dich. Wo Du mich anfasst, wo Du mir die Arme fixierst mit Deinen Knien wenn ich Deinen Schwanz blasen soll, dort werden am nächsten Tag überall Blutergüsse prangen. Male des Schmerzes und der Lust.
Was ich mit Dir tue, das tue ich sonst nicht, hast Du gesagt. Fast war da ein wenig Erstaunen über Dich selbst in Deiner Stimme. Was Du mit mir tust, hat vorher auch noch niemand mit mir getan… Und ich will es so sehr! Jeder Tag, der vergeht, ohne dass ich Dich spüre, tut mir fast körperlich weh. Viel mehr als Dein harter Griff. Du allein bestimmst, wie viele Tage es sind. Manchmal meldest Du Dich und sagst „Bist Du da? Ich bin in 20 Minuten vor Deiner Tür.“ Und ich sage „Ja, ich bin da.“ Ganz egal, wo ich tatsächlich bin und wer bei mir ist. Alles wird aus dem Weg geräumt, alles möglich gemacht für ein paar gestohlene Stunden mit Dir.
Manchmal denke ich, ich will soviel mehr als das von Dir… Ich möchte diesen Hunger nach Dir stillen können, wann ich will. Ich möchte nicht immer warten müssen auf Dich. Und dann denke ich weiter, will ich das wirklich? Würde der Zauber nicht sofort verpuffen wenn man ihn ans Licht der Realität zerrte? Will ich Dich nicht genau deswegen so sehr weil es so ist wie es ist? Möchte ich „sie“ sein?
Du sagst, was Du mit mir tust, das tust Du nur mit mir so. SO. Und mit ihr? Bist Du mit ihr zärtlich? Manchmal denke ich, ich würde töten für eine zärtliche Geste von Dir. Für einen Blick, aus dem neben Gier noch etwas anderes spricht. Du kennst solche Blicke, natürlich, aber sie sind nicht für mich. Sanfte Berührungen, weiche, genussvolle, zarte Küsse, das Streichen einer Strähne Haares auf dem Gesicht, kleine Gesten der Wertschätzung… nicht für mich. Eine innige Umarmung, das Spüren von Nähe vor dem Einschlafen… nicht für mich. Manchmal, da sehe ich etwas in Deinen Augen. Etwas, das mir zeigt, dass Du mich siehst. Mich. Hinter der Gier, der Explosion, dem Spiel mit Macht und Ohnmacht. Ich weiß, dass Du mich siehst. Sonst würde ich Dir nicht so bedingungslos vertrauen wich ich es tue. Sonst würde mich die nackte Angst packen, wenn Du mir mit eisenharter Hand den Mund zuhältst und mir das Atmen schwer machst. Tut sie aber nicht. Ich merke, wie alle Gegenwehr meinen Körper verlässt. Du siehst mich an, ich sehe mich in Deinen Augen und ich lasse mich fallen. Nie war da der Hauch eines Zweifels, ob Du mich fangen würdest. Nie. Selbst dann nicht, als wir uns erst kurz kannten.
Also, will ich „sie“ sein? Will ich Deine Zärtlichkeit, will ich Deine kleinen Gesten, will ich auch Dein Alltagsgesicht? Will ich Dich auch, wenn Du lustlos, mürrisch und schwierig bist und Dich vor mir zurückziehst? Will ich das, was mit Menschen geschieht, wenn sie das Leben miteinander teilen? Die Entzauberung, die Banalisierung? Wenn ich dafür auch die Intimität und die Vertrautheit der kleinen Gesten bekomme? Wieso muss man sich immer entscheiden? Wieso kann man nie beides haben? Das Vertraute UND das Fremde, den Urknall UND das leise Plätschern, die Nähe UND die Sehnsucht, die nur durch die Ferne entstehen kann? Dieses entweder-oder, es bringt mich noch zur Verzweiflung.
Du fährst davon, die Rücklichter verlieren sich im Schleier des Sprühregens und ich will nur eins: dass Du wendest und zurückkommst. Aber das wird nicht passieren, denn Du weißt so gut wie ich, dass ein solcher Schritt alles in Frage stellen würde. Und so stehe ich da und denke, ich würde Berge versetzen und Welten aus den Angeln heben für eine zärtliche Geste von Dir und gleichzeitig weiß ich dass es nichts gibt wovor ich mehr Angst habe als dass Du erfährst wie viel Du mir bedeutest. Würdest du es erfahren, es würde das empfindliche Gleichgewicht zwischen uns, diese selbstverständliche Dynamik, zerstören. Erführest Du von meinen Gefühlen, wäre damit meine Existenzberechtigung in Deinem Leben zunichte gemacht. Denn ich bin was sie nicht sein will und von dem Du nichts willst dass sie es ist. Ich bin zu sehr wie Du. Wir haben die gleichen Abgründe. Man liebt nicht das, was man selbst ist. Man liebt das, was man nicht ist.