Die Frau am See
Dort, wo am Abend der erste Strahl des Mondes das Wasser des Sees berührt, dort ist sie, die Insel, auf der die Träume liegen. Aber ich sollte die Geschichte von Anfang an erzählen.
Vor vielen Jahren lebte hier, am Rande des Dorfes, eine Frau, von der die Leute sagten, sie sei verrückt. Niemand sprach mit ihr und sie sprach mit niemandem. Man ging ihr aus dem Weg. Sie war den Menschen unheimlich in ihrem schwarzen Gewand und mit ihren stets gramerfüllten Augen.
Eines Abends, zärtlich schmiegte sich schon das Mondlicht über die Schwärze des Sees, hörte ich den sanften Klang eines merkwürdigen Gesanges, der mich ans Ufer lockte. Dort kauerte die Frau auf einem Stein, so tief in sich versunken, dass sie meine Schritte nicht wahr nahm. Sie sang ein Schlaflied, das mich an alte Zeiten erinnerte und eine ungeahnte Sehnsucht in mir weckte. Die Stimme war rau und rauchig und doch so klar, dass sie weit über den See trug. Das Lied, es war so fein, wie ein Nebelhauch und gleichzeitig so schwer und süß, wie eine milchgefüllte Brust. So voller Verlangen und Verheißung war es, dass ich wie gebannt lauschte. Als die Frau das Lied beendet hatte, weinte sie still und ich zog mich leise zurück, um sie nicht zu erschrecken.
Wie von einem Bann gezwungen, zog es mich von da an jeden Abend zum Ufer des Sees, um dem Gesang der Frau in Schwarz zu lauschen und ich fühlte mich dabei wie ein Dieb in der Nacht. Doch war es mir nicht möglich diesem Drang zu widerstehen.
Eines Nachts war ich, in der Hoffnung noch ein zweites Lied stehlen zu können, versteckt in einem Gebüsch länger geblieben und dabei eingeschlafen. Mir Träumte ein absonderlicher Traum, in dem die Frau mich ansprach. In meinem Traum erzählte sie mir von ihrem Söhnchen, das von einer Zauberin verführt und in einen Schwan verwandelt worden sei. Die Hexe habe ihn auf eine geheime Insel im See gelockt, wo er seine Träume finden solle. Seitdem säße sie jede Nacht hier auf diesem Stein, um ihm sein Schlaflied zu singen, damit er im Nebel den Weg zurück finden könne.
Ich erwachte von der feuchten Morgenkühle und im ersten Zwielicht über dem See vermeinte ich, die Frau wie einen Schwan auf dem See schwimmen zu sehen. Verschreckt rieb ich mir die Augen, doch schon war das Bild im Nebel verschwunden und ich schrieb es einem Nachklang zu meinem Traum zu.
An nächsten Abend fand ich die Frau in Schwarz nicht auf dem Felsen hockend vor. Verwundert schaute ich mich in der Dunkelheit nach ihr um und ging schließlich zu dem Platz an dem ich sie so viele Nächte lang hatte sitzen sehen. Dort lag nur eine schwarze Feder, die ich aufnahm, um sie näher zu betrachten.
Nacht für Nacht singe ich jetzt hier mein Lied.
Dort, wo am Abend der erste Strahl des Mondes das Wasser des Sees berührt, dort ist sie, die Insel, auf der die Träume liegen. Wer wird der sein, der mich dort hingelangen lässt?
© Rhabia 10.10.10