Gedankenfahrer
Wenn ich aus dem Fenster schaue, könnte mir das große Kotzen kommen. Was anderes kann ich nicht machen, also glotze ich entweder das eine oder das andere, wobei das eine dämliche Filme oder Serien sind und das andere das Geschehen außerhalb meines Hauses, das ja nicht einmal mir gehört. Ich müsste sagen, außerhalb des Zimmers.Ich bin gefangen.
Ein hartes Wort.
Ein sehr hartes Wort.
Aber es trifft den Nagel auf den Kopf.
Mann. Ich möchte aufstehen, mich bewegen können. Irgendwann konnte ich das. Ja, ich weiß das, ich habe mich auf Fotos gesehen. Damals war ich mobil.
M o b i l !
Jetzt bin ich auch mobil.
Auf vier Rädern, mit einer Kinnsteuerung und motorisiert.
Ständig läuft eine Pflegerin um mich herum und trotzdem habe ich das Gefühl allein zu sein.
Tatsache ist: Ich bin allein.
Allein mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen. Ja, ihr Säcke, ihr verdammten Pfleger, denen ich vor Dankbarkeit die Füße küssen soll, bäh, ich habe Gefühle und in mir herrschen sie chaotisch. Genau, Bruder Chaos drischt auf meine Gedanken ein und lacht sich dämlich. Ich will auch wieder einmal herzlich lachen können, mich lachen hören.
Ich will hinaus. Hinaus ins Freie, mir diesen saukalten Wind, ich weiß, dass zu dieser Jahreszeit der Wind kalt ist und aus dem Osten kommt, um die Nase wehen lassen. Ich will einen Drachen steigen lassen, mit den Kindern auf der Wiese toben.
Oder wenigstens schreien.
Ich will brüllen, gegen den Sturm anschreien, gegen den Sturm in meinem Kopf.
Die Pflegerin kommt. Jetzt wird sie mich gleich fragen, ob ich Durst habe und mir einen Trinkhalm an die Lippen halten, diese dumme Nuss. Saft, immer nur Himbeersaft mit Leitungswasser. Ich will ein Bier oder wenigstens mal eine Cola oder sonst etwas. Kaffee würde mich manchmal schon glücklich machen. Ich bin doch kein Baby!
Doch was hat meine Frau kürzlich gesagt?
Das hat mich getroffen, das hat mich tief erschüttert, ich will jetzt nicht dran denken. Aber ob ich will oder nicht, kommen mir Inges Worte in den Sinn.
„Du bist wie mein Kind, also wehr dich nicht.“ Ja, ich habe mich gegen ihre kalten Hände gewehrt, es zumindest versucht. Sie hat mir den Katheter eingeführt und ihre Finger waren eiskalt. Ich konnte es deutlich fühlen. Wenn schon sonst nichts, das habe ich bemerkt. Inge, Inge. Schade, dass ich nur mehr ein Kind für dich bin. Am besten, du trennst dich von mir. Aber das lässt dein Pflichtbewusstsein nicht zu. Du bist bei mir weil du eine Aufgabe brauchst, nicht wahr? Auf diese Frage wirst du mir nie antworten können, denn ich werde sie nie stellen.
Verdammter Unfall. Ich habe keine Ahnung, was genau passiert ist, damals vor vier Jahren. Seit zwei Jahren lebe ich wieder zuhause. Nein, es ist nicht mein Zuhause. Es ist fremd. Alles ist fremd. Hier habe ich nichts gemacht, keinen Handgriff. Inge hat ein behindertengerechtes Haus gekauft, von dem mir zugesprochenen Schmerzensgeld. Jetzt ist davon nichts mehr da. Ich habe das erst gestern bemerkt, da hat sie, unvorsichtig geworden, einen Bankauszug liegen lassen. Ich kann mich nicht bewegen und nicht reden, auch schlucken kann ich nur schwer, aber denken kann ich noch gut. Glaube ich, hoffe ich.
Ich fahre jetzt hinaus. Der Rollstuhl reagiert auf mein Nicken und er setzt sich in Vorwärtsbewegung. Nun schwingt die Tür auf, Inge hat alle Türen, die angeblich für mich relevant sind, mit Bewegungssensoren ausstatten lassen, und ich fahre hinaus.
Mein Körper ist nur noch ein Gefäß für die Gedanken. Ich sehe mich nicht, fühle mich nicht und der Rollstuhl ist das Fahrzeug damit das Gefäß mit seinen Gedanken auch dann und wann an die frische Luft kommt.
Ich glaube, heute werde ich einmal in die andere Richtung fahren.
In Gedanken sehe ich mich laufen und lachen …
(c) Herta 10/2010