Vergessen
Es war das Puppenspiel, das mich erinnerte!Weißt du noch, Liebelein, wir waren auf einem Marktplatz in einem kleinen italienischen Städtchen, dessen Name mir nicht mehr einfallen will. So, wie mir ganz vieles nicht mehr einfällt.
Das Puppenspiel war der Auslöser dafür, dass ein Stück meiner Erinnerung zurückkam.
Ich weiß, mein Gedächtnis hat inzwischen viele Lücken, die noch größer werden. Verzeih mir, Liebelein. Ich würde mich so gern an vieles mehr erinnern. Ich weiß, es wird schlimmer werden, in den nächsten Jahren. Und ich weiß, dass du das auch weißt und Angst davor hast. Aber manchmal kommt ein Stück zurück.
Auf jeden Fall erinnerte ich mich plötzlich daran, wie farbenfroh diese Handpuppen waren und wie fröhlich wir Hand in Hand über diesen Markt schlenderten. Du warst so ganz du und ich so ganz ich und wir begehrten einander und alles war so wundervoll, bevor meine Hirnwindungen Eskapaden drehten und mit einem leisen Winken einfach abstürzten.
Oh, und dein Schnürsenkel, Liebelein! Dein Schnürsenkel war gerissen und du warst wütend, weil er zu kurz war um sich noch einmal zusammenknoten zu lassen und du konntest nicht richtig laufen mit dem offenen Schuh und der Weg war noch so weit. Und doch haben wir es bis zurück zum Hotel geschafft.
Siehst du, Liebelein, es gibt ein paar Dinge, die ich noch immer erinnere. Siehst du? Ich wehre mich. Ich erinnere mich. Ich kämpfe doch mit aller Kraft!
Nein, du kannst es nicht sehen…
Immer wieder sehe ich mir Bilder an. Verblassende Fotos von Menschen und Städten, die mir fremd sind. Ja, ich weiß, mir müssten diese Bilder etwas sagen. Aber sie sprechen nicht zu mir. Immer wieder sehe ich sie mir an. Ich will mich erinnern, Liebelein!
Ja! Da war der Abend, als wir nachts am See waren. Weit sind wir hinausgeschwommen und wollten vor lauter Glück gar nicht mehr ans Ufer zurück. Weißt du noch? Siehst du, ich erinnere mich!
Ob du mir helfen könntest?
Ich sitze hier in der Abgeschiedenheit meines Krankenzimmers. Du kannst nicht sehen, was ich sehe, was ich erinnere. Aber ich erinnere mich. Wirklich, ich erinnere mich an dich!
Immerhin, die Ärzte und Schwestern – ich weiß ihre Namen nicht mehr – sind immer freundlich und haben auch einen Namen für mich. Huntington glaube ich. Oder ist das der Name meiner Krankheit?
Warum, Liebelein, musste es zum Eklat kommen? Warum kommst du nicht mehr? Ich erinnere mich nicht.
Ich liebe dich noch immer.
Du schriebst mir, was die Zukunft bringen würde, sei unentschieden. Immer wieder lese ich deinen Brief, Liebelein, damit ich nicht vergesse.
Aber ich fürchte, du hast längst entschieden und mich vergessen.
Und noch mehr Angst habe ich davor, auch dich irgendwann zu vergessen.
© Rhabia 11.10.10