erwachsen
Sie vermied es, zu genau in den Spiegel zu sehen. Blieb lieber ein wenig auf Abstand, um ihr strahlendes Lächeln zu bewundern, ohne allzu sehr auf die Fältchen und Falten zu achten. Nein, wie 44 sah sie doch wirklich nicht aus, bei dieser Beleuchtung und mit diesem jugendlichen Glanz in den Augen. Ihre Haut sah rosig aus, ihre Haare saßen toll – sie hatte sich Mühe gegeben. Heute wollte sie ganz besonders gut aussehen. Wenn sie gleich die Kinder zu ihrem Ex bringen würde, würde sie einfach Jeans und Pulli tragen, aber der Rock und die schwarze Biesen-Bluse für heute abend lagen schon auf dem Bett, mit der neuen, zarten Unterwäsche daneben. Jaconel kam mit ihrer Freundin und wollte, dass sie ihnen die Fingernägel lackierte. Sie nahm drei verschiedene Farben für sie und entschied sich dabei, welchen sie selbst später wohl nehmen würde. Sie frisierte Jaconel und erlaubte ihr, ein Kleid anzuziehen, auch wenn es noch ganz schön frisch für April war.
Es war schon nach 12 als sie alle endlich im Auto saßen. Die Kinder waren aufgeregt, Luc wollte bei Papa Computer spielen, aber als sie sagte, Papa würde mit ihnen Wandern gehen wollen, war er nicht mehr so erwartungsvoll. Es würde ihnen gut tun, hinterher waren sie immer begeistert, viel draußen gewesen zu sein. Sie lieferte sie ab und verabschiedete sich mit viel Drücken und Küsschen von ihnen. „Morgen Abend hol ich euch schon wieder ab.“ Sie vermied es, sich von Richard in ein längeres Gespräch verwickeln zu lassen, als er über seine Arbeit anfing, gab ihm die Sachen für die Kinder, schärfte ihm noch mal ein, Jaconel eine Buddelhose unter ihr Kleid zu ziehen, wenn sie in den Wald gingen und sagte „Bis morgen dann.“
Musste sie sich dafür schämen, dass sie sich so erleichtert fühlte, als sie allein im Auto saß? Sie steckte sich eine Zigarette an und drehte die Musik lauter. Sie konnte sich wieder fühlen wie vorher, vor der Heirat und den Kindern, es geniessen, alleinverantwortlich zu sein, nur für sich, für diese kurze Zeit.
Sie würde gleich Max treffen, in wenigen Stunden würde er sie in seine Arme schließen und würde sie sich ganz Frau fühlen – nicht mehr Mutter, Büroangestellte, Freundin, Exfrau, versorgende Hausfrau, all ihre Rollen wären unwichtig. Sie würde sich sexy fühlen, genießen, sich jung fühlen, verführerisch, sie würde Spass haben und ihre Sorgen vergessen, für ein kurzes Wochenende nur.
Es war so schön, wieder Schmetterlinge zu spüren, dieses wundervolle Kribbeln, wenn er sie ansah, dieses Gefühl der Machtlosigkeit, wenn er sie nahm, wie kein Mann zuvor wusste er sie mit nur wenigen Berührungen in Ekstase zu versetzen. Sie würde sich darin verlieren, sich hingeben und ihn die Entscheidungen treffen lassen, endlich schwach sein, nicht mehr die Starke spielen müssen.
Als sie vor seiner Haustür stand, war sie so aufgeregt wie bei der Abiprüfung, dachte sie und bekam kaum das Grinsen aus dem Gesicht, als er dann vor ihr erschien. Er zog sie in den Hausflur, schob ihr den Mantel von den Schultern, während er sie küsste und ließ es nicht dabei. Schon knöpfte er die Bluse auf und schob seine Hände unter ihren BH. Sie kickte die Schuhe weg und ließ sich in den Kuss sinken, fiel an seine Brust und ergab sich. Sie bemerkte nur noch halb, wie er die Türe schloss und sie sanft, aber bestimmt runter auf die Knie drückte. Sie ergab sich.
Am Sonntagabend hatte Richard es bereits 5 Mal probiert, Stella zu erreichen. Es wurde spät und er überlegte, einfach zu ihr zu fahren, um die Kinder abzuliefern. Das war nicht Stellas Art, sich gar nicht zu melden. Als es 8 Uhr vorbei war, entschied er, die Kinder bettfertig zu machen und erklärte ihnen, Mama wär was dazwischen gekommen. Er bat Stellas Mutter, vorbeizukommen, als sie schliefen und fuhr zu Stellas Wohnung.
Niemand reagierte auf sein Klingeln, also ging er mit dem Ersatzschlüssel, den ihre Mutter ihm besorgt überreicht hatte und holte die Schultaschen, damit er die Kinder Montagmorgen zur Schule bringen könnte. Stellas Schlafzimmer war unberührt, er konnte nicht sagen, ob viel fehlte, aber ihre Kleiderschranktüren standen offen, als ob sie Kleider fürs Wochenende gepackt hätte.
Er hörte die ganze Woche nichts von ihr und kam in Bedrängnis, was er nur den Kindern erählen sollte. Sie war nicht auf der Arbeit erschienen und er fing an, sich Sorgen zu machen. Sie war spurlos verschwunden, nicht mal ihre beste Freundin Fiona schien etwas zu wissen. Richard und Fiona telefonierten überall herum, verfolgten jede Spur, Unfallberichte, entfernte Bekannte. Sie erfuhren, dass Stella ihre Konten aufgelöst hatte. Den Kindern sagte er, Mama wär krank und sie sollten ihr Zeit lassen, bis es ihr besser ging. Am Freitag kam dann eine Mail an seine Adresse auf der Arbeit und seine private E-Mailadresse.
Lieber Richard
Ich komme nicht wieder. Frag nicht, wieso und versuch nicht, mich zu suchen. Bitte sag den Kindern, dass ich sie liebe, aber ich habe mich entschieden, mit meinem Leben noch mal von vorne anzufangen. Halt mich ruhig für eine Egoistin, aber ich konnte einfach so nicht weitermachen. Ich bin nie freiwillig nur Mutter und Hausfrau gewesen. Ich habe es vermisst, nur Frau zu sein und will das nun leben. Ich fange irgendwo nochmal von vorne an, bevor es zu spät ist. Ich weiß, dass du und meine Eltern sich gut um die beiden kümmern werden, ich vertraue dir. Aber mir ist es jetzt wichtiger, mein Leben zu geniessen, etwas zu erleben, zu lieben und geliebt zu werden, so lange es geht.
Stella