Kopfsalat
Warum habe ich dir nicht gesagt, dass ich dir verzeihe? Du hast einen Dolch in meine Brust gerammt, damals als du gegangen bist. Ja! Ich habe dich gehasst dafür. Du hättest doch sagen können, was dich stört. Was du dir wünscht bei uns. Ich hätte doch was geändert. Ich hätte alles geändert, für uns. Alles, was ich wollte, war: du und ich. Du und ich und unser Kind, unsere Familie. Das habe ich dir doch immer und immer wieder gesagt. Nur manchmal, da brauche ich diesen Freiraum, diese Luft zum Atmen. Du hast gesagt, es ist okay, dass ich fahre. Nächtelange haben wir darüber gesprochen. Und dann komme ich heim und du bist weg. Du bist einfach mit unserem Kind zu ihm gegangen. Und ich habe in der halb leeren Wohnung gestanden und gedacht, ich bin im falschen Film.Scheiße noch mal, jetzt bist du schon wieder weg. Ich meine, was soll das? Ich habe mich doch nicht mit dir zusammen gerauft und gelernt, deinen Neuen zu akzeptieren, nur damit du wieder abhaust? Reicht es nicht, dass wir uns niemals einig werden konnten darüber, was gut ist für unser Kind oder nicht? Reicht es nicht, dass deine grenzenlose Liebe und mein Wissen, dass ein Kind Grenzen braucht, immer wieder kollidierten? Reicht es nicht, dass dieses Kind nicht mehr berechenbar ist in dem, was es tut? Musst du jetzt auch noch abhauen und mich mit dem Drama allein lassen?
Verdammt noch mal! Ich habe dir doch nicht monatelang die Hand gehalten, damit du einfach aufgibst. Ich habe dir doch immer Mut zugesprochen. Nein, ich will nicht über deinen Sarg reden. Ich will, dass das aufhört. Ich will, dass du die Augen aufschlägst und „Überraschung“ rufst.
Ich will dir sagen, dass ich dir längst verziehen habe. Ich will dir sagen, dass ich verstanden habe, warum du gegangen bist. Warum du das Gefühl hattest, nie die Nummer Eins in meinem Leben zu sein. Ich will dir sagen, dass du jedes Recht der Welt hast, das Kind zu verwöhnen. Zu lieben, wen immer du liebst.
Ich will dir sagen, dass du einen festen Platz in meinem Leben hast. Ich will dir sagen, dass wir Freunde sind. Freunde helfen einander. Okay, wir sind als Paar gescheitert. Aber verdammt noch mal, das mit dem Elternsein, das muss doch gehen. Der Streit über den Blockflötenunterricht war wirklich scheiße. Natürlich muss das Kind nicht weiter machen, nur weil es mal angefangen hat. Aber das Kind muss auch lernen, dass Handlungen Konsequenzen haben. Was habe ich eigentlich genau getan, dass du mich verlassen hast? Sag mir das, verflucht noch mal. Ich habe ein Recht, das zu erfahren!
Warum habe ich dich eigentlich nie danach gefragt? Ich meine, nach den Gründen, nicht nach den Vorwänden? Mist! Ich hatte wohl Angst vor der Antwort. Erinnerst du dich an unsere erste Nacht? Alles war so einfach, so klar. Ganz ohne Worte. Ich will die Zeit anhalten und dahin zurück gehen. Und dieses Mal mache ich es besser! Versprochen!
Das ist Schwachsinn! Ich weiß, dass das nicht geht. Niemand kann die Zeit zurück drehen. Und nein! Ich will nicht über die Farbe der Luftballons reden, die wir steigen lassen. Ich weiß nicht mal, ob ich überhaupt einen Luftballon steigen lassen will. Wieso eigentlich Luftballons? Was soll das? Du hast nie Luftballons gemocht! Und du magst auch Elton John nicht. Die Frau, mit der ich ein halbes Leben zusammen war, mochte Elton John nicht.
Ja, Kind. Ich weiß, dass es ungerecht ist und gemein. Nein, niemand hat es verdient zu sterben. Sie hat es nicht verdient. Und du hast nichts angestellt. Nein, Liebes. Du hättest nichts anders machen können. Ja gut, dass du nach dem Schulausflug abgetaucht bist, war nicht so pralle. Aber es ändert nichts an dem, was jetzt ist. Quäl dich nicht mit „was wäre wenn“. Lass zu, dass du traurig bist. Lass die Tränen fließen. Was? Nein! Ich werde Hundert! Versprochen!“
Weißt du eigentlich, was du mir da antust? Ich bin darauf nicht vorbereitet. Ich habe die Mutter meines Kindes verloren und bin unendlich traurig. Und jetzt soll ich auch noch dieses Kind trösten?! Das ist zu viel. Gott, ich hab das Gefühl, ich mache alles falsch! Ich will nicht, dass das Kind weint. Ich will, dass es glücklich ist und sich behütet fühlt.
Warum bin ich damals weggefahren? Das hat sich doch gar nicht gelohnt. Wenn ich gewusst hätte... ich wäre doch nie. Scheiße! Kann mal jemand diese Endlosschleife abstellen? „Was wäre wenn“ funktioniert nicht!
Ja. Ich finde viele bunte Luftballons toll. Dann kann sich jeder die Farbe aussuchen, die er mit ihr assoziiert. Ist die Farbe vom Sarg nicht egal? Wir verbrennen den doch sowieso! Wir verbrennen die Mutter meines Kindes...
Nein, ich weiß nicht, warum sie das so wollte! Und es ist mir wirklich scheißegal, ob die kompostierbare Urne rot oder blau wird. Wirf eine Münze, aber frag nicht mich! Tut mir Leid, habe ich nicht so gemeint. Aber du hast doch die letzten sechs Jahre mit ihr verbracht, nicht ich. Du musst doch wissen, ob sie lieber rot oder blau mochte. Und überhaupt! Ich muss zur Arbeit. Ich habe doch auch ein Leben. Ich kann mich da nicht einfach ausklinken!
Was? Ja, natürlich. Tut mir echt Leid. Ist im Moment ein bisschen stressig. Natürlich schicke ich ihnen das Angebot zu. Es liegt hier schon fertig. Ich bin nur nicht dazu gekommen, die Mail abzuschicken. Was wollte der Typ? Angebot. Egal. Das Leben muss weiter gehen. Hauen wir eben ein Angebot raus.
Wie jetzt? Ich soll was sagen? Ich kann kaum denken. Ich habe Nächte lang nicht geschlafen. Wann habe ich versprochen, dass ich am offenen Grab eine Rede halte? Guckt mich nicht so an. Nein, Liebes! Nicht weinen! Natürlich sage ich etwas. Es ist ein so verflucht kleines Loch. Passt ein Mensch wirklich in zehn mal zehn mal zehn Zentimeter? Habe ich das wirklich laut gesagt?! Nein. Alle schauen nur. Gehe ich mal einen Schritt vor. Dieser rosa Luftballon in meiner Hand sieht so was von Scheiße aus. Ich will nicht, dass du tot bist!
„Hallo. Toll, dass ihr alle da seid. Ich sehe viele Gesichter, die sich seit Jahren nicht gesehen habe. Ihr wundert euch vielleicht, dass ich hier jetzt stehe. Aber wir haben darüber geredet. Über fünfzehn gemeinsame Jahre und darüber, dass ich ein Recht habe, hier was zu sagen. Okay, alle haben das. Werden wohl mehrere Reden. Wie dem auch sei. Ich habe dich geliebt und ich wollte mit dir alt werden. Es sollte nicht sein. Als Paar sind wir gründlich gescheitert. Ich bin halt manchmal ein Idiot. Und du kannst ganz schön stur sein. Es gibt da wohl nichts zu verzeihen. Nur zu verstehen.
Danke, dass du in meinem Leben warst. Danke für dein Lächeln, für deine Güte, für deinen Schalk. Danke für unser Kind und all die gemeinsamen Jahre. Ich musste dich schon einmal ziehen lassen. Dieses Mal ist es schlimmer. Es ist endgültig. Ich stehe hier, und weiß nicht, wie das ohne dich gehen soll. Aber ich lasse dich los!“
Ich gebe endlich diesen idiotischen rosa Luftballon frei. Fly to eternity. Fly back home.
© sylvie2day 13.10.2010