Stinknormal
StinknormalSelten kam es vor, dass sie vor die Tür trat, vor die Haustür wohlgemerkt, die drei Stockwerke unter ihrer Wohnung lag. Warum sie diese Plackerei auf sich genommen hatte, wusste sie nicht. Aber jetzt stand sie schon einmal da und starrte in die beginnende Dämmerung, was hier heißt, die Straßenbeleuchtung ging an und im Haus gegenüber wurden geräuschvoll die Rollläden herabgelassen. Irgendwo schlug eine Tür und das Folgetonhorn eines Einsatzfahrzeuges drang von der nahen Hauptstraße an ihr Ohr. Sie verschloss sich, sog einmal tief die kühle Luft ein und hustete würgend. Als sie den Hustenreiz unterdrückt hatte, kramte sie in der Tasche ihres Kittels. Befriedigt lehnte sie sich an die Hauswand, stellte die Beine überkreuz hin, das nur schwer gelang, weil sie so dick waren. Doch bald standen diese Baumstämme so, wie sie es für lässig hielt. Schwer atmend öffnete sie die Packung und schüttelte eine Zigarette heraus, die sie sofort zwischen die Lippen klemmte. Die Schachtel landete wieder in der Tasche. Kurz darauf kam das Feuerzeug zum Einsatz und das glimmende Ende sowie der befriedigte Seufzer kündeten vom Erfolg ihrer Bemühungen. Nach jedem Zug hustete sie zum Gotterbarmen, aber sie hielt die Augen jedes Mal geschlossen und bekam einen verträumten Ausdruck im Gesicht, geradeso als würde sich ein Liebhaber um ihre erogenen Zonen kümmern. Wie das ging, wusste sie schon lange nicht mehr und erogene Zonen hatten sie nie sonderlich gekümmert, sie wusste nicht einmal genau, dass es so etwas gab. Doch die Zigarette zwischen den Lippen brachte eine Ahnung mit sich, ein unbestimmtes Gefühl einer Berührung, die einmal dagewesen war. Hustend trat sie das letzte Stück aus, drehte der erwachenden Nacht den Rücken und zu bereitete sich auf den anstrengenden Aufstieg in den dritten Stock vor. Noch einmal kramte sie in der Tasche und zauberte einen Trockeninhalator hervor. Auch der wurde sogleich zwischen die Lippen gesteckt, kurz leckte sie über die glatte Oberfläche des Mundstücks, dann saugte sie daran und lutschte ein wenig, bevor sie den Auslöser betätigte und das Aerosol tief einsog. Abermals musste sie husten, dann spuckte sie gelben Schleim vor die Tür, lachte ein wenig darüber und drückte die Tür auf. Stöhnend lehnte sie sich dagegen und sie schwankte ins Innere. Hier roch es nach Putzmittel, Parfüm und jeder Menge Dicke aus dem dritten Stock, denn so wurde sie genannt, hatte keinen Namen und es war ihr egal, solange der Briefträger sie einmal im Monat fand und mit der Kohle rausrückte.
Schritt für Schritt quälte sie sich hoch. In jedem Zwischenstock blieb sie stehen wobei sie vernehmlich schnaufte. Ein Nachbar hörte sie hoch stampfen, streckte den Kopf zur Tür heraus und brüllte: „He du oide Sau du. Schau das’d weida kummst.“ Ihr fehlte die Luft zu einer lautstarken Erwiderung. Früher, das heißt vor dreißig Jahre waren sie einmal ein Paar gewesen, nun waren sie Nachbarn, gutverfeindete Nachbarn, wenn man es genau nahm. Sie holte einmal tief Luft, hustete und spuckte ihm direkt auf die Fußmatte. Dabei lachte sie unangenehm rasselnd. „Du fette Sau du! Dir werd’ is gebn! Na woart na, so a Schlaumpn! Die zag i au! Morgn geh i auf de Bullei!“
Doch sie lachte nur dazu, stieg noch ein Stockwerk höher. Der Strahl hatte wunderbar getroffen und noch glänzte der Schleimbrocken grüngelblich auf der blauen Fußmatte mit der gelben Willkommensaufschrift, genau über das „i“ hatte sie gezielt. „Jetzt host an Punkt du Oasch“, sagte sie, dabei konnte sie kaum Luftholen.
„Du bleda Traumpi, schiacha! Daumpfross grauslichs!“, schimpfte er ihr noch nach. Dann war sie schnaufend in ihrer Wohnung verschwunden. Hier zeichnete sich alles durch Enge aus. Es war eine Einzimmerwohnung, die sie sich noch teilte und der Geruch zeigte an, dass es sich hier keineswegs um eine gesunde Person handelte.
Der Duft in dieser Wohnung bestand aus einer Mischung aus Knoblauchöl, Zwiebeln, Zigarettenrauch, Bier, angebranntem Kaffee, Schweiß, Urin und welche anderen Ausscheidungen sich sonst noch hier trafen. Sie schlossen ein Bündnis gegen jedes Raumdeo ebenso gegen die Frischluftzufuhr von draußen. Dieser Geruch hatte ein Eigenleben, schien sogar Farbe anzunehmen, denn er haftete ockerfarben an den Vorhängen, Wänden, Möbeln und auch an der Frau, die knochig im einzigen Bett lag und leise schnarchte.
Die Dicke ging zu ihr und weckte sie unsanft. „He Muada, Zeit zum Essn is.“ Danach rückte sie ein Tischchen zurecht, stellte zwei Dosen Bier hin, eine Flasche Cola, einige Becher Pudding und für sich selbst eine Zwiebelwurst und eine Semmel. Die Zigaretten lagen griffbereit, ebenso die Fernbedienung für den Fernseher.
Die alte Frau im Bett drehte sich herum, blinzelte und fragte: „Bist deppat?“ Ihre Stimme hörte sich an wie altes Laub und dennoch klang alle Verachtung darin mit, die sie für die einzige Tochter übrig hatte. „Hoit de Goschn“, erwiderte die Dicke, stand auf und leerte den Harnbeutel. Grinsend ging sie zum Fenster und entleerte den Inhalt in den Blumenkasten ihres unteren Nachbarn.
Nun lachte auch die Alte, meckernd wie eine Ziege. „Kum Deppate, hüf ma außa. I hob an Hunga.“ Gehorsam ging die Dicke zu ihr, setzte sie gekonnt auf und brachte sie dann zum Sofa.
Die Dicke schaltete den Fernseher ein und dort saßen sie, aßen, tranken, rauchten, husteten und beschimpften sich, bis die Alte sagte: „He Deppate, i wül ins Bett. Trog mi eini.“ Dann half die Dicke der Alten ins Bett und setzte sich dann zum Fernseher, wo sie einschlief.
(c) Herta 2010