Das Untier
O dieses ist das Tier, das es nicht giebt.
Sie wußtens nicht und haben jeden Falls
— sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals
bis in des stillen Blickes Licht — geliebt.
(aus Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus. Zweiter Teil, Vers IV)
Oh, wie ich habe ihn geliebt. Habe ihn so sehr begehrt, dass ich mich nicht beherrschen konnte.
Oft habe ich ihn heimlich, aus meinem Versteck heraus, betrachtet.
Seine Kühnheit, seine Wildheit, der Schwung seines Halses, das Beben seiner Flanken. Seine Sanftmut schien unendlich, wenn er stolz durch den Wald schritt. Witternd, immer auf der Hut. Sein Tritt kaum vernehmbar auf moosigen Steinen.
Dort, wo die wilden Rosen blühen, dort hatte ich mich versteckt. Oh, ich werde mich immer an den Duft der Rosen erinnern, wenn ich an ihn denke.
Als er auf die Lichtung kam, hielt ich den Atem an, so schön war er. Weiß und schimmernd war er, wie das Mondlicht das seine Strahlen durch die Bäume schickte. Mit einem Mal, da hielt er auf mich zu. Sein Blick war so klar, wie die Sterne, die in dem kleinen See funkelten. Ich duckte mich tiefer ins Rosendickicht, doch konnte ich seinem Auge nicht entkommen. Da fiel meine Scheu von mir ab und ich sang ihm mein Lied.
„Was tust du mir an, schöne Jungfer?“ sprach er zu mir. „Du weißt doch, dass ich deinem Bann nicht widerstehen kann!“ Sein Blick war wissend. Er trat zu mir und legte seinen gehörnten Kopf in meinen Schoß.
Plötzlich zerbarst meine Welt. Schwerterklingen und kehlige, schmutzige Männerschreie erfüllten den Wald. Laute Rufe „wir haben das Untier“ erschallten. Ein heilloses Gemetzel. Alles war so durcheinander, war so rot von seinem Blut, war so voller Lärm, als er, ohne sich zu wehren auf meinem Schoß zusammenbrach.
„Jungfer, was tust du mir an!“ sagte er, als er mit einem letzten Zittern seine Lider schloss.
Man hievte mich hilflos über Schultern, warf mich in die Luft und ließ mich hochleben. „Die Jungfrau hat das Untier für uns gefangen!“
Wie sehr habe ich ihn geliebt. Und ihn durch mein Begehren getötet. Doch wird das niemand jemals wissen. Der Duft der wilden Rosen aber wird mich immer erinnern.
© Rhabia 16.10.2010