Die Freiheit der Zeit
Es gibt Momente, in denen alles an Bedeutung zu verlieren scheint. Vergangenheit und Zukunft lösen sich im Hier und Jetzt auf, existieren nicht mehr. Dann wird eine Mauer zu einer anderen Welt durchbrochen. Wirklichkeit und Illusion erhalten eine neue Bedeutung. Zeit hat keine Bedeutung mehr, denn das Leben „war nicht“ und es „kommt nicht“. In diesem Augenblick findet es unwiderruflich statt. Nur in dieser Sekunde. Der Körper und der Geist verschmelzen mit dem Universum. Die Bedeutung aller Dinge, die noch zuvor sorgsam vom Verstand katalogisiert und zugewiesen wurden - ein leeres Blatt! Die Schau von innen, nach innen gerichtet. Kein Gedanke an gestern und morgen dehnt sich im Geist aus - Freiheit!Ein Höchstmaß von Aufmerksamkeit für diesen Moment heißt Leben spüren, Dinge sehen, die ansonsten nicht sichtbar werden. Empfindungen zu spüren, die nie erkannt wurden. Kein Platz für Bewertungen, nur Leere.
Nun sitze ich hier alleine am Strand, fühle, wie mich ein unsichtbarer Sog in diese Welt hineinzieht, in die Raum- und Zeitlosigkeit. Ich komme immer mehr zur Ruhe. Keine Erinnerungen, keine Wünsche, keine Ziele - keine Zeit. Ein inneres Auge am Schlüsselloch zu einer anderen Wirklichkeit. Ein Blick durch das Schlüsselloch zu einer anderen Wahrheit. Es wächst in mir ein Gefühl von Freiheit, zart und zerbrechlich wie eine Blume, die sich den Weg durch das Erdreich erkämpft hat, schutzlos den Umwelteinflüssen ausgeliefert. Schon ein Hauch des Gedankens würde diese wachsende Freiheit davontragen. Ein Gedanke nur und der Projektor würde den Film von gestern und morgen erbarmungslos abspielen, würde selbst erzeugte Ängste freilegen, geboren aus der Vorstellung des Verstandes, konditioniert durch das, was gestern war und was morgen sein soll.
Immer noch bin ich mit meinem Auge nah am Schlüsselloch, sehe und fühle eine andere Wahrheit, empfinde die Zeit nicht mehr als aneinandergereihte Momente. Die Zeit ist das Meeresrauschen, der Wind, das Wasser und der Sand. All das, was meine Sinne wahrnehmen, verkörpert sich als Zeit. Die Zeit, die Sekunde für Sekunde fortschreitet, wird mir nicht mehr bewusst. Innen und außen verschmelzen zu einer lebendigen Welt. Ist das Illusion, Einbildung oder kommt in diesem Moment die verdeckte Wahrheit zum Vorschein? Ohne zu denken wird mir klar, dass mir die Zeit etwas über sich erzählen möchte. Ich höre zu. Es bleibt kein Raum, um Fragen zu stellen. Das Fenster zur Freiheit geht auf und nur hier möchte ich sein, nein, hier bin ich, hier darf ich sein. Nur wahrnehmen und sich dahintreiben lassen. Als Beobachter zuschauen. Die Dinge sehen, wie sie (wirklich) sind.
Die Zeit wird lebendig. Jedes Geräusch ist von innen wahrnehmbar. Jeder Ton ist lebendige Zeit. Jeder Flügelschlag einer Möwe ein Spiegel der Zeit. Die Zeit ist kein Faktor. Sie ist lebendig. Sie bringt sich durch alle Dinge zum Ausdruck und doch scheint sie stillzustehen. Ist die Zeit das, was ich in diesem Augenblick wahrnehme oder unterliege ich gerade einer Täuschung? Ist die Zeit das, was ich bisher glaubte? Ist sie mein Gegner, dem ich Stunde um Stunde abringen muss, um meine verwirrte Vorstellung vom Glück zu realisieren?
Nie hatte ich wirklich Zeit für mich. Arbeit, Ablenkung, Freizeitvergnügen. Automatisches Handeln ohne wirkliches Bewusstsein. Wenn ich jetzt meine Aufmerksamkeit wieder bewusst auf die Zeit richte wäre ich wieder ein Sklave der Zeit. Aber noch ist sie mein Freund, mein unsichtbarer Begleiter. Sie liegt neben mir im Sand, ihr kühler Atem streicht mir durchs Haar. Ihre Stimme klingt wie das Rauschen der Wellen, wie das Kreischen der Möwen.
Wie ist es möglich, Zeit zu verlieren? Ich habe alle Zeit der Welt. All die Zeit, die ich bisher verloren glaubte, all die Zeit, die andere verloren haben, liegt vor mir ausgebreitet. Im Kreischen der Möwen höre ich die Zeit zu mir sagen:
„Schau mich an, ich bin alles und ich bin nichts! Alles, was ich dir gebe, ist nur eine Leihgabe: Dein Körper, dein Verstand, deine Gesundheit, deine Eltern, deine Freunde, deine große Liebe, dein Vermögen. Nichts wird jemals für immer dein eigen sein! Irgendwann werde ich meine Gaben zurückfordern. Also behandle alles wie fremdes Eigentum, damit du es unbeschadet dem ewigen Besitzer zurückgeben kannst. Nur mir, der Zeit, obliegt es, wie lange ich dir die Dinge gewähre, von denen du denkst, sie wurden durch dein Tun zu deinem Eigentum. Wenn ich jemanden zu dir sende, um zurückzuholen, was Mein ist, sollst du ohne Groll mit dankbarem Lächeln alles wieder hergeben. Hättest du meine Gaben nicht angenommen, könnte ich sie dir dann nehmen? Wenn du das tief im Herzen verstehst, wirst du aufhören zu leiden. Vergesse niemals, dass Glück und Leid nicht abhängig ist von dem, was ich dir gebe. Das Glück wohnt in deiner Seele, nicht in deinem Verstand. Deine Seele war schon ewig dein eigen. Zeit wurde für die vergängliche Materie gemacht und hat keinen Einfluss auf die unvergängliche Seele. Weil du sie nicht siehst, denkst du, sie existiert nicht. Es kommt jedoch der Tag, da wirst du alles so sehen, wie es wirklich ist. Das werde ich dir niemals wieder nehmen können.
Mein Blick streift die untergehende Sonne. Rund, ohne jeden Makel steht sie blutrot am Horizont. Nur ein kleiner dunkler Schatten durchkreuzt ihren unaufhaltsamen Weg. Wie viele Menschen mögen wohl in diesem Jet sitzen, konstruiert, um Zeit zu sparen? Mit diesem Gedanken steigt auch schon eine leichte Angst in mir auf. Ich werde ein wenig traurig, weil ich spüre, wie mein Verstand wieder Gedanken erzeugt. Werde ich diesen Ort der Zeit noch einmal erleben. Werde ich es morgen wieder schaffen, mich von Vergangenheit und Zukunft zu lösen? Noch einmal, fast wie zum Abschied, trägt der schwächer gewordene Wind ihr Flüstern zu mir herüber:
Findest du mich irgendwann, dann gehen wir auf die Reise.
Was für eine Reise meint sie? Eine Reise in ein anderes Land? Eine Reise nach innen? Keine Antwort! Dann wurde es lauter um mich herum. Ich sah wieder die vielen Menschen, die sich ihre Zeit an diesem Ort vertrieben. Und mir fällt dazu ein weiteres Phänomen ein, welches sich in unserer Gesellschaft manifestiert hat. Wir arbeiten, machen Überstunden und verwenden die ganze Zeit dafür, dass wir genug Geld zusammenbekommen, um möglichst weit weg zu fliegen, nur, um uns dann im Urlaub die Zeit zu vertreiben. Ist das der Sinn, den uns das Leben und die Zeit gegeben hat?
Ich schaue mir noch einmal die Menschen am Strand an. Einige sind vergnügt, andere in Eile. Kinder bespritzen mit ihren Füßen einen Hund. ein altes Pärchen geht mit hochgekrempelten Hosen durch das knöchelhohe Wasser. Eng umschlungen sitzt ein Liebespaar auf einer Bunkerruine. Ich möchte glauben, dass auch für sie die Zeit keine Bedeutung hat. Ich wünsche ihnen, dass sie lange noch von dieser schönen Zeit zehren, bevor auch sie zurückgeben müssen, was ihnen niemals gehörte.
Mein Blick fällt auf einen Schwarm Möwen, die sich von einem alten Fischkutter ihren Anteil sichern. Vor kurzem noch hatte ihr Kreischen eine andere Bedeutung - eine Symphonie der Zeit, die mir eine Botschaft vermitteln wollte. Habe ich sie verstanden? Dankbar schaue ich ihnen nach, ich werde es wohl noch erfahren.
Langsam hat auch die Sonne an Kraft verloren. Nur ein schwacher roter Schimmer spiegelt sich im Meer. In wenigen Minuten wird die Zeit auch sie zurückrufen, um Platz zu schaffen für den Mond und die Sterne.
Ich schaute auf meine Uhr, überrascht, wie schnell die Zeit vergangen ist. Es müssen Stunden gewesen sein, die ich hier verbrachte. In dieser Zeit war ich weit weg von mir und meinen Wahrheiten. An einem Ort nah bei meiner Seele habe ich etwas gefunden, was nun mit Leben gefüllt werden kann.
Noch einmal versuche ich, die Zeit für mich zu gewinnen, möchte noch nicht fortgehen, möchte zurück zu diesem Ort. Vergeblich! Tausend Gedanken und Fragen schießen mir durch den Kopf. Kein Platz für Ruhe und Frieden. Morgen um 18.00 Uhr werde ich den Heimweg antreten, um übermorgen wieder pünktlich um 8.30 Uhr im Büro zu sitzen. Ich werde Dinge tun, damit ich mir Dinge leisten kann, die mir die Illusion von Glück versprechen. Werde ich mich immer an die Botschaft der Zeit erinnern, wenn ich wieder einmal dem falschen Glück hinterherjage oder wenn ich etwas Liebgewonnenes verliere? Ich werde sehen!
Dankbar für den Blick durch das Schlüsselloch mache ich mich auf den Heimweg, gehe diesmal an dem kleinen Café am Hafen vorbei, wo ich so oft am Abend gesessen habe.
Vielleicht hatte ich den Türgriff in der Hand, den Griff, der mir Zugang zu der Wahrheit verschaffen könnte. Werde ich es irgendwann einmal schaffen, den Türgriff herunter zu drücken und voller Mut einzutreten in den Raum der inneren Ruhe, Zufriedenheit und des beständigen, grenzenlosen Glücks jenseits der Angst? Ich werde es schaffen, wenn ich nur genug Zeit bekomme!