Die schnelle Vergänglichkeit des Sieges
Die Wettkampfsaison war in vollem Gange und ein internationaler Wettkampf stand an. Es war spätes Frühjahr und einer der ersten Wettkämpfe. Unser Sportclub fuhr mit 2 Bussen zum Wettkampfort. Nach 2,5 Stunden Autobahnfahrt, würden wir die Wettkampfstätte erreichen. Es war sehr ruhig im Bus, ganz anders als zu der Zeit als wir noch jünger waren, damals war der Bus mit einem Sack voller Flöhe gefüllt.
Heute waren wir erfahrener, hatten auch bereits schon die eine oder andere Niederlage verkraften müssen und wussten dass wir nicht nur zum Spaß zu solchen Sportereignissen fuhren.
Jeder konzentrierte sich auf sich, wir versuchten uns im Vorfeld mental auf den Wettkampf einzustimmen. Alles, was wir gelernt hatten , gingen wir im Kopf wieder und wieder durch. Vor dem Wettkampf hatten wir für ein solches Review keine Zeit.
Unsere Heike Haase, war wie immer total nervös. Im Training brachte sie Bestzeiten hervor wie kein anderer, aber beim aktiven Wettkampf, wenn das Können abgefordert wurde, verlor sie sich auf die hintersten Plätze.
Sie hatte sich den Spitznamen kleiner Trainingsweltmeister zugezogen. Sie konnte mit dem Druck einfach nicht umgehen. Ob sie es jemals lernen würde, stand in den Sternen.
Es war wie immer, ihr wurde es im Bus so schlecht, dass sie sich übergab. Da solche Vorfälle auch bei anderen Athleten bekannt waren, wurden in den Bussen Brechtüten ausgeteilt.
Wir waren am Ort des Geschehens angekommen und fuhren zu unserer Unterkunft, nahe am Stadion.
Wir bekamen unserere Zimmer zugewiesen und richteten uns so gut es eben ging dort ein.
Zwei Tage sollte der der Wettkampf dauern und bereits am nächsten Morgen würde es losgehen.
Wir gingen noch etwas spazieren, sahen uns um und trafen bereits den ein oder anderen Gegner. Man schaute sich an, schickte ein überhebliches Lächeln rüber und tat ganz locker. Unsere psychologische Ausbildung machte sich bezahlt, dieses „Warum bist du Verlierer überhaupt hier angereist“ Dieses Wettkampfverhalten beherrschten wir sehr gut. Den Gegner schon im Vorfeld nur durch das eigene Auftreten zu verunsichern konnten die entscheidenden Millisekunden Vorsprung bedeuten.
Die Sprachen des Gegners beherrschten wir nicht. Deutsch, Russisch und Englisch war alles. Aber hier waren Polen, Rumänen, Ungarn, Tschechen, und andere Teilnehmer am Start, deren Sprache uns nicht geläufig war.
So war die Körpersprache das wichtigste einsetzbare Mittel sie zu verunsichern. Körpersprache ist international, die wird weltweit verstanden.
Am anderen Tag um acht Uhr wurden wir geweckt. Wir hatten zwei Stunden Zeit um uns frisch zu machen, um10.00 Uhr begann der Wettkampf.
Die Sonne schien und der Himmel hatte nur stellenweise ein paar Wolken zu bieten. Die dunkle dicke Wolkenfront in weiter Ferne würde sich sicher auflösen und uns den Tag nicht vermiesen.
Unsere Einsätze wurden von oben vorgegeben und aus unserem gesamten Leistungs - Repertoire nur einige Disziplinen ausgewählt.
Ich war dieses Mal für 100m Sprint und 100m Hürden eingeteilt.
Haase musste die 400m laufen. Es war wirklich schlimm, sie so klein zu sehen.
Wir versuchten ihr Mut zu zureden, dass sie doch einfach nur das zeigen sollte, was sie im Training drauf hatte. Sie sollte sich einfach nur einreden, es sei ein Trainingslauf.
Die Trainer stellten sie auch noch mal darauf ein, doch es half nichts.
Im Vorlauf kam sie als 5. also nur als Vorletzte ins Ziel und man konnte ihre stummen Schreie der Verzweiflung förmlich hören.
Da es mehrere Vorläufe gab, qualifizierten sich nur immer die ersten zwei für das Finale.
Für andere Athleten, auch für mich lief es viel besser.
Im Vorlauf beim 100m Lauf kam ich als erste durchs Ziel und erreichte locker das Finale. Zeusner hatte wie ich ebenfalls kein Problem, den Vorlauf zu überstehen und das Finale zu erreichen.
Im Endkampf standen außer uns noch jeweils ein Gegner aus Polen, Rumänien, Tschechien und eine Athletin aus einem anderen Sportclub.
Das Finale war für den Nachmittag vorgesehen.
Eine Kleinigkeit Essen, Auflockern und dann würde es auch schon losgehen. Jetzt konnten wir uns noch etwas Ausruhen.
Allerdings hatte sich die Sonne ebenfalls entschieden sich auszuruhen und zeigte sich zwischen den Wolkenbänken immer seltener.
Die erste Disziplin am Nachmittag war der 100m Lauf.
Zeusner und ich begannen vor dem Star wie immer mit unseren „Kriegsspielchen“.
Nicht nur, dass ein Blick auf die anderen zeigen sollte, das sie bereits im Vorfeld verloren hatte, wir agierten auch mit Körpersprache, um die Gegner zu verunsichern. Zusätzlich hatten aber noch einen anderen Trumpf im Ärmel, den wir während der Mittagspause miteinander abgesprochen hatten.
Ich provozierte den ersten Fehlstart.
Wir zwei lächelten nur und das Fracksausen der Anderen konnte man spüren. Ein Fehlstart ist, als würde man einer Stange Dynamit kurz vor der Explosion die brennende Lunte heraus reißen.
Zeusi fabrizierte den zweiten Fehlstart.
Die entstandene Nervosität bei den Gegnern war für uns wie eine Gratulation zum Sieg.
Nun kam der dritte Versuch für unseren perfekten Start.
Bei den bewusst verursachten Fehlstarts hatten wir genau die Abstände studiert, die der Starter für seine Zählweise bis zu seinem Pistolenschuss brauchte.
Ein perfekter Start ist der halbe Sieg und dann die ersten Schritte kraftvoll setzen bis man aufrecht läuft.
Der Lauf ist so kurz, da ist Perfektion bis in die kleinste Muskelfaser gefordert.
Es ist schon faszinierend, dass ich in den paar Sekunden bis zum Ziel nur zwei-dreimal Luft holen musste.
Auf die Plätze, fertig,… Schuss.
Der Start glückte. Zeusi und ich legten einen sauberen Start hin. Nun waren auch wir untereinander Gegner, Gegner wie die anderen.
Ich konzentrierte mich nur auf meinen Lauf.
Raus aus den Eisen, nach 10 Schritten hatte sich meine Körperfeder in die Aufrechte entspannt. Arme und Beine waren synchronisiert und brachten ihren vollen Einsatz für die Vorwärtsbewegung.
Ich legte einen sauberen Lauf auf der roten Tartanbahn hin und ging als erste durch Ziel.
Zeusi erreichte einen für sie nur enttäuschenden dritten Platz.
Dennoch, die kleinen Kriegsspielchen hatten sich mindestens für mich auch dieses Mal ausgezahlt.
Unsere Trainer gratulierten uns kurz, sie waren zufrieden mit unserer Leistung.
Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten.
Meine zweite Disziplin, der Hürdenlauf war für morgen angesetzt.
Zeusi musste an diesem Tag noch zum Hochsprung.
Die Latte war ihr Lieblingsspielzeug. Wie der 100m Lauf für mich, war für sie der Hochsprung die Paradedisziplin.
Die Auflage unserer Trainer war, dass sie unter all den gemeldeten Teilnehmern im Hochsprung den zweiten Platz belegen müsse.
An diesem Tag hatte Zeusi das besondere Glück ihre persönliche Bestleistung abzuliefern. Zeusi übersprang das erste Mal ihre eigene Körperhöhe. Das Versagen im 100m Lauf war in diesem Moment vergessen.
Alle freuten sich und klatschten Zeusi zu, sie war überglücklich, vergaß aber nicht, mir für meinen morgigen Hürdenlauf noch die Daumen zu drücken.
Das Wetter hatte sich am Hürdenlauf-Tag weiter verschlechtert. Bereits in den frühen Morgenstunden gingen kräftige Schauer über Dresden nieder.
Allgemein gab ich in den Vorläufen nie 100%, es sei denn, ich hatte einen schlechten Start erwischt und befand mich irgendwo im Mittelfeld.
Ich gab immer gerade so viel, dass ich das Finale erreichte. Mit einem zweiten Platz im Vorlauf wäre ich vollends zufrieden.
Wegen der feuchten Witterung lief ich in dem Vorlauf noch etwas vorsichtiger.
Bis zur ersten Hürde waren es acht Schritte, dann ging es im Dreierrhythmus ganz flach über die übrigen Hürden. Rechts, Links, Rechts, Hürde, Rechts, Links, Rechts Hürde. Wer im Viererrhythmus lief oder den Rhythmus wechselte hatte von vorn herein verloren, dabei verging zuviel Zeit.
Die 83,82 cm wurden nicht übersprungen sondern elegant und flach überlaufen. Am besten so flach, dass man das Holz ganz leicht mit dem Nachziehbein spürt.
Ich gewann locker, obwohl ich die Hürden aus Sicherheitsgründen nicht so flach wie sonst überflog und war im Finale.
Nach der Mittagspause begann es fürchterlich zu regnen. Es war zwar nicht sehr kalt, aber die Muskeln bei so einem Wetter geschmeidig zu halten ist nicht einfach.
Wir rieben unsere Beine mit einer wärmenden Salbe ein und machten ständig Lockerungsübungen.
Die Bahn würde arschglatt sein, aber das wussten die anderen Teilnehmer auch. Es war ein Tanz auf dem Seil, entweder den Kopf beim Lauf mitdenken lassen, etwas vorsichtiger laufen und sicher ankommen oder auf Risiko gehen und das Denken ausschalten.
Jeder würde 100% geben, das war klar, aber diese 100% sind variabel.
Die Lautsprecher riefen zum Finale auf. Unsere Bahnen standen durch den Vorlauf fest. Durch meinen Sieg wurde mir die Bahn in der Mitte zugewiesen. Eigentlich machte es keinen Unterschied, Innen, in der Mitte oder Außen zu laufen, solange man sich nur auf sich selbst konzentriert. Die mittlere Bahn aber genießt den Vorteil, die Position der Gegner aus den Augenwinkeln zu erkennen. Und gerade dies kann im Notfall dem inneren Schweinehund noch einen Kick versetzen.
Jedes Ritual beginnt mit dem Einstellen der Startblöcke. Probestellung, Probestart, Gegner demoralisieren. Bis irgendwann der Starter seinen ersten Befehl gibt.
Jetzt entfernst du dich aus dem Gemeinschaftsraum und gehst in deine eigene individuelle Zelle. Jetzt bist du auf dich gestellt. Die Demoralisierungsstunde ist vorbei und der Starter übernimmt dich.
Es gibt gute Starter und schlechte Starter. Eigentlich brauchen sie ja nur „Auf die Plätze“ zu sagen, dann „Fertig“ und dann die Pistole abzuschießen.
Und dennoch, ein guter Starter sieht, wann jeder Sportler sich in seinen Startblöcken justiert hat, das Knie noch ganz locker am Boden und der Körper auf den nächsten Befehl wartet das Knie vom Boden zu lösen das Bein zu strecken um die Feder zu spannen
Ein guter Starter lebt diesen Start mit, als würde er selbst in den Startklötzen stehen.
Er weiß wann alle Federn aufgezogen und die Zeit reif für den Schuss ist.
Aber viele wissen es auch nicht, denen fehlt das Gefühl einfach.
Es ist egal in welcher Sprache er seine Aufforderung gibt. Jeder versteht es und jeder weiß, wann die mentale Phase des eher geruhsamen Sammelns vorbei ist und der Körper beim Anheben des Knies beginnt, Adrenalin zu spucken.
Diesmal hätte mir ein Fehlstart keinen Vorteil gebracht da ich als Einzige von unserem Club in den Startklötzen stand.
Der Start glückte sofort. Ich schoss als erste nach vorn.
Acht Schritte und ich überlief die erste Hürde. Ich führte immer noch.
Rechts, Links, Recht, Und
die zweite Hürde, ich führte, wurde schneller und dachte nicht mehr an das Millimeter tiefere Eindrücken in die nasse Bahn
Rechts, Links, Recht, Und
ich tuschierte etwas mehr die Hürde kam ins Straucheln,
Rechts, Links, ich fiel, rutchte auf der Bahn aus und blieb liegen.
Im ersten Moment spürte ich keinen Schmerz, war noch voll in meinem Adrenalinrausch.
„Vorbei, Verloren.“
Der Körper realisierte den Schmerz schneller als mein Geist, der sich noch mit dem entgangenen Sieg beschäftigte.
Aber er informierte mein Gehirn sehr schnell. Ich spürte wie ich blutete, überall Abschürfungen, ich rollte mich auf den Rücken und versuchte mich zu setzen, es misslang.
Zwei Betreuer liefen auf die Bahn mit unserem Arzt im Schlepptau. Zwei andere Helfer brachten eine Trage.
Der Doc tastete mich ab, Daumen hoch, er gab grünes Licht mich von der Bahn zu tragen.
Ich war tot unglücklich versagt zu haben.
Ich wusste in dem Augenblick nicht was mehr Weh tat, der verlorene Sieg oder die Schmerzen.
Dann kam mein Trainer.
Ein Schwall von Vorwürfen regnete auf mich nieder.
„Was war los mit dir? Was hast du dir dabei gedacht, du wusstest das die Bahn nass ist, da geht man doch nicht so knapp über die Hürden. Du hast unser gesamtes Team blamiert“ Motz, motz motz.
Der Sieg im 100m Lauf zählte nicht mehr, war vergessen.
Auf dem Weg zur Klinik wurde mir das erste Mal klar, dass ich im Internat nicht für meine eigenen Erfolge trainiert wurde, sondern zum Wohle der Trainer, zum Wohle derer, von denen ich abhängig war. Die mir Essen und Kleidung spendeten.
Aber wofür das alles? Für welche Interessen wurde ich missbraucht?
Der Arzt im Krankenwagen baute mich wieder etwas auf. Es wäre nichts gebrochen, keine Sehne gerissen. In der Klinik würde man das auch feststellen. Sicher war ich mir da nicht, und ich dachte plötzlich an diejenigen Athleten, die wir nach einem Unfall nie wieder im Internat gesehen hatten.
Ich hatte Glück, es war alles heile. Die unzähligen blauen Flecken die ihre Farbe in alle Nuancen des Regenbogens durchgingen erinnerten mich aber noch lange daran, wie erbarmungslos dieser Kosmos sein konnte, wenn man nicht die Leistung brachte, die erwartet wurde.
Ein Sieg ist für einen Athleten etwas Wunderbares. Ein Sieg erfüllt einen Wunsch. Er ist die Belohnung für die jahrelange harte Arbeit des Überstrapazierens von Muskelgruppen die für das tägliche Leben in dieser Weise nicht benötigt werden.
Ein Sieg gehört dem Gewinner allein.
Aber ein einzelner sportlicher Sieg ist vergänglich und verliert schnell an Bedeutung.
Man erschafft kein Bild, man komponiert kein Lied, es sind nur Rekorde der Vergänglichkeit und nicht für die Ewigkeit.
Für die Obrigkeit ist der Sieg eines einzelnen Athleten nur eine Zahl. Je mehr Zahlen sie vorweisen kann, desto höher sieht sie sich in der Bewertung mit anderen Obrigkeiten.
Das Volk bejubelt den Einzelnen in dem Augenblick des Wettkampfes und setzt seine ganze Hoffnung in ihn. Wenn er siegt habe ich, der Zuschauer, der dieser Nation angehört, gewonnen. Verliert er, fällt er in Ungnade, denn ich, der Zuschauer, der durch meinen Ansporn Unermessliches zu seinem Sieg beigetragen habe, wurde aufs Tiefste enttäuscht.
Am Ende eines Wettkampfes werden die Medaillen gezählt.
Das Land mit den meisten Siegen steht an erster Stelle.
Der Athlet, der Mensch als Individuum, wird in das große Loch der Nebensache abgelegt. Er ist nur noch die Befestigung einer Medaille.
Ich ärgerte mich natürlich auch, bei so einem Wetter hätte ich die Hürde nicht so flach überlaufen dürfen. Aber der Sieg im 100m Lauf hatte mich wenigstens etwas über diesen Fehler hinweg getröstet.
Ich war in jeder Beziehung um Erfahrungen reicher.
Ein Sieg hat viele Anhänger, eine Niederlage nur einen Schuldigen, den Athleten.
(Verfasser Frau Bifi)