Die Welt im Spiegel
Es gibt sie, die Welt im Spiegel. Auch wenn viele es nicht wahrhaben wollen, hinter dieser Glasscheibe, die je nach Alter der schimmernden Scheibe, entweder mit Aluminium oder, die älteren, mit Silber beschichtet wurden. Glauben wir wirklich, dass diese Dimension nur existiert für den Moment, in dem wir in sie hineinblicken? In einen kleinen Ausschnitt einer unendlichen Spiegelwelt. Sie ist immer da, die Scheiben der Spiegel machen sie für uns nur sichtbar. Fenster in die seitenverkehrte Welt. Alles hinter der Scheibe ist verdreht.Hättest du die Möglichkeit in diese Welt einzutreten, würdest du dich wundern. Bist du hier, auf unserer Seite, Rechtshänder, wirst du dort drüben in deiner linken Seite deine Stärken entdecken. Das Muttermal auf deiner rechten Wange, dort könntest du es auf deiner linken finden. Die Sonne geht im Westen auf, versinkt im Osten. Lesen müsstest du auf einmal von rechts nach links, schreiben ebenso. Sprache gibt es jedoch keine. Spiegelbilder können nur sehen. Hören, sprechen, fühlen, riechen und schmecken ist ihnen unmöglich. Genauso wie du sie auch nur sehen kannst. Alles andere gehört zu unserer Welt. Die Welt im Spiegel ist, akustisch betrachtet, eine sehr ruhige Welt.
Alles existiert also mindestens zwei Mal. Hier und in der Spiegelwelt. Stets parat, stets darauf wartend, zum Einsatz zu kommen. Hektisch geht es in der Spiegelwelt zu, denn niemand weiß, von welchem Spiegel du dich in der nächsten Zeit spiegeln lässt. Der kleine Handtaschenspiegel, der Spiegel in der Sonnenblende deines Autos, Schaufensterscheiben, Busfenster – unsere Spiegelbilder sind ständig unterwegs. Sie sind nicht an einen festen Körper gebunden. Ihre Moleküle kreisen abwartend im gespiegelten Raum, sofort bereit sich zu manifestieren, trittst du vor eine spiegelnde Fläche. Sehr mühsam sind unruhige Oberflächen, wie z.B. eine Wasseroberfläche, die eines konkaven Suppenlöffels oder eines polierten Wasserkessels. Diese verzerrten Bilder lösen in der Spiegelbild jedes Mal stumme Lachattacken unter den pausierenden Spiegelbildern aus, wenn sich einer der ihren in die unmöglichsten Formen verziehen muss. Sie sind eigentlich perfekte Pantomimen. In Bruchteilen einer Sekunde müssen sie sich an unsere Bewegungen anpassen, dürfen keiner unserer Aktivitäten hinterherhinken. Richtig anstrengend wird es, betrachtest du dich in mehreren Spiegeln gleichzeitig. In diesen anderen Spiegeln kannst du dann die Spiegelbilder deines Spiegelbildes entdecken.
Wer hat sich nicht schon mal gewundert, beim morgendlichen Blick in den Spiegel, wer ihm da eigentlich entgegenblickt? Vermutlich hat das Spiegelbild eine wüste Nacht hinter sich und kann sich momentan nicht besser zeigen, und wir wundern uns, wie schlecht wir heute aussehen, ohne erkenntlichen Grund. Erst im Laufe des Tages nutzen dann die Spiegelbilder ihre Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn dein Spiegelbild dir jedoch nicht wohl gesinnt ist, wirst du den ganzen Tag über ein schreckliches Bild erblicken. Hast du dich daraufhin dazu entschlossen, für diesen Tag nicht mehr in den Spiegel zu schauen, wird sich dein Spiegelbild sicher freuen, da es dann endlich dazu kommt, seinen Rausch auszuschlafen. Üblicherweise ist am nächsten Tag dein Spiegelbild dann wieder gut aufgelegt.
Dass die Spiegelwesen keine festen Körper haben können, erklärt sich auch darin, wenn man sich in einem gesprungenen Spiegel betrachtet. Der Kopf abgeknickt, viele kleine Sprünge über den ganzen Körper verteilt, Extremitäten verschoben, Lippen durchtrennt, ohne dass der Körper auf unserer Seite auch nur eine Blessur zeigt. Trittst du dann jedoch vor eine unversehrte Stelle des Spiegels ist alles sofort einwandfrei.
Oder kleine Kinder, die ihre Nasen ständig an die glänzende Fläche drücken. Zyklopenähnliche Wesen, sabbernd und unverständliche Worte brabbelnd, die mit feucht-klebrigen Patschhändchen gegen die Scheibe hämmern. Entdecken sie in ihrem Spiegelbild einen Spielkameraden?
Vielleicht erkennen sie ja auch, durch diesen unmittelbaren Kontakt mit der Spiegelwelt, dass es dahinter noch weiter geht?
Sind in der Spiegelwelt alle je gespiegelten Wesen gespeichert? Könnten wir dort vielleicht unsere Verstorbenen treffen? Woher sollte die Spiegelwelt wissen, dass ein Wesen auf unserer Seite vergangen ist? Irrt das Spiegelbild eines Verstorbenen auf ewig umher? Entstammen daher die Mythen, dass jemand plötzlich seinen längst verstorbenen Opa im Spiegel hinter sich stehen sah?
Allerdings kann man sein Spiegelbild fotografieren. Nimm z.B. dein Gesicht, blicke in den Spiegel und bann es in der Kamera. Du wirst dich wundern, wie seltsam dein gespiegeltes Gesicht auf diesen Bildern aussieht.
Spiegelbilder sind Momentaufnahmen, deren Unvergänglichkeit mit jeder Sekunde vergeht. Wesen ohne eigenen Schatten, ohne Sonne, ohne Jahreszeiten, für immer gefangen in einer Welt, deren einzige Freiheit in dem Blick durch die spiegelnden Fenster besteht.
Bist du wirklich sicher, wenn du dich vom Spiegel entfernst, dass dein Spiegelbild verschwunden ist?