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Nach vorn sehen

*****_nw Mann
505 Beiträge
Themenersteller 
Nach vorn sehen
Es würde nicht überraschend kommen. Sie würde gar keine Zeit haben, überrascht zu sein. Es würde sein wie das Ausblasen einer Kerze, ein kurzer Stoß und dann ewige Dunkelheit. Von einer Brücke zu springen, zu wissen: jetzt!, so sollte es nicht sein. Es sollte einfach passieren. Sie wollte nichts dazu tun.

Alles in ihrem Leben hatte sie kommen sehen, nichts hatte sie abwenden können. Jetzt wollte sie es nicht mehr kommen sehen. Es sollte ihr zustoßen, so wie anderen Menschen Dinge zustoßen, und niemand hat daran Schuld. Unglücke eben, Pech. Sie wusste, dass es für ihre Lage einen Schuldigen gab, dass es kein Unglück und kein Pech war. Und konnte doch nichts ändern, weil sie selbst die Schuldige war.

Es war schwül. Sie trug einen kurzen, weiten Rock und Wanderschuhe. So gut es ging hatte sie sich die Ohren verstopft, die dicke Wintermütze mit den Ohrenklappen darübergezogen und fest unter dem Kinn verschnürt. Soviel hatte sie noch geplant. Nun ging sie zwischen den Gleisen, immer von Schwelle zu Schwelle. Fünf Minuten. Oder schon dreißig. Nachts, nicht wegen der Dunkelheit, sondern weil dann nur noch vereinzelte Güterzüge fuhren, brav auf dem für ihre Richtung vorgesehenen Gleis.

Als junges Mädchen, ja, da hätte sie vielleicht noch etwas ändern können. Sich von solchen Typen fernhalten, die sie wie Dreck behandelten und von denen sie doch nicht loskam. Immer hatte sie versucht, es ihnen recht zu machen, glaubte wirklich, es liege an ihr, wenn man sie schlug und demütigte. Wenn sie dann einer rettete, wie sie es nannten, war er nur schlimmer als der davor. Sie war sicher, dass es immer so sein würde. Weil es eben an ihr lag.

Nicht weit entfernt zuckte ein Blitz durch den Nachthimmel.

Sie spürte den Donner in ihrem Bauch, aber hörte nichts. Jetzt konnte sie sicher sein, dass es funktionieren würde. Jetzt musste sie nicht mehr befürchten, den Zug zu bemerken und doch noch zur Seite zu springen.

Was aber, wenn sie ewig so weitergehen müsste, weil kein Zug mehr kam? Ob man sie aufgreifen und nach Hause schicken würde, wo sie lieber tot sein als noch einen Tag aushalten wollte? Oder ob sie irgendwohin käme, wo sie ganz von vorn anfangen könnte? In eine Gegend mit netten Menschen, nicht zurück in dieses trostlose Loch voller Säufer und Spieler?

Plötzlich war es ihr klar: Darin hatte ihre Schuld bestanden! Nicht zu erkennen, dass sich alles ändern könnte, wenn sie ihr Leben selbst in die Hand nahm, statt immer nur zu reagieren! Zum ersten Mal seit langem musste sie lachen. Gleich morgen würde sie ein paar Dinge zusammenraffen, die ihr heilig waren, ein paar Fotos vielleicht, auf jeden Fall den Ring, und einfach verschwinden. Ein bischen Geld hatte sie ja trotz allem sparen können, das würde reichen, um erst einmal über die Runden zu kommen. Und dann würde man sehen. Eigentlich war sie schon mit viel Schlimmerem fertiggeworden, auch das hatte sie nie bedacht. Es würde wunderschön werden! Sie spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem strahlenden Lächeln verzog.

„Ich denke, wir sollten weitersuchen, Officer. Der Lokführer ist sich so sicher, im Blitzlicht eine Frau vor sich auf den Schienen gesehen zu haben. Und schließlich haben wir diese seltsame Mütze gefunden, genau so eine, wie er sie beschrieben hat.“
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Puh, heftig. Besonders der offene Schluß.
Spannend!

LG
Rhabia
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Ich schließe mich Rhabia an: ein irritierender Schluss, der eigentlich klar ist ... und dann doch wieder nicht.

(Der Antaghar)
gänsehaut Ich möchte glauben, dass sie die Kurve gekriegt hat und ihr Lächeln in die Welt trägt....ergreifend*blume*
volatile
*******aum Frau
16.590 Beiträge
Das möchte ich auch glauben.

Ein sehr eindringlicher Text!
Ich finde es sehr dramatisch, kurz vor dem Tod zu erkennen, was man hätte ändern können, hätte man denn noch Zeit. *hae*

Luna
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
"Veronika beschließt zu sterben" - dieses phantastische Buch von Paulo Coelho, behandelt ja eine ähnliche Thematik: Als eine Frau nach einem mißlungenen Selbstmordversuch sich überraschend verliebt und plötzlich Freude am Leben findet, da erweist sich, dass ihr mißlungener Suizid gesundheitliche Folgen hatte, an denen sie nun doch sterben wird.

Diese Geschichte bringt das Thema fast noch "brutaler" auf den Punkt.

(Der Antaghar)
Ein dickes Kompliment für diese Story !! *bravo*

Ich verstehe nicht viel von stilistischen Fragen,
aber die Art, wie Deine Geschichte in meinem
Kopf Bilder und Filmsequenzen angetriggert hat,
hat mich sehr beeindruckt.

LG
Dieter
*****_nw Mann
505 Beiträge
Themenersteller 
Danke euch allen...
...und besonders an dornroeschen, meine gnadenlose Lektorin, die mich glücklicherweise dazu bewogen hat diesen Text erst einmal (und dann für Wochen) in die "Misslungen"-Schublade zu stecken.

Die ursprüngliche Fassung hatte noch logische Ungereimtheiten, die die beabsichtigte Wirkung behindert haben. Ich bin zwar immer noch nicht ganz zufrieden (besonders ärgert mich

Soviel hatte sie noch geplant.

es hatte doppelbödig

So viel hatte sie noch geplant.

heissen sollen. Mist.), aber eure Kommentare zeigen mir, dass es jetzt funktioniert.

@*****har: Obwohl ich oft rot werde, wenn ich ein ewig nicht gelesenes Buch zur Hand nehme und eine 'verschüttete Quelle' entdecken muss, hierbei ist es nicht so.

Lasst ihr eure Texte (manchmal) von jemand anderem lesen? Hier im Forum wird mit negativer Kritik ja eher gespart (was nicht verkehrt ist, denke ich).
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
@ byron_nw
Ich meine auch gar nicht, dass Du "abgeschrieben" hast oder Dich hast inspirieren lassen - ich finde sogar eher, dass Du eine ähnliche (nicht die gleiche!) Thematik noch krasser "kumuliert" hast, was ein Kompliment verdient.

(Der Antaghar)
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Ich lese meine Texte meistens meiner besten Freundin und härtesten Kritikerin am Telefon vor.
Sie waschelt mir dann immer um die Ohren, was ich für einen Stuss geschrieben habe, wenn's mal wieder unlogisch wird.
*****_nw Mann
505 Beiträge
Themenersteller 
@antaghar
Oh, keine Angst, ich fühlte mich nicht angegriffen, selbst wenn ich Cuelhos Buch gelesen hätte. Im Gegenteil, mir gefällt die Vorstellung, dass wir alle an einem immer engeren Gedankennetz spinnen, das doch nie fertig werden kann.

Und wenn uns partout nichts Neues mehr einfallen sollte, nennen wir es einfach Jazz-Prosa. Dann ist das Zitieren und Umformen part of the deal.
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****ia Frau
22.263 Beiträge
Mir fällt da wieder mal das wundervolle Lied von Hermann van Veen ein "Da war ein Mann, der wollt so gerne nicht mehr leben."
gnadenlos
danke, byron_nw,
ich denke, ich werde nie wieder stories von dir kommentieren

- du hast zwar dran gefeilt und es echt besser gemacht, aber ich denke, meine reaktion aufs erste lesen war zu sehr beeinflusst von der traurigkeit, die es "triggerte".

ihr habt recht, dass die idee, der gedanke, zu spät zu sein, und wie es hier umgesetzt wurde, sehr ergreifend ist. ich konnte wohl nicht damit umgehen.

dass byron_nw ein genialer geschichtenerzähler und perfektionist ist, weiss ich trotzdem besser als ihr alle - und ich werd ihn nie wieder belehren wollen...

weiter so
gruß,
dea
Herbst 2018
***to Mann
4.270 Beiträge
Für mich hat sie eine falsche Fährte gelegt,
damit sie neu anfangen kann, ohne von der äußeren Vergangenheit eingeholt zu werden.

Die Innere nimmt sie als Weisheit mit.
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