Nach vorn sehen
Es würde nicht überraschend kommen. Sie würde gar keine Zeit haben, überrascht zu sein. Es würde sein wie das Ausblasen einer Kerze, ein kurzer Stoß und dann ewige Dunkelheit. Von einer Brücke zu springen, zu wissen: jetzt!, so sollte es nicht sein. Es sollte einfach passieren. Sie wollte nichts dazu tun.Alles in ihrem Leben hatte sie kommen sehen, nichts hatte sie abwenden können. Jetzt wollte sie es nicht mehr kommen sehen. Es sollte ihr zustoßen, so wie anderen Menschen Dinge zustoßen, und niemand hat daran Schuld. Unglücke eben, Pech. Sie wusste, dass es für ihre Lage einen Schuldigen gab, dass es kein Unglück und kein Pech war. Und konnte doch nichts ändern, weil sie selbst die Schuldige war.
Es war schwül. Sie trug einen kurzen, weiten Rock und Wanderschuhe. So gut es ging hatte sie sich die Ohren verstopft, die dicke Wintermütze mit den Ohrenklappen darübergezogen und fest unter dem Kinn verschnürt. Soviel hatte sie noch geplant. Nun ging sie zwischen den Gleisen, immer von Schwelle zu Schwelle. Fünf Minuten. Oder schon dreißig. Nachts, nicht wegen der Dunkelheit, sondern weil dann nur noch vereinzelte Güterzüge fuhren, brav auf dem für ihre Richtung vorgesehenen Gleis.
Als junges Mädchen, ja, da hätte sie vielleicht noch etwas ändern können. Sich von solchen Typen fernhalten, die sie wie Dreck behandelten und von denen sie doch nicht loskam. Immer hatte sie versucht, es ihnen recht zu machen, glaubte wirklich, es liege an ihr, wenn man sie schlug und demütigte. Wenn sie dann einer rettete, wie sie es nannten, war er nur schlimmer als der davor. Sie war sicher, dass es immer so sein würde. Weil es eben an ihr lag.
Nicht weit entfernt zuckte ein Blitz durch den Nachthimmel.
Sie spürte den Donner in ihrem Bauch, aber hörte nichts. Jetzt konnte sie sicher sein, dass es funktionieren würde. Jetzt musste sie nicht mehr befürchten, den Zug zu bemerken und doch noch zur Seite zu springen.
Was aber, wenn sie ewig so weitergehen müsste, weil kein Zug mehr kam? Ob man sie aufgreifen und nach Hause schicken würde, wo sie lieber tot sein als noch einen Tag aushalten wollte? Oder ob sie irgendwohin käme, wo sie ganz von vorn anfangen könnte? In eine Gegend mit netten Menschen, nicht zurück in dieses trostlose Loch voller Säufer und Spieler?
Plötzlich war es ihr klar: Darin hatte ihre Schuld bestanden! Nicht zu erkennen, dass sich alles ändern könnte, wenn sie ihr Leben selbst in die Hand nahm, statt immer nur zu reagieren! Zum ersten Mal seit langem musste sie lachen. Gleich morgen würde sie ein paar Dinge zusammenraffen, die ihr heilig waren, ein paar Fotos vielleicht, auf jeden Fall den Ring, und einfach verschwinden. Ein bischen Geld hatte sie ja trotz allem sparen können, das würde reichen, um erst einmal über die Runden zu kommen. Und dann würde man sehen. Eigentlich war sie schon mit viel Schlimmerem fertiggeworden, auch das hatte sie nie bedacht. Es würde wunderschön werden! Sie spürte, wie sich ihr Gesicht zu einem strahlenden Lächeln verzog.
„Ich denke, wir sollten weitersuchen, Officer. Der Lokführer ist sich so sicher, im Blitzlicht eine Frau vor sich auf den Schienen gesehen zu haben. Und schließlich haben wir diese seltsame Mütze gefunden, genau so eine, wie er sie beschrieben hat.“