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Die Kreuzer (Teil 1)

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Vermeintliche Absturzstelle in Magyarslam, 76 n. U.

Mehrere verdutzte Gestalten saßen in der kleinen Maschine, die vor einer Stunde erst von Viyanna gestartet war und nun unerwartet kurz nach dem Großen Freudesee auf einer Wiese gelandet war. Ob es eine Notlandung oder ein planmäßiger Zwischenstopp war, wusste niemand. Die Passagiere, bis auf einen, waren das Fliegen gewöhnt und gerade diese ungewöhnlichen Landungen waren keine Seltenheit und wenig beunruhigend. So waren sie auch jetzt gelassen.

Die Ruhe änderte sich allerdings, als der Kabinenchef aufgeregt zum Cockpit vorlief. Dort hämmerte er mit den Fäusten heftig gegen die Tür, die sich nur für einen Moment öffnete. Kreidebleich drehte sich der Mann um und rannte den Gang entlang zurück zum Notausgang. Niemand konnte sehen, was weiter passierte, alle starrten sie zur Cockpittür. Sie hörten nur, wie sich der Ausstieg öffnete und hernach wieder schloss. Anschließend war es totenstill. Nur der Atem der Personen in der Kabine war zu hören. Plötzlich schien es einem der Männer zu reichen. Er wirkte wie jemand, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte. Er war klein, dick, beinahe kahlköpfig und hatte kleine Schweinsäuglein. Unter seinen Achseln waren hässliche Schweißflecken zu erkennen, dabei war es in der Kabine alles andere als warm. Er war also mehr als aufgeregt, eventuell wies die erhöhte Schweißproduktion auch auf eine Erkrankung hin. Seine ganze Haltung ließ dennoch nichts an Arroganz vermissen. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, ging er zur Pilotenkanzel, denn der Kabinenchef ließ sich nicht mehr blicken, nachdem er das Flugzeug verlassen hatte. Doch auch dort wurde seine Neugier nicht befriedigt. „Zurück auf Ihren Platz!“, befahl der Copilot, ein breitschultriger Mann, dessen ganzes Gebaren schon Ehrfurcht einflößend war, dazu kamen noch die Uniform und die Pistole, die seinen Worten auf entscheidende Weise Nachdruck verlieh. Auf die zornigen Rufe des Mannes hin, war er aus dem Cockpit getreten und nun tat sich für die Passagiere tatsächlich eine gefährliche Situation auf.
„Was verlangen Sie an Lösegeld?“, schrie einer, dann der dicke Mann wieder: „Was wollen Sie von uns? Fliegen Sie gefälligst weiter! In der Hölle sollst du schmoren, verdammter Ungläubiger!“
Viktor beobachtete das von seinem Platz aus. Interessiert schaute und hörte er zu. Er hatte nicht vor, sich zu früh einzumischen.
Flugzeugentführung war etwas, das es seit der Unterwerfung nicht mehr gegeben hatte. Früher war das ein Instrument des Wahren Friedenszuges der Friedgläubigen gewesen, sozusagen ein Instrument der Missionierung. Nun fragte er sich, wer dieses Relikt des Terrors wohl ausgegraben haben mochte und was mit ihm hie geschehen würde. Die anderen Leute interessierten ihn herzlich wenig, es handelte sich nur um regimetreue Abgeordnete, die in irgendeinem geheimen Auftrag nach Temswar unterwegs waren, auf die konnte jeder einzelne Bürger seiner Meinung nach getrost verzichten. Einzig die Flugbegleiterin, die schüchtern im hinteren Teil des Fliegers saß, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Aber sie wirkte nicht wie jemand, der sich auf ein Abenteuer einlassen würde. Sicher sein konnte man sich allerdings nie, diese züchtigen Hauben schienen nicht nur die Haare sondern auch den Menschen darunter zu verstecken. Vorsichtig schaute er sich in der Kabine um, der Mann zu seiner linken, hatte die Augen geschlossen und die Hände auf dem Bauch gefaltet. Er schien zu schlafen, aber Viktor erkannte, dass er unter den halbgeschlossenen Lidern alles genau beobachtete. Vor ihm saß noch ein Mann, von ihm konnte er nur die Kopfbedeckung erkennen, er atmete schwer und hatte die Finger um die Armlehnen gekrampft. Noch ein Stück weiter, war der Mann, der sich vorhin beschwert hatte. Nun saß er steif auf seinem Platz und Viktor bemerkte, wie er immer wieder versuchte, etwas zu sagen, es dann aber unterließ. Hinter ihm waren noch einige Reihen, die aber leer geblieben waren.
Die Maschine war, wie alle anderen seit über 70 Jahren nur für Regierungszwecke in Betrieb. Es gab keine privaten Fluglinien und auch keinen privaten Flugverkehr, höchstens für Geschäftszwecke und auch das war eher selten. Geschäfte wurden über das Internationale Computerfreundschaftsnetzwerk „Gesichtsbuch“ ausverhandelt und dann per Bildübertragungskonferenz ausgemacht. Diese Netzwerke wiederum waren einigen privilegierten Menschen vorbehalten, die sich besonders für die Ausbreitung des Friedensglaubens in der Welt hervorgetan hatten und deren Familien. Flüge und Fernreisen in andere Weltgegenden waren ebenso nur dieser Bevölkerungsschicht vorbehalten. Die Meisten hatten ihr Geld mit der Ausbeutung fremder Systeme gemacht. Nun lebten sie von den Zinsen und beraubten weiter die Ressourcen der Bevölkerung, hungerten sie quasi aus, indem sie ihnen die neue Lebensweise aufzwangen.

Viktor gehörte weder zu einem wichtigen Stab noch war er ein reicher Geschäftsmann. Als kleiner Polizist war es ein Wunder, wenn man ein Flugzeug überhaupt aus der Nähe zu sehen bekam und nun saß er hier in einer allem Anschein nach entführten Maschine und fragte sich, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte, wem er seine Loyalität schuldete. Während er an all das dachte, fühlte er die Disk in der Innentasche seiner Jacke und plötzlich hatte er eine Melodie im Kopf und er summte leise ein altes Lied: „… how many of them can we make die …“ Erschrocken über diese Worte, die er nur zum Teil verstand, hielt er inne und er wusste, wie im Zweifel seine Entscheidung ausfallen würde. Es war, wie vor wenigen Tagen auf dem Hof seines Bruders, der nur noch die Asche der Erinnerung war. Mit Ingrimm dachte er daran, dass niemand die Artefakte finden konnte, so gut hatte er gearbeitet. Leider waren auch viele Kunstschätze dabei verloren gegangen.

Er tastete gerade nach der Diskette, da ging der Copilot nach hinten. Die Pistole lag in seiner Hand, doch Viktor erkannte, dass der Mann nicht auf der Hut war. Er rechnete wohl nicht mit einem Angriff der Passagiere. Das fand Viktor bemerkenswert. Schon war er versucht, dem Mann ein Bein zu stellen und ihn zu entwaffnen, immerhin hatte er die Ausbildung das zu schaffen. Doch er unterließ den Versuch. Es war ihm wichtiger, zuerst herauszufinden, was die Entführer wollten und wo er hier gestrandet war. Später konnte er sich noch immer mit einem Fluchtplan befassen. Einfach ins Blaue hineinzurennen brachte nichts anderes als noch mehr Ärger, hielt er sich vor Augen. Bewusst atmete er ruhig und gleichmäßig, denn der Mann mit der Pistole machte ihn doch einigermaßen nervös.

Der Glatzkopf weiter vorne hingegen, schien vor Zorn zu beben. Viktor erkannte es an dessen immer wieder unterbrochenen Bewegungen. Nun stand er tatsächlich auf und brüllte: „Was wollt ihr von uns? Ich bin Minister Hasim Obermann und zuständig für den Inneren Frieden in Mitteleuron. Ich verlange eine Erklärung! Dieses Verhalten ist gegen das Gesetz!“ Das brachte den Copiloten dazu, sich umzudrehen und die Waffe erneut zu heben. In diesem Moment kam der Pilot aus der Kanzel. Lässig schritt er den Gang entlang, hielt beim Minister kurz an und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Maulhalten, Feigling“, war alles was er sagte. Dann ging er auf Viktor zu und schaute ihm einige Zeit in die Augen. „Mitkommen“, befahl er. Viktor bekam es nun mit der Angst zu tun. Von Geiseln getrennt zu werden, war kein gutes Zeichen. Aber er stand widerspruchslos auf und folgte dem Kapitän. Die Flugbegleiterin erhob sich ebenfalls und Viktor stellte schaudernd fest, dass sie in ihren kleinen Händen eine Steyr TMP hielt. Er schluckte heftig, das Ding konnte einiges an Schaden anrichten und das in verdammt kurzer Zeit. Die Dame schien sich mit der Maschinenpistole auszukennen. Sie war also tatsächlich an Abenteuern interessiert. Das wiederum machte sie für Viktor attraktiv und er schaute sie genauer an. Das Haar trug sie noch immer nach althergebrachter Sitte unter einem Tuch, sodass nur ein Dreieck ihres Gesichts zu sehen war. Auch vom Körper sah er nicht mehr als ihre Hände, welche die gefährliche Waffe ruhig auf ihn richteten. Dann schwenkte sie ab und hielt sie auf die drei anderen Passagiere. Während er ausstieg, hörte er sie mit derselben angenehmen, melodischen Stimme, die ihnen die Notfallmaßnahmen erklärt hatte, sagen: „Meine Herren, schnallen Sie sich bitte an und nehmen Sie die Sicherheitsposition ein – wir werden in wenigen Minuten abstürzen.“ Nach ihrer Rede feuerte sie den Gang entlang. Sofort schlossen sich die Sicherheitsgurte und die Rücken bogen sich. Dann folgte sie den beiden Piloten und Viktor.

Er fühlte sich alles andere als wohl, als er auf einen Lastwagen zugeschoben wurde. Erst wollte er sich weigern, einzusteigen, doch ein Wink mit der Pistole half ihm zu einer rascheren Entscheidung. Den Helden wollte er nicht spielen. Gerade als er auf der Ladefläche platz genommen hatte, gab es eine Erschütterung und dann schoss ein Feuerball in die Luft. Das Flugzeug war explodiert. „Ja, Freund Kreuzer, deine Maschine ist über Magyarslam abgestürzt. Hast noch Glück gehabt, Alter“, meinte der Copilot. An die Frau gewandt fuhr er fort: „Sind genügend Leichen vorhanden?“
„Ja, alles wie geplant.“
„Dann fahren wir.“
Den Rest der Unterhaltung verstand Viktor nicht mehr, denn die Plane wurde herabgelassen und er saß im Dunkeln. Dann hörte er Autotüren schlagen, der Motor startete und in halsbrecherischem Tempo ging es eine unbefestigte Piste entlang, die bald darauf in eine breite Straße mündete. Viktor fragte nicht mehr, wohin sie fuhren. Er wusste nur, dass es Richtung Osten ging, ins Gebiet von Romslam hinein, einer Provinz in Magyarslam, die einige unwirtliche Gegenden barg, mit guten Versteckmöglichkeiten. Er legte sich auf den Boden und versuchte, nicht zu sehr auf der Ladefläche herumzurutschen. Mehrmals stieß er sich an der Bordwand an, doch noch hatte er keine Position gefunden, welche die Reise angenehmer machen würde.

Sie fuhren den ganzen Tag, durch die Nacht und einen weiteren Tag. Immerzu waren monotone Gesänge aus dem Empfänger zu hören, die Viktor langsam wahnsinnig zu machen drohten. Erst als es ins Gebirge hinauf ging, wurde die Musik abgestellt und Viktor atmete erleichtert auf. Für ihn war das die reinste Folter gewesen. Die anderen waren mit Gehörschutz versehen und gaben mittels altertümlichen Morsezeichen dem Funker an ihrem Treffpunkt über ihre Ankunft Bescheid.

Er saß auf dem harten Boden, wurde durchgeschüttelt und wusste langsam nicht mehr, wie er die zunehmende Kälte aushalten sollte. Als er schon dachte, er würde erfrieren, tat sich ein Schiebefenster auf und eine Hand reichte ihm eine Decke durch, dazu kam noch eine Thermoskanne, aber kein Wort der Erklärung.
‚Der kleine Mistsack hat mich Kreuzer genannt, vielleicht ist er mit Karol bekannt? Danninger wird er nicht kennen. Wenn ich nur wüsste, was hier gespielt wird und warum sich Karli auf diesen Mist eingelassen hat. Die Neugier ist der Katze Tod, hat Oma immer gesagt – recht hatte sie’, dachte er düster. Je länger ihm die Nacht vorkam und je kälter es wurde, desto dunkler und zorniger wurden seine Gedanken. Sein Groll richtete sich gegen die Entführer. Zunehmend steigerte er sich in einen Hass, den er selbst nicht ganz verstehen konnte. Es war unfassbar in diesem Land, das angeblich so friedlich sein sollte, dass Menschen gekidnappt wurden, ermordet, wie der Minister und die anderen Männer an Bord der Maschine und dass sein Bruder wegen einiger nutzloser Gegenstände aus seinem Haus fliehen musste. Alles verschwamm zu einem einzigen Bild und bald rannen auch die Farben ineinander, mischten sich, bis am Ende, wie bei Knete, nur noch ein hässliches Grau übrig war. „Nein!“, schrie er erschüttert, als er im Morgengrauen meinte, eine tiefgreifende Erkenntnis gewonnen zu haben.

Die Leute vorne beachteten ihn nicht und trieben den alten Lastkraftwagen weiter in die Berge. Sie hielten nur wenige Male für kurze Zeit an, um den Treibstoff aufzufüllen und für Pinkelpausen. Zu diesen Zeiten durfte auch Viktor die Ladefläche verlassen und er schaute sich interessiert um. Die Gegend erinnerte ihn entfernt an die Gebirgslandschaft im alten Windisch, dort hatte er einige Jahre Dienst getan, so waren ihm hohe Berge vertraut. Doch diese waren anders, weniger hoch, doch karstiger. Wenn er nicht so verängstigt, unterkühlt, unausgeschlafen und hungrig gewesen wäre, hätte er die Gegend als durchaus reizvoll empfinden können. Besonders der Sonnenaufgang malte an diesem Tag die wunderschönsten Farben in die Landschaft, die kein Maler keiner Zeit in dieser Intensität mischen konnte. Doch für einen Augenblick nahm ihn der Anblick gefangen und entführte ihn in eine Zeit der Künste und der Wissenschaften, als es noch weniger Frieden und dafür mehr Kultur gegeben hatte.

Nach diesem Halt ließen sie den Wagen zurück, nahmen Viktor in die Mitte und dann gingen sie zu Fuß weiter. Die Frau war zurückgeblieben, die Steyr TMP hatte sie an einen der Männer übergeben, die mittlerweile die Uniformen gegen das einheitliche braune Gewand der Bergbevölkerung getauscht hatten. Danach war sie in einem heruntergekommenen Haus verschwunden. Viktor hätte sie gerne näher kennengelernt, er fand sie anziehend. Doch nun konzentrierte er sich auf den bevorstehenden Aufstieg. In seinem momentanen körperlichen Zustand brauchte er alle Willensanstrengung zu der er fähig war, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er hatte jetzt seit beinahe drei Tagen gefastet und sehr wenig geschlafen. Kalt war ihm noch immer. Bislang hatte ihn der Anblick der Frau etwas gewärmt, zumindest hatte sie es geschafft, dass er sich wärmer fühlte. Gerne hätte er ihren Namen gewusst, aber sie hatte nie das Wort an ihn gerichtet und ihn auch sonst gemieden, als hätte er eine ansteckende Krankheit.
„Wo sind wir?“, wagte er schließlich eine Frage zu stellen. Er schämte sich, weil seine Stimme zittrig und ängstlich klang. „Das wirst du noch früh genug herausfinden, Kreuzer“, antwortete der Pilot.
„Ich heiße nicht Kreuzer“, versuchte er es erneut.
„Nein? Da habe ich aber andere Informationen, Kleiner. Halt jetzt den Mund und geh. Wir reden, wenn wir zuhause sind.“
Stumm gingen sie weiter in die zerklüftete Bergwelt des Apusenigebirges.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Noch ein Teil ...
Garnison in Poltern, 76 n. U

Hyrtl hatte das Rennen souverän gewonnen und nun wurde er von seinen Kameraden bejubelt, obwohl ja Sigi, der Fahrer die meiste Arbeit geleistet hatte. „Gut gemacht“, lobte ihn der Kommandant wobei er ihm kräftig auf die Schulter klopfte. Sie hatten den Panzer an seine motorischen Grenzen getrieben und das Gefährt hatte die Tortur schadlos überstanden. „Hä, hä, hä … das alte Ding hat noch ganz schön was auf dem Kasten“, meinte Hyrtl stolz. Lachend kletterten sie nacheinander aus dem Luchs und weideten sich an ihrem Erfolg, da rannte ein Soldat aufreget auf sie zu. „Astsubay Hyrtl! Tegmen Kosner befiehlt Sie zum Rapport!“ Hyrtl blickte säuerlich, dann meinte er achselzuckend: „Ich komm gleich, sag dem Id … nein, sag nichts. Ich bin gleich da.“ Der Tegmen, was einem früheren Leutnant entsprach, war ein Mann der Tat und er liebte es, seine Untergebenen zu bestrafen. Hyrtl nahm an, es lag an seiner Verdauung, der Mann aß einfach zuviel Knoblauch, das musste irgendwann einmal zu Magendrücken und Blähungen führen und somit zu chronisch schlechter Laune, außerdem mutmaßte er, dass der Mann so fromm war und lieber auf die Jungfrauen im Jenseits wartete, statt sich der Damen im Diesseits anzunehmen. Dieser Theorie widersprach aber die Tatsache, dass er zahlreiche Kinder hatte. ‚Dann frisst er entweder zuviel Knofi oder er kommt nicht zum Schuss’, dachte er wie jedes Mal, wenn er zum Rapport musste, weil er angeblich irgendetwas Regelwidriges verbrochen hatte.
„Hans, Alf und Sigi! Macht den Kleinen flott und füttert ihn für die nächste Ausfahrt! Dann ruht euch aus“, befahl er, legte die rechte Hand auf den Griff seiner MP7 und sofort fühlte er sich wohler. Danach spazierte er in gewohnt gemächlicher Art zu seinem Vorgesetzten.

Seit zehn Jahren leistete er sich diese lässige, beinahe schon provozierende Art und keiner tat etwas dagegen. Damals hatte er herausgefunden, dass er zu den wenigen Leuten bei den Landfriedensschützern gehörte, die sich mit der Mechanik der Fahrzeuge auskannten, auch war er ein hervorragender Panzerfahrer, der einzige, der den Luchs in und auswendig kannte. Seine Männer folgten ihm auf ein Blinzeln hin und das machte ihn zu einem vorzüglichen Kommandanten, aber mehr als Astsubay würde er nicht werden, dazu war seine Abstammung nicht rein genug, wie bei 90 Prozent der Bevölkerung. Die Führung in Viyanna und speziell hier in Poltern knirschte zwar mit den Zähnen, duldete bislang aber diesen begabten Eigenbrötler. Andere Kommandanten hatten ihre Teams so nehmen müssen, wie sie aufgestellt worden waren, Georg Hyrtl hatte sie selbst ausgesucht. Dieser Umstand wurde ihm von so manchem Panzerkommandanten übel genommen, aber sie unternahmen nichts gegen ihn. Ab und zu versuchte es einer mit einem Rennen, der bekam aber nur den gestreckten Mittelfinger von Hyrtl zu sehen, wenn der bei voller Fahrt aus der Turmluke schaute und ihnen noch eine Kusshand hinterher warf. Ebenso provozierend war der Aufkleber, den er an der Hinterseite seines Panzers prangte. Seine Mannschaft hatte sich kringelig gelacht, als er das vor einiger Zeit aufgeklebt hatte, die anderen hatten wütend geschnaubt. Dort stand jetzt, immer ordentlich von Dreck befreit: „Schluck meinen Staub!“ Das Ganze war in mehren Sprachen gehalten, damit es auch wirklich jede Ethnie bei den Landfriedensschützern lesen konnte.

Er ging in das Kommandogebäude und meldete sich ordnungsgemäß. Die sinnlose Aktion der letzten Tage hatte ihn müde gemacht und an den Nerven gezerrt, aber die Abschlussarbeit seines Teams hatte ihn wieder aufgerichtet.

„Feldwebel Hyrtl meldet sich wie befohlen zum Rapport, Herr Leutnant!“, rief er demonstrativ laut und ehrfürchtig. Kemal Kosner zuckte zusammen, diese Bezeichnung war nicht üblich und dennoch entsprach sie seinem Rang. Die zeitgemäßen Benennungen mochte Hyrtl nicht, sie waren Zungenbrecher, sein eigener Dialekt war ihm näher.
Kosner ließ ihn weiter stramm stehen und fragte eisig: „Was wissen Sie über den Verbleib des anderen Spähpanzers, der mit Ihnen auf Aufklärung war?“
„Herr Leutnant“, begann Hyrtl, den Blick starr auf ein Bild des Kalifen gerichtet, der sein Konterfei zwischen zwei Fenstern in den Raum strahlen ließ. Er fühlte sich von den braunen Augen des Mannes verfolgt. ‚Der hätte auch besser einen Schleier getragen, so etwas ist Folter’, dachte er angewidert beim Betrachten des hässlichen Gesichts. Dann sagte er: „Herr Leutnant, es war so. Wir kamen zu dem Bauernhaus, das uns genannt wurde und dort rannte uns Glaubenspolizist Danninger über den Weg. Hysterisch berichtete er, eine Bombe entdeckt zu haben, die er nicht entschärfen konnte und schon flog auch alles in die Luft, dazu brannte noch die Scheune lichterloh und das Vieh rannte wild geworden durch die Gegend. Umgehend begannen wir mit der Sicherung des Geländes, damit sich der Brand nicht ausweiten konnte. Wo sich Tegmen Osan zu der Zeit aufhielt, kann ich nicht sagen, Herr Leutnant. Später, als ich mit zweien meiner Männer das Gelände zu Fuß durchkämmt hatte, kam er auf den Hof. Wo genau er sich aufgehalten hat, weiß ich nicht. Ob er dem Befehl folgte, zurück in die Garnison nach Poltern zu fahren, weiß ich ebenfalls nicht. Wir haben die Order zur Rückkehr umgehend befolgt, Tegmen Kosner. Ich gebe aber zu, dass wir ziemlich flott unterwegs waren und nicht auf ihn geachtet haben. Vielleicht hat er sich verfahren? Was ist mit dem Funk?“ Hyrtl hielt nach wie vor den Blick auf das Foto des Kalifen Kopf gerichtet. Es fiel ihm leicht, ihm in Gedanken einige verzierende Striche hinzuzufügen und das Gesicht somit interessanter zu gestalten.
„Natürlich haben wir versucht, Kontakt herzustellen! Seit zwei Stunden haben wir keine Verbindung mehr zu Tegmen Osan! Ich will wissen, was mit ihm passiert ist! Es sind keine Ungläubigen hier in der Gegend, die einen Panzer angreifen würden.“
„Ich dachte, es gibt keine Ungläubigen mehr, Tegmen.“ Seine Stimme klang erstaunt und ein klein wenig Empörung schwang sogar darin mit. Niemand konnte Panzerhyrtl weniger als Friedgläubigkeit nachweisen.
„Sie können mir nichts weiter über den Verbleib von Tegmen Osan sagen?“, fragte der Zugsführer erneut, diesmal schärfer und ein unangenehmer Geruch nach Knoblauch schlug dem Panzerfahrer ins Gesicht. Er unterdrückte den Impuls zu stöhnen und sagte fest: „Nein, Herr Leutnant. Über den Verbleib des Spähpanzers von Leutnant Mahmed Osan und seiner Besatzung ist mir nichts bekannt.“
Eine Weile überlegte Tegmen Kosner, dann griff er zum Hörer und bellte einige Befehle hinein. Als der Hörer wieder auf der Gabel lag fuhr er Hyrtl an: „Das wird noch ein Nachspiel haben! Sollten wir den Spähpanzer nicht vor morgen Früh finden, dann geht das alles an den Kompanieführer! Ich mache Sie dafür verantwortlich! Wegtreten!“ Hyrtl salutierte nachlässig und ging rasch aus dem Zimmer. In seinem schlauen Kopf arbeitete es fieberhaft. Jetzt waren sie abermals gezwungen Richtung Linksufer zu fahren, dabei waren sie alle schon müde. Doch diesmal würden sie gefahren werden und nur bei der Suche helfen. Trotzdem konnte er sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen.

Ein Wagen stand schon bereit. Hyrtl erkannte im Fahrer einen alten Bekannten, der ihm noch eine kleine Gefälligkeit schuldete. Es gab in der gesamten Garnison nur wenige Leute, die ihm nicht verpflichtet waren. Durch seine Beziehungen nach ganz weit oben, bekam er manchmal Vergünstigungen, die er wenn es sein musste gegen Beihilfen in der Zukunft eintauschte. Das funktionierte ganz gut, so kam es, dass hier kaum einer war, der sich offen gegen ihn stellen mochte. Er wusste zuviel von den Leuten, aber es nahm auch keiner das Wort Erpressung in den Mund, es passte auch ganz und gar nicht zu ihm. Im Prinzip war er grundehrlich, nur hatte er das Ohr meist dort, wo es nichts hören sollte. Seine helfende Hand sowie seine Verschwiegenheit brachten ihm Achtung auch von denen ein, die ihn wegen seiner Beziehungen nicht mochten. Dabei kochte er sein eigenes Süppchen und ließ sich von niemandem in die Karten schauen.
Manchmal, zum Glück nicht oft, kam sein Schwager und verlangte eine kleine Dienstbarkeit, im Gegenzug wurde er bei der Unterkunft begünstigt, bekam die Waffen, welche er verlangte und sogar Sonderurlaub. Er mochte ihn nicht, aber das hätte er ihm nie gezeigt, dazu war er zu klug. Alena, eigentlich hieß sie Lena, Hyrtls Schwester, war die vierte Frau dieses reichen Mannes, der als General in Viyanna saß. Durch diese Beziehung war Georg in gewissem Rahmen geschützt und er genoss diverse Freiheiten mit Rückendeckung des Schwagers. Manchmal fühlte er sich von Talas Celik geradezu überrollt, wenn er mit einer neuen Aufgabe an ihn herantrat. Manches davon konnte man nur noch mit Mühe geheim halten, aber Hyrtl war gut genug, dass ihm noch niemand auf die Schliche gekommen war. Bei manchen Aufträgen stimmte er sogar mit dem General über die Nützlichkeit der Handlung überein, aber ob er nun mit den Befehlen einverstanden war oder nicht, er erfüllte sie mit der Präzision eines schweizer Uhrwerks.

Nun wies er seine Männer an, sich abermals fertig zu machen. Sie würden die technische Abteilung unterstützen und bei der Suche behilflich sein. Wobei er das Wort Suche so definierte, dass sie den eigenen Weg zurückfuhren, dabei mussten sie zwangsläufig auf den anderen Luchs stoßen.
„Der Büffel bleibt aber hier“, murrte er, als er den Bergepanzer nahen hörte. „Der hält uns bei der Suche auf. Fordert einen aus Linksufer an, falls wir einen brauchen.“ Er verstand nicht, warum manche Leute sofort mit den großen Gerätschaften auffahren mussten. Insgeheim hielt er seine osmanischen Kameraden für etwas, gelinde gesagt, eigenartig, was große Maschinen anging.

„Herr Astsubay, in Linksufer haben sie keinen mehr, der wurde vor drei Wochen dort ausgemustert, weil sie ihn nicht Instand halten konnten“, meinte der Fahrer des Mannschaftswagens.
„Was? Ich glaub’s ja nicht!“ Hyrtl schlug sich zornig gegen die Stirn, dann zuckte er mit den Schultern und riss die Wagentür auf. "Ich bin vorne!", brüllte er und zerrte den verdutzten Beifahrer heraus, der sofort nach hinten schlich. Hyrtls Platz war prinzipiell vorne oder in der Turmluke.

Bald fuhren sie gemächlich vorwärts, mit einem Tempo, das Hyrtl den Schweiß auf die Stirn trieb. Er hatte wenig Lust, sich später noch mit dem Kompaniechef auseinandersetzen zu müssen, nur weil dieser Panzer so lahm war. Da kam er mit seinem Luchs im Gelände noch schneller voran. Er gab es gerne zu, dass er die Geschwindigkeit liebte. Der Büffel hatte für ihn auch nur den einen Nutzen, einem verhinderten 3er BMW-Fahrer den Schrott aus dem Graben zu ziehen oder im Gefecht beschädigtes Gerät zu bergen, was mangels Kampfschauplätzen nie geschah.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Noch ein Teil ...
Sagt mal Leute, wenn ich euch langweile, dann gebt einfach eine kurze Nachricht und ich schreib das für mich weiter *zwinker*
Es interessiert mich wirklich, ob euch diese Geschichten (es sind ja 4) überhaupt noch gefallen.

Herta

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Viyanna 223 n. U.

Ulf starrte die Straße entlang. Er hatte keine Zeit mehr, um nachzudenken. Immer näher kamen die Verfolger. Schon hörte er sie rufen, er solle mit erhobenen Händen stehen bleiben und das Gesicht zur Wand drehen. Oder bildete er sich das alles nur ein?
Endlich nach all den langen Jahren der Verborgenheit, war er entdeckt worden. Er gehörte zu den wenigen Menschen, die sich mit verschiedenen Identitäten versorgt, im Untergrund bewegten und dennoch einen zivilen Beruf ausübten und ein Leben in der Stadt führen konnten. Damit hatte es nun ein Ende. Seine Arbeit bei den Ausgrabungen, als Hilfsarbeiter und die als Sanitäter, nichts zählte mehr.
Wie vor einem Inneren Auge zog sein Leben an ihm vorüber. Er sah sich als Kind in der Stadtrandsiedlung, explodierende Häuser, weil eine Gasleitung nicht gehalten hatte. Kinder, die im Müll spielten, weil die Abfallanlage nicht funktionierte. Männer, die vor dem Hamam anstanden, um sich einmal in der Woche ordentlich zu waschen. Von Frauen hatte er damals nicht mehr gesehen als seine Mutter, die nicht aus dem Haus ging. Dann war sie mit einem Mal weg gewesen und der Vater hatte ihn aufs Land gebracht. Dort hatte er in einem kleinen Dorf in bitterer Armut gelebt, was aber besser gewesen war als die Stadt, wie er im Nachhinein festgestellt hatte. Nach einigen Jahren musste er nach Viyanna zurück. Seine Großmutter, von der er nichts gewusst hatte, nahm ihn zu sich. Bei ihr begann sein Leben im Untergrund. Dann erfuhr er alles über seine Familie.

Die Verfolger kamen immer näher, er hörte bereits ihre Rufe. Wirkliche Rufe. Livia stand an die Mauer gelehnt und starrte abwechselnd ihn an und die sich nähernden Polizisten. „Was ist Ulf?“, fragte sie. Er hatte keine Zeit mehr, keine Möglichkeit etwas zu bedenken oder eine andere Lösung in Betracht zu ziehen. „Was ist?“, fragte sie abermals, drängender diesmal. „Du siehst so komisch aus …“ Tränen standen in ihren Augen und sie zitterte.
Entschlossen zog er ein Messer. Noch ahnte sie nichts von seinem Vorhaben, so langsam bewegte er sich. „How many of them can we make die?“, summte er leise und rammte ihr das Messer in die Brust. Erstaunt blickte sie ihn an, dann taumelte sie und er riss das Messer aus der Wunde. Blut schoss hervor, er hatte gut getroffen und die Aorta zerfetzt. Livia war tot noch bevor sie den Boden erreichte. „Du hättest dich nie mit diesen Leuten einlassen sollen“, murmelte er. „Meine Vorfahren haben das nie gemacht, meine Liebe. Du kennst nicht meinen Namen und nun wirst du ihn auch niemals erfahren.“ Das Artefakt ließ er bei der Leiche, dann rannte er in das Labyrinth aus Hauswänden. Mit vielen Haken und einer Schnelligkeit, die er sich selbst nicht zugetraut hatte, rannte er durch das Viertel und dann hatte er das erreicht, was er finden wollte. Rasch wandte er sich einem bestimmten Hauseingang zu und verschwand im Inneren. Er glaubte es selbst kaum, dass er es geschafft hatte, die GP abzuhängen. Aber Viele von ihnen hatten wenig Lust auf ein Wettrennen in den Ghettos, so ließen sie sich Zeit und blieben vorerst bei der Leiche. Dort wurde die Gruppe aufgeteilt und so konnte Ulf schließlich entkommen.

Er stieg in den Keller hinab und suchte dort ein bestimmtes Abteil auf. In der ganzen Stadt hatte er so kleine Verstecke eingerichtet, ganz harmlos aussehende Verschläge und überall waren Notfallpakete verborgen. Er war ein weitsichtiger Mann, das hatte er von seinen Vorfahren gelernt. „Axes flash, broadsword swing, shining armour's piercing ring. Horses run with polished shield, fight those bastards till they yield …”, sang er in seinem Versteck. „Nun bin ich fast allein übriggeblieben. Die Sippe ist durch Verrat zerschlagen“, dachte er müde. Es war ihm nicht leicht gefallen, Livia zu töten, doch es war notwendig geworden. Die ganze Zeit über hatte er sich gefragt, woher sie die zwei Pakete mit C4-Sprengstoff hatte. Als er die Verfolgung bemerkt hatte, war es ihm aufgegangen. Sie hatte von der Untergrundbewegung gewusst, und ihre eigene Familie für die Aussicht auf eine bessere Zukunft verraten. Die Spionageabteilung hatte gute Arbeit geleistet, Livia war bestens informiert gewesen. Er mutmaßte, dass sie mit dem Sprengstoff eine zivile Einrichtung in die Luft sprengen hätte sollen und er wäre der Schuldige gewesen. Für die Regierung hätte es keine bessere Lösung des Problems Kreuzer geben können. Die Familie machte seit fast zweihundert Jahren dem Friedensregime das Leben schwer. Doch auch noch jetzt hatte er Angst, denn der Sprengstoff lag bei der Leiche, er hatte keine Zeit gehabt, sie wegzunehmen. Jederzeit konnte irgendwo eine Ladung gezündet und der Schaden ihm in die Schuhe geschoben werden. So etwas war schon einige Male vorgekommen, aber bislang noch nicht in Viyanna. Von einem Freund aus dem Sultanat Großprußen, hatte er gehört, dass es in Islamstadt immer wieder zu Anschlägen solcher Art gekommen war und die Widerstandsbewegung so weit gelähmt und ins Aus gedrängt wurde, dass ihr die Unterstützer fern blieben. Friedrich Alt hatte viele abscheuliche Dinge aus dem nördlichen Sultanat berichtet, auch dass dort die Apartheid so weit fortgeschritten war, dass sich unverschleierte Frauen gar nicht mehr auf die Straße wagten, weil sie auf der Stelle Stockhiebe zur Strafe bekamen, Mädchen nicht mehr zur Schule gingen und es eigene Frauenbäder gab. Beide Männer hassten, was mit ihren Ländern passiert war und wie schlimm es mittlerweile um die alten Kulturen stand. Nur noch vereinzelt wurde das Kreuz aufgestellt, manchen diente auch ein Fisch als Erkennungszeichen, wieder andere hatten einen Mistelzweig als Merkmal oder einen Kessel. Bis auf das Kreuz waren das alles unverfängliche Symbole, die bedenkenlos auch an eine Haustür gekritzelt werden konnten.

Nachdem er sich ein wenig ausgeruht hatte, kleidete er sich um, stopfte den Überwurf mit dem aufgedruckten Eisernen Kreuz in seinen Rucksack und ordnete die Bewaffnung neu. Dann band er sich einen Turban um den Kopf und schmierte sich noch Dreck ins Gesicht. Nun sah er aus wie ein armer Taglöhner, der mit seinem Hausrat auf dem Rücken durch die Lande zog und um Arbeit und Lohn bettelte.
Vorsichtig kletterte er einen der Lichtschächte hoch. Am Fenster angekommen, durchschlug er die dünne Scheibe mit dem Rucksack und zwängte sich danach ins Freie.

Kurz nur schaute er sich um, dann lief er mitten in den durch die Glaubenspolizei erschaffenen Tumult. Die GP durchsuchte die Passanten und forderte von Allen die Ausweispapiere. Ulf reihte sich unauffällig ein und hielt die Lider halb geschlossen. Er sah genauso elend und müde aus wie der Rest der Taglöhner. Keiner sagte etwas, so war nur das Scharren der Füße zu hören und gelegentlich ein tuberkulöses Husten, bei dem es Ulf insgeheim schüttelte. Sehr viele Krankheiten waren zurückgekehrt und wüteten unter den armen Bevölkerungsschichten. Besonders die Kindersterblichkeit war in bestimmten Gegenden erschreckend hoch, da half auch der Bau neuer Gebetshäuser und Islamzentren nichts, nicht einmal das neue AKH konnte für die Menschen etwas tun, denn die Medizin war zu teuer geworden und viel schlechter, denn es kümmerte sich keiner mehr.

Ulf schluckte seinen Ekel und zückte den Personalausweis. Müde hob er den Kopf und blinzelte den Beamten an, der ihn durch ein blinkendes Okular musterte. Er merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als er weitergeschoben wurde. So rasch er es wagte, ging er davon, da hörte er abermals Schüsse und laute Rufe. Jemand musste bei der Kontrolle ausfällig geworden sein. Nur mit Mühe gelang es ihm, geradeaus weiterzugehen. Alles in ihm schrie, sich umzudrehen und etwas für diese Leute zu tun. Aber er wusste, wie das letzten Endes ausgehen würde.
Die Schießerei dauerte nur kurz, dann herrschte eine gespenstische Stille und laut hallten seine Schritte über die holprige Straße. Zwischen den düsteren Hauswänden war es bereits dunkel und er wusste, dass er langsam ein weiteres Versteck finden musste, bevor die nächtliche Ausgangssperre anbrach. Die Leute hielten sich peinlich genau daran und nur ein Selbstmörder wagte sich noch in der Dämmerung hinaus. Die GP kontrollierte peinlich genau, besonders in Viyanna, das schon in frühester Geschichte gezeigt hatte, dass die Bewohner eigenwillig waren und sich nicht den Mund verbieten lassen wollten. Doch bereits die ersten Kalifen, allen voran der Kalif Kopf hatte mit seinem rigorosen Vorgehen bei Glaubensverstößen bewiesen, wie man die Menschen dazu brachte, still zu halten. Nach und nach hatte sich nicht nur das generelle Alkoholverbot durchgesetzt und die Leute gewöhnte sich murrend daran, auch der Druck auf die Frauen, sich in der Öffentlichkeit zu verhüllen, zeigte Wirkung. Je mehr Jahre verstrichen und je gewöhnlicher der Anblick dieser düsteren Schleier wurde, desto weniger regten sich die Leute über die herrschende Ungleichbehandlung und diese neue Art der Apartheid auf. Anfangs hatte es eine Frauenbewegung in Islamstadt gewagt, sich zu erheben, aber der Aufstand war nach nur einer Stunde friedlich beendet worden und hatte nicht einmal Erwähnung in den Tageszeitungen gefunden, nur ein damals noch existierender Internet-Blog berichtete darüber. Die kulturelle Bereicherung hatte gegriffen und die Menschen passten sich den Umständen an. Viele der importierten Glaubenswächter und Friedensmissionare sorgten für ein entsprechendes Lernumfeld, wozu auch die mitgebrachte Kalaschnikows, Sprengmittel und Uzis beitrugen. Langsam fand sich die Kultur des Abendlandes in einer Abwärtsspirale, die bereits so eng war, als die Leute endlich aufwachten, dass sie nur noch den Ausgang unten sehen konnten. Die Mühlen der Friedensregierungen in Eurasien und Eurabien mahlten weiter.

Gerade noch rechtzeitig fand Ulf sein Versteck in den Überresten der alten Stadtmauer.

Friedrich Alt, auch genannt Alter Fritz, saß in der Unterkunft und kaute nervös an den Fingernägeln. Der Anschlag auf die Katakomben von Altstephan hatte in mehr als erschüttert. Viele seiner Freunde waren dabei ums Leben gekommen. Nun hatte er Angst vor Entdeckung und öffentlicher qualvoller Hinrichtung. Der Tod störte ihn nicht so sehr, wie die Schmerzen und die Demütigung bis zur Brust eingegraben zu werden und den Leuten dann ins Gesicht zu schauen, während sie einen anspucken und mit Steinen bewerfen bis man endlich bewusstlos ist und danach den Tod nicht mehr merkt. Davor hatte er Angst. Seine gefälschten Ausweise waren alle in den Katakomben gewesen, nun hatte er nicht einmal mehr seinen richtigen, alle Verkleidungen waren weg und er bekam keine Verbindung zu Ulf. Das alles brachte ihn fast zur Verzweiflung. Er wollte noch eine Nacht hier ausharren und sich dann auf den Weg in den Wald des Heiligen Friedens machen. Irgendwo so hoffte er, würde er schon Unterschlupf und Hilfe finden. Er wusste, dass nicht alle Menschen dem Friedensglauben nachliefen und so mancher lieber mit etwas weniger Frieden in seinem Leben glücklicher wäre.

In dieser Notunterkunft war es dunkel und feucht. Er wollte nicht entdeckt werden, also machte er auch kein Licht und so erschrak er heftig, als er ein lautes Schaben hörte und dann einen Lichtschein sah, als sich die Tür auftat und sich anschließend eine große Gestalt vor die Helligkeit schob. Heftig atmend drang die Gestalt in das Abteil und drückte die Tür hinter sich zu, dann gab es ein deutlich hörbares Seufzen. Fritz stand auf, fasste ein großes Stück Holz und zielte, dann erkannte er den Mann und atmete erleichtert auf. „Ulf du dummer Hund, was musst dich so leise anpirschen, jetzt hätte ich dir beinahe eins mit dem Knüppel übergebraten!“ Fritz war unendlich erleichtert seinen alten Freund zu sehen, sodass er ihn gleich umarmte. Ulf erwiderte die Umarmung ebenso erfreut, dann schob er ihn zurück und betrachtete den kleineren und älteren Mann einen Moment, bevor er sagte: „Mann, Fritz, tut gut, dich zu sehen.“
„Menschenskind, Ulf, geht mir auch so. Hast du was zu trinken? Seit zwei Tagen habe ich meine Nase nicht mehr rausgestreckt. Ich bin nur mit Mühe der Razzia entkommen.“
„Waren sie dir so dicht auf den Fersen?“
Ulf ignorierte den muffigen Gestank, nahm den Rucksack ab und begann damit, ihn auszuräumen. Unter anderem fand sich eine volle Wasserflasche darin, die übergab er gleich seinem Freund. „Lass dir Zeit, Alter. Erzähl was dir passiert ist.“
„Zuerst sagst du mir, wo Liv ist“, verlangte Fritz, als der die Flasche zurückgab.
Rasch berichtete Ulf von seiner Entdeckung und was er gemacht hatte. „Ich habe Blut an den Händen, Fritz, das Blut einer Freundin, vielleicht sogar meiner Schwester. Das werde ich nie herausfinden.“
„Verdammt! Dagegen habe ich es hier richtig ruhig gehabt. Lass uns morgen nach der Ausgangssperre hier abhauen. Nach und nach werden alle Häuser kontrolliert, die Polizei macht eine Durchsuchung nach der anderen und ich habe ehrlich null Bock darauf, von den Typen erwischt zu werden. Ein paar davon sind ja ganz nette Kerle, wenn man sie ohne ihre Armbindenarschlöcher erwischt …“
„Du hast recht. Aber du brauchst einen Ausweis und eine Verkleidung. Ich werde zusehen, was ich machen kann.“
„Mensch, ist das traurig“, meinte Fritz nach einer Weile, die sie schweigend beisammen gesessen hatten.
„Was?“ Ulf schaute neugierig auf, er ließ sich nie Zeit für Gefühle, das hielt er für verhängnisvoll, auch jetzt versuchte er, nicht an Livia zu denken. Er hatte sie ehrlich gemocht, sogar gedacht, sich in sie verliebt zu haben. Doch hier musste er seine Gefühle zurückstellen und das Wohl einer größeren Gemeinschaft im Auge behalten. Es waren noch mehr Leute von ihrer Anwesenheit bedroht gewesen, als sie gewusst hatte und diese Menschen zu beschützen, war nun seine Aufgabe. Simineon hatte nicht Livia den Auftrag gegeben, sondern ihm. Nun fragte er sich, was der alte Mann gewusst hatte und ob er überhaupt so viel Ahnung von den Dingen gehabt hatte, wie er verlautbaren lassen hatte. Im Prinzip war er ein lieber netter alter Kerl gewesen, der immer das Beste von allen Leuten angenommen hatte. Nun war er tot, verbrannt und in den Ruinen des alten Tempels oder Kirche, wie man einmal dazu sagte, verschüttet.
„Livia, dass du sie …“, er macht eine eindeutige Handbewegung über seine Kehle, dann schluchzte er kurz auf und meinte weiter: „Warum denkst du, hat sie uns verraten?“
Da erzählte Ulf von seinem schweren Verdacht. Mit einem Schlag war die ganze Organisation „Für die Freiheit“ vernichtet worden und die Regierung ersparte sich Gefängnis und Hinrichtungskosten, einen Prozess hätte es ohnehin nicht gegeben. „Du siehst, Fritz, wir sind wieder bei Null angekommen. Alles, was unsere Vorfahren aufgebaut haben, ist im Arsch.“
Fritz stand auf, streckte sich, dann zog er ein kleines Schwert aus einer versteckten Scheide und betrachtete es lange. „Weißt du, Ulf, ich denke, das Schwert ist besser als jede andere Waffe. Damit können wir doch etwas ausrichten? Können wir? Axes flash, broadsword swing … du kennst den Text besser als ich. Was war noch auf der Disk, Ulf? Ich habe nie den gesamten Inhalt zu hören bekommen.“
„Ich …“, begann der Jüngere zu sprechen, unterbrach sich aber und hielt die Luft an. Seinen Freund zwang er, sich zu setzen und legte ihm eine Hand auf den Mund.
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Was heißt hier "gefallen"?

Ich weiß nur manchmal nach der Lektüre nicht, was ich jedes Mal schreiben soll, ohne mich zu wiederholen - aber ich würde gerne weiter lesen ...

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Danke ... dann weiß ich, dass ich wenigstens zwei Leser habe *freu* und da lohnt es sich doch, mich gewaltig ins Zeug zu legen *zwinker*
Ich fürchte nur, du wirst einen langen Atem benötigen - das scheint doch etwas länger zu werden *schaem*

Liebe Grüße
Herta
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Kein Problem - nur sollten wir dann vielleicht mal über eine Gruppe "Wir schreiben Romane" nachdenken?

Ich drück Dir die Daumen, dass Dir diese Geschichte weiterhin gelingen möge, und bin gespannt ...

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Daran dachte ich auch schon ... doch andererseits, ich mülle das Forum nicht mit Einzelbeiträgen zu, es bleibt alles schön beisammen ... *nixweiss* Wer es nicht mag, der braucht das Thema auch nicht zu beachten.

Ich bin auch gespannt, Antaghar, ob ich sie so schreiben kann, wie ich es geplant habe - ob ich mich dann auch darüber wage - aber es gibt ohnehin kein Zurück mehr und ich habe zwei Motivatoren, die für Fortsetzungen und Inputs sorgen, sollte ich einen Durchhänger haben.

*g* Herta
Ich denke, wir können auf die Fortsetzungen warten


Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Neues von Hyrtl
Vielen Dank für die positive Resonanz zu meinem doch etwas ... naja Thema *freu* Ich schenke euch eine *blume*

************************************************

Von Oberdonau über Viyanna bis Romslam Apusenigebirge 76 n. U.

Langsam zuckelten sie die Landstraße den Flusslauf entlang, zurück nach Linksufer. Hyrtl trommelte ungeduldig mit den Fingern aufs Armaturenbrett, dann drehte er sich zum Fahrer und befahl: „Talik! Überhol den Penner da vorne und sieh zu, dass wir etwas Land gewinnen. Den müden Büffel hinter uns können wir immer noch anfunken, wenn wir den Luchs haben.“ Der Fahrer gehorchte und gab Gas. Mit heulenden Motoren überholten sie den grünen 3er BMW und dann setzte Talik die Maßnahme zur Unfallvermeidung ein, er fuhr gerade auf der Mittellinie und das bei knapp 60 Stundenkilometern. Der junge Mann im Auto hinter ihnen drückte immer wieder auf die Hupe, aber der Fahrer tat so als hörte er ihn nicht. Auch Hyrtl tat verständnislos, dann winkte er noch freundlich zurück und gab per Funk an den Panzerfahrer den Befehl, das Zivilfahrzeug zu überholen.
„Seit wann gibst du hier die Befehle, Astsubay?“, drang die überhebliche Stimme des Panzerkommandanten aus dem Funkgerät. Hyrtl verdrehte die Augen, der Mann war ein neuer in der Kompanie und der kannte die richtige Rangfolge noch nicht, besonders dann, wenn ein etwas delikater Auftrag anstand.
„Die Leitung dieser Mission habe ich, verstanden? Wenn es Ihnen nicht passt, dann wenden Sie und beschweren sich bei Ogeneral Celik!“ Hyrtl gab dem Leutnant eine Minute, um das zu verdauen, dann fuhr er fort: „Sie werden jetzt ihrem kleinen Brummer etwas mehr Tempo abverlangen und diesen Pisser in seiner Zivilkarosse da hinter mir überholen und dann bleiben sie an meinem Arsch kleben, bis ich Ihnen etwas anderes sage!“ Eigentlich hatte er vorgehabt, etwas schneller zu fahren, nun hatte er es sich anders überlegt, vorerst zumindest. Wirklich eilig hatte er es ohnehin nicht, er wusste, wo sich Osan oder anders ausgedrückt, der Luchs befand. Also brauchte er sich nur gemächlich dorthin fahren zu lassen und so zu tun, als würde er suchen.
Entspannt legte er die Füße auf das Armaturenbrett und schloss einen Moment die Augen. In den nächsten Tagen würden noch einige Termine auf ihn zukommen, das ahnte er und nun versuchte er jede Minute zur Entspannung zu nutzen.
„Astsubay“, holte ihn der Fahrer nach einigen Minuten aus dem Dämmerschlaf.
„Was ist Talik?“ Sofort saß er wieder gerade und starrte angestrengt aus der Frontscheibe.
„Da vorne, Herr Astsubay, ist das, das was ich denke?
„Was weiß denn ich, ob du denken kannst.“ Hyrtl war immer geneigt, seinen Mitmenschen, Dummheit zu unterstellen und der Fahrer hatte sich noch nicht anders ausgezeichnet. Zumindest konnte er Autofahren, was nach Hyrtls Meinung, schon mehr war, als so manch anderer zustande brachte.
„Ähm …“, der junge Mann war nun sehr verunsichert, dann krampfte sich seine rechte Hand ans Lenkrad und die linke zeigte hinaus.
„Ah ja, dann halte mal an, guter Junge, hast scharfe Augen.“
Der Fahrer lenkte den Transporter an den Straßenrand und hielt dann an. Hinter ihm kam der Büffel zum Stehen und blockierte die komplette Fahrbahn. Grinsend stieg Hyrtl aus und ging nach hinten, als er lautes Hupen hörte. Gemächlich rückte er seine Mütze zurecht, legte lässig eine Hand auf den Griff der MP7 und ging zu dem Fahrer des Zivilfahrzeugs. Wütend drückte er auf die Hupe und verursachte so sehr viel mehr Lärm als hier üblich war. Hyrtl folgten Hans und Sigi, beide waren mit Pistolen kleineren Kalibers ausgestattet. Zusammen näherten sie sich dem glänzenden grünen Wagen. Mittlerweile war der Fahrer ausgestiegen und lief heftig gestikulierend auf sie zu. „Was macht ihr hier, ihr blockiert die Straße! Weg mit euch, Schweinefleischfressern! Elendes Gesindel!“
„Hä?“ Hyrtl legte eine Hand ans Ohr und tat so als hätte er die Worte nicht verstanden.
„Du sollst dich verziehen!“, brüllte der junge Mann erneut und dann erkannte er seinen Fehler, denn Hyrtl zog seine MP, ganz gemächlich und ging weiter. Kurz vor dem Mann hielt er an und schob ihm die Mündung unter die Nase. „Wie war das?“, fragte er.
„Ähm, ähm, Herr, wir warten gerne, bis Sie fertig sind.“ Hyrtl sah, wie der Mann schwitzte und um seine Fassung rang, so ließ er ihn noch eine Weile zappeln, auch weil er sah, wie die anderen im Auto unbehaglich grinsten. „Weißt du, eigentlich bist du ein kleiner Jammerlappen und ich sollte dich zu deinem eigenen Vorteil jetzt sofort erschießen. Es wäre ein Segen für die Welt, von so einem … Aber lassen wir das, das ist nicht meine Aufgabe.“ Er senkte die Waffe, lächelte charmant, winkte kurz ins Auto bevor er sich umdrehte und seinen Leuten ein Zeichen gab. Hans blieb als Beobachter zurück, er musste ihnen den Rücken vor diesen lästigen Zuschauern decken.

„Gute Arbeit, Jungs, vom Luchs ist nicht mehr viel über.“ Hyrtl ging zum Wrack des Panzers, der noch immer leicht brannte. „Löscht das Feuer und dann macht euch auf die Suche nach Osan und seinen Jungs“, befahl er. Dietmar, der Fahrer des Büffels schaute kurz aus seiner Luke und zog sich rasch wieder zurück. Ihm schien die Situation nicht ganz geheuer und nichts sehen für den Moment besser zu sein.

Im Straßengraben suchten sie nach Überlebenden, fanden aber weder Spuren noch mögliche andere Zeichen, dass jemand das brennende Fahrzeug verlassen hatte. Der Panzer war beim Sturz auf der Turmluke zum Liegen gekommen, dann hatte etwas Feuer gefangen und er war ausgebrannt. Nun war nichts mehr zu sehen als die Metallteile, die als warnendes Skelett in den Himmel wiesen. „Dietmar! Häng dich mal an und dreh das Ding um!“, befahl Hyrtl und an seinen eigenen Funker gewandt fuhr er fort: „Alf! Geh in den MTW und gib per Funk durch, dass wir den Panzer haben.“
Nun gab der Panzerfahrer doch seine Deckung auf und fuhr den Bergearm aus. Sein Kollege Yilmaz half ihm dabei und wenige Minuten später stand der Spähpanzer auf den Felgen.
„Sagt mal einer dem Abschleppdienst Bescheid“, gab Hyrtl weiter Befehle, dann umrundete er den noch rauchenden Panzer. Eine Seitenluke war offen, aus ihr drang noch ein wenig Qualm und eine verkohlte Hand lugte daraus hervor. Plötzlich wurde ihm kotzübel und er hatte das Bedürfnis, sich auf der Stelle zu übergeben, rasch wandte er sich ab. So abgebrüht war er noch nicht, dass er sich den schmerzhaften Tod der vier Männer nicht vorstellen konnte. Aber es war unvermeidbar gewesen. Lieber hätte er jetzt in der Kaserne auf Nachricht gewartet, dass sie den Panzer gefunden hatten, anstatt selbst danach zu suchen. ‚Morgen werde ich Talas meine Meinung geigen, dieses Arschloch’, dachte er bitter, wandte sich ab und versuchte nicht mehr an die verkohlte Hand zu denken, die um Hilfe zu flehen schien. Nach jedem Sondereinsatz dachte er daran, seinem Schwager endlich zu sagen, dass er nicht mehr mitmachen wollte. Doch sobald er in Viyanna war, eigentlich schon viel früher, wusste er, dass er weiterhin brav mitmachen würde. Diese Sondereinsätze gaben ihm auch die Möglichkeit, seine eigenen Pläne voranzutreiben und seine Nebengeschäfte zu tätigen. Er war viel unterwegs, nutzte den Panzer privat und alles mit Billigung seines Schwagers. Der Ogeneral Celik war in der Tat ein großer Gönner Hyrtls und er deckte bereitwillig die eine oder andere Ordnungswidrigkeit, die der Feldwebel beging, dazu gehörten unter anderem Alkohol und Waffen. Auch hatte er für seine Familie ein kleines Stück Land bekommen, das sie nun bewirtschafteten und alle hielten ihn für den besten Onkel und den besten Sohn, was er ja auch war. „Chef!“, rief Alf aufgeregt. „In einer Stunde ist der Abschleppwagen da! Warten wir noch so lange oder kehren wir um?“ Hyrtl überlegte einen Moment, dann entschied er: „Der Büffel kehrt heim, wir warten und einer soll gleich einen Bericht schreiben und Fotos machen. Wir brauchen Beweise, sonst glaubt uns dieser verfluchte Pi … Tegmen Kosner, meine ich, nicht.“ Wie immer musste er sich zusammenreißen, um den ungeliebten Vorgesetzten nicht neben der anderen Mannschaft schlecht zu reden, das kam unter den Teams gar nicht gut an.

Während er noch überlegte und der Bergepanzer wieder vollständig bemannt wurde, trat der Fahrer des Zivilfahrzeugs auf Hyrtl zu. „Ähm … Herr Soldat“, wagte er schüchtern zu sagen.
„Was?“ Hyrtl war Zivilisten gegenüber gerne kurz angebunden, besonders dann, wenn es sich um BMW-Fahrer handelte, die noch grün hinter den Ohren waren und sich für wichtiger nahmen als sie in Wahrheit waren.
„Äh, ich möchte gerne weiterfahren.“
„Aha.“
„Ich habe ein Recht darauf, diese Straße zu benutzen!“
„Aha.“
„Ja, wie ist Ihr Name.“
„Für dich, Bürschchen, Feldwebel. Und jetzt geh wieder zu deinem Wagen, steig ein und warte, der Panzer fährt gleich weg.“
Die Erleichterung war dem jungen Mann anzusehen und Hyrtl hatte den Eindruck, sie nehmen und sich als Schal umbinden zu können, so dicht war sie. Hyrtl kannte diesen Typus, wenn sie in der Übermacht waren, also fünf gegen eins, dann waren sie stark und wortgewandt, in der Unterzahl waren sie Memmen, Feiglinge erster Güte und eigentlich bedauernswerte Geschöpfe. Doch Hyrtl hegte kein Mitleid mit dem Mann, im Gegenteil, seine Verachtung ging so weit, dass er sich noch einen kleinen Abschiedsgruß ausdachte.
„Alf!“, rief er. „Überprüf doch mal schnell das Kennzeichen des Wagens hinter uns.“ Alf hängte sich erneut an den Funk und kurze Zeit später rannte er lächelnd zu seinem Feldwebel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Hyrtl grinste wie ein Schneekönig, dann gab er Dietmar ein Zeichen, abzufahren. Der brüllte aus der Luke: „Das geht sich nie aus Hyrtl!“
„Sicher geht das! Fahr zu, Dietmar!“, schrie Hyrtl zurück und wies den Panzer ein. Er hörte sie nicht, aber er wusste, dass sich seine Männer irgendwo vor Lachen krümmten, denn was jetzt kam, hatten sie erst einmal miterlebt und zwar als er von einem Glaubenspolizisten in zivil wegen Besitzes von Alkohol verhaftet worden wäre. Der Mann hatte danach kein Fahrzeug mehr gehabt, mit dem er zu seiner Dienststelle hätte fahren können, die Adresse des netten Generals in Viyanna hatte dann ihr übriges getan, um eine Anzeige abzuwenden.
„Na, fahr schon, Dietmar! Das ist eine Straße. S t r a ß e ! Das ist ein breiter, asphaltierter Weg, wo locker – l o c k e r – zwei Fahrzeuge platz haben. L o c k e r !“
Aus den Augenwinkeln beobachtete er das Gesicht des Mannes, den er als den Sohn des Bürgermeisters von Linksufer identifiziert hatte, der immerzu die Leute schikanierte und den beschlagnahmten Schnaps abnahm, nur um ihn selbst zu saufen. So motiviert fuhr Dietmar los und kaum hatte er einige Zentimeter geschafft, drückte Ali, der Sohn des Bürgermeisters, heftig auf die Hupe. Warum er nicht zur Seite fuhr, konnte er selbst nie beantworten, wahrscheinlich lag es an einer Geisteslähmung zu besagtem Zeitpunkt, so dokumentierte es jedenfalls Dietmar, der irgendetwas zu dem Vorfall sagen musste. Hyrtl stimmte dem später voll und ganz zu.
Dietmar gab nun etwas mehr Gas und die Ketten des schweren Geräts schoben sich auf die Motorhaube des BMW zu. Ali hupte noch immer und schrie etwas, das aber keiner zu verstehen schien. Nun brüllte auch Dietmar, der plötzlich Spaß an der Sache bekam: „Das geht sich locker aus, Herr Astsubay. Jawohl, Herr Tegmen, das passt, wir fahren weiter!“ Denn auch der Leutnant, wollte schleunigst dem Dunstkreis von Hyrtl entkommen. Wenn Hyrtl in Fahrt kam, war nichts mehr sicher, soviel hatte der neue Leutnant in wenigen Stunden bereits mitbekommen. ‚Nur weg von hier’, war alles, was er denken konnte.

Der Büffel näherte sich dem BMW und Hyrtl meinte noch immer, dass alles perfekt sei. So war es auch, für Hyrtl und sein lachendes Team, auch die technische Mannschaft, die den Spähpanzer inspizierte, hatte ihre Arbeit unterbrochen und schaute gebannt grinsend zu.

Dann gab es endlich das knirschende Geräusch, wenn Metall weint und gebogen, gequetscht und zerrieben wird. Der Hinterteil des BMW hob sich ein wenig und der Panzer war an dem Zivilfahrzeug vorbei, zumindest an Teilen davon.

„Ich hab doch gesagt, das geht sich leicht aus!“, schrie Hyrtl dem Panzerfahrer zu und an den BMW-Fahrer gewandt fuhr er väterlich besorgt fort: „So ein Pech auch, Ali, den Kratzer, musst du morgen unbedingt ausbessern lassen, so sieht das echt scheiße aus.“ Er klopfte dem verdutzten Mann, der ausgestiegen war, um sich den Schaden zu besehen, noch beruhigend auf die Schulter und schlenderte, die Hand lässig auf dem Griff seiner MP7 liegend zu dem ausgebrannten Spähpanzer. „Nicht glotzen, Jungs, an die Arbeit! Wir sind nicht zu unserem Vergnügen hier!“ Lustig pfiff Hyrtl ein altes Lied, dessen Text niemand außer wenigen kannte: „To their own shore came the world war.“
Der BMW sah jetzt bis zur Frontscheibe aus wie eine Flunder in metallic Panade, aber ansonsten war er heil geblieben, nur fahren konnte er nicht mehr. Ali war sprachlos, sein Auto eine Ruine, ständig klappte sein Mund auf und zu und seine Mitfahrer saßen im Wagen und schauten nur, keiner wagte eine Miene zu verziehen. Schon ein Muskelzucken könnte den Wagen zum vollständigen Einsturz bringen oder Ali dem Weltschmerz anheim fallen lassen. Viel fehlte nicht mehr, und der Junge wäre in eine bodenlose Depression verfallen.
„Junge, schau nicht so, in einer Stunde ist der Abschleppwagen da, dann fragst du einfach, ob er deine Karre in die Werkstatt fahren kann“, meinte einer der Männer des technischen Dienstes versöhnlich. „Papa wird’s schon richten“, versuchte er den Jungen noch aufzurichten, aber das anschließende Gelächter der Männer, machte die gute Absicht zunichte.
****ra Frau
2.917 Beiträge
Der BMW sah jetzt bis zur Frontscheibe aus wie eine Flunder in metallic Panade

*grins* ich kann mir das richtig gut vorstellen... und mehr als zwei Leser haste ausserdem *g*

*blume*

Lys
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
*grins* Danke, es scheinen doch mehr zu sein, die sich an den sonderbaren Zukunftsszenarien "erfreuen" - eigentlich kann man ja schlecht sagen - es ist alles so politisch unkorrekt - und ich kann schon prophezeien, es wird noch unkorrekter *fiesgrins*

Für den plattgedrückten BMW kannst du dich bei einem Pizzafan bedanken, der aber nicht mit mir verwandt ist *grins*

*danke*

Herta
Für den plattgedrückten BMW kannst du dich bei einem Pizzafan bedanken, der aber nicht mit mir verwandt ist

Wieso Pizzafan?

Erklärung !!!!!!!!!!!!!


*gruebel* Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Der Pizzafan hat mich doch erst auf die Idee gebracht, ein Zivilfahrzeug platt zu fahren und dann wurde aus der Pizza (die ja platt ist) eine Flunder *fiesgrins*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
So, es geht weiter
Die Soldaten vom technischen Dienst machten sich endlich ernsthaft an die Arbeit und dokumentierten die Schäden am Spähpanzer. Hinein kletterte allerdings keiner der Männer, es war noch zu heiß im Inneren, auch graute ihnen vor den Toten, die einmal mehr oder weniger gute Kameraden gewesen waren. So weit sie Spuren fanden, sicherten sie diese und legten alle Kleinteile in eine verschließbare Truhe.

Endlich kam der Abschleppwagen. Alf war so nett gewesen und hatte einen Zweiten angefordert, der nun den BMW am Haken hängen hatte. Nach vielen Stunden, es wurde bereits Abend, packten sie zusammen und fuhren zurück. Hyrtl und seine Männer merkten den Schlafentzug und die fehlende Konzentration machte den Feldwebel reizbar.

„Sag mal Talik, wie geht’s denn deiner Frau?“, fragte er, als sie schon einige Kilometer gefahren waren und die Stille ihn noch müder machte als er ohnehin war. Eigentlich interessierte es ihn nicht besonders, aber das Reden hinderte ihn am Einschlafen. Der Fahrer drehte ihm verwundert das Gesicht zu, dann schaute er wieder auf die Straße und sagte: „Gut. Sie ist jetzt wieder auf Linie, nachdem ich sie gestern gemaßregelt habe.“
„Aha. Und das macht dich stolz.“
„Natürlich. Ich sage, wo es langgeht, sie hat sich nach mir zu richten. Musstest du noch nie eine Frau disziplinieren?“
„Nein. Aber ich kann Soldaten disziplinieren, die sich danebenbenehmen. Die sind dann aber nicht schwächer als ich. Weißt du Talik, ich dachte, du bist ein netter Kerl, dabei bist du auch ein ungebildetes kleines Arschloch, das sich an Schwächeren abreagiert.“ Er redete ganz so, als würde er ihn bedauern und nicht verachten. „Sollte ich einmal jemanden dabei erwischen, wie er sich an Schwächeren vergeht, dann gnade ihm der friedliebende Gott.“
„Was war das, was du vorhin gemacht hast? Du hast den Wagen eines Zivilisten platt machen lassen. Der Typ ist doch auch schwächer gewesen.“
Hyrtl überlegte einen Moment, dann meinte er gelassen: „Weißt du Talik, dem hirnamputierten Bürgermeistersohn habe ich nicht geschworen, dass ich ihn ehren und beschützen werde. Außerdem hat keiner dieser Ratte auch nur ein Haar gekrümmt. Wenn er nicht wegfährt ist er selbst schuld. Und jetzt gib Gas, Talik, ich möchte endlich mal an der Matratze horchen.“ Dazu gähnte er gewaltig. Am liebsten hätte er jetzt aber den Fahrer so richtig vermöbelt, das hätte ihn wach gemacht. So begnügte er sich damit die Fingerknöchel knacken zu lassen. Eisern konzentrierte sich Talik auf das Fahren, dabei versuchte er das Geräusch das Hyrtl mit seinen Fingergelenken produzierte, nicht zu beachten. Es gelang ihm nur schwer.
„Gib schon Gas, Talik, du kriechst wie eine Schnecke dahin“, befahl er nach einer Weile, als selbst der linke Mittelfinger keinen Lärm mehr machen wollte. Ohne eine Erwiderung stieg Talik aufs Gaspedal und der MTW schoss vorwärts. Hinab ging es die Donau entlang Richtung Poltern, vorbei an Ruinen ehemaliger stolzer und reicher Klöster, brachliegende Weinberge auf der anderen Seite, wo kein Wein mehr produziert, dafür aber Rosinen getrocknet wurden. Hyrtl nannte sie Kalifinen und er mochte sie nicht, sie waren nicht süß genug, weil hier einfach zu wenige Sonnentage herrschten. Ein guter Wein war ihm da wesentlich lieber und nicht nur der, auch die gebrannte Variante fand er ausgesprochen gut zu trinken, besonders nach einem ausgedehnten Gelage am elterlichen Hof.

Es dauerte nicht sehr lange und Hyrtl stand abermals Tegmen Kosner gegenüber, diesmal war auch Yüzbazi Murat Schauer dabei, ein Konvertit mit Stammbaum, wie ihn Hyrtl bei sich nannte, aber immer um seine Männer besorgt, das hielt er ihm auch zugute.
Nun stand er stramm und machte Meldung. „Herr Hauptmann, Sie können alles in der Niederschrift nachlesen. Ich bitte, wegtreten zu dürfen, meine Männer und ich sind seit mehr als drei Tagen unterwegs und müde.“ Murat Schauer, er sah aus wie aus einer Zeitschrift für osmanische Supermodelle herausgenommen und ins Leben geworfen, stand nun auf, griff nach dem Bericht und blätterte kurz darin. „Hm“, machte er, schaute Hyrtl prüfend an, dann meinte er: „Hyrtl, was mach ich nur mit Ihnen? Sie sind so dienstbeflissen und trotzdem habe ich den Eindruck, dass Sie gegen uns arbeiten. Auf jeden Fall hat sie Ogeneral Celik nach Viyanna beordert. Morgen früh fahren Sie los, hier sind Ihre Befehle. Allem Anschein nach will der Ogeneral nicht auf Ihre Fähigkeiten verzichten.“ Er händigte Hyrtl eine dünne Mappe aus, in der sich die Fahrkarten und ein kleiner, verschlossener Brief befanden. Der Feldwebel wusste, was sich darin befand und steckte den Umschlag sofort in die Jackentasche.
„Jawohl, Herr Hauptmann!“, rief er rasch.
„Wann lernen Sie endlich, dass es Yüzbazi heißt?“
„Wahrscheinlich nie, Herr Hauptmann, meine Zunge verknotet sich schon, wenn ich das Wort nur denke. Tut mir echt Leid, Herr Hauptmann, das ist keine Unhöflichkeit, nennen Sie es Unvermögen.“
„Na schön, Herr Astsubay, ich will dann mal nicht so sein, wo auch der Ogeneral auf Ihrer Seite steht. Wegtreten!“
So zackig, wie er es fertigbrachte, salutierte Hyrtl, wandte sich um und rannte beinahe aus dem Kommandogebäude. Die Ausstrahlung des Hauptmanns machte ihn jedes Mal fast fertig. Der Mann brachte er zustande, dass er sich wie ein kleiner Wurm vorkam und das, ohne besondere Worte oder Gesten zu bemühen. Schauer blickte einen nur an und man hatte das Gefühl, der andere wüsste alles von einem. Der Hauptmann war Hyrtl in dieser Hinsicht nicht geheuer, so war er immer froh, wenn er aus dessen Dunstkreis herauskam. Sein Schwager war ihm da schon wesentlich angenehmer, auch wenn er rangmäßig noch weiter über ihm stand. Celik war erpressbar, im Gegensatz zu Schauer, der stets ein Ausbund an Tugend war und die Friedensreligion verinnerlicht hatte, wie kein zweiter.

Gegen Mittag des nächsten Tages traf Hyrtl in Viyanna ein. Er wurde bereits erwartet. Respektvoll hielt ihm der Fahrer der schwarzen Limousine die Tür auf, er stieg ein und ließ sich zum Treffpunkt mit Ogeneral Celik fahren.


Viktor war müde, hungrig und wütend. Noch nie im Leben war er so zornig gewesen und hatte sich gleichzeitig so hilflos gefühlt wie in diesen Tagen. Zwei Tage dauerte es, bis sie von dem Dorf in ein Lager in den Bergen gekommen waren. Zwei Tage in denen er nicht reden durfte, es wäre ohnehin sinnlos gewesen, denn die Männer gaben keine Antworten, in denen er fasten musste, es war wieder einmal Fastenzeit, daran hatte er nicht gedacht und er fastete gar nicht gern. Nur sein Zorn hielt ihn aufrecht und ließ ihn vorwärts gehen.

Im Abendlicht sah er drei windschiefe Häuser, die von einer Bergflanke gestützt zu sein schienen. Aus dem Schornstein eines Hauses drang Rauch, auf dieses Haus wurde er zugeschoben. Eigentlich hatte er vorgehabt, jetzt endlich zu protestieren, aber er war zu müde, das würde er sich aufheben, wenn er endlich ausgeruht und aufgewärmt war. Die unfreundliche Behandlung der beiden Entführer, hatte in den letzten Tagen seinen Zorn noch mehr geschürt. Doch die Waffe in der Hand des Größeren der beiden hatte ihn immer wieder davon überzeugt, die Klappe zu halten. Nun hoffte er, endlich am Ziel der Wanderung zu sein. Hier oben herrschte noch Winter. Seit Stunden war ihm nicht mehr warm geworden und er hatte das Gefühl, die Zehen wären ihm abgefroren.

Die Entführer brachten ihn in ein kleines Zimmer, das erfreulich warm war und er staunte über die relative Behaglichkeit, die es verströmte. Er war so müde, dass er sich in dem Augenblick auch mit einem Zelt angefreundet hätte. Als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, stand er im Dunkeln. An der Wand tastete er sich entlang, bis er an den Bettpfosten stieß und der Länge nach hinfiel. Fluchend kam er wieder hoch, dann entschied er, sich genauso gut ins Bett legen zu können, anstatt im Blindflug ein Zimmer zu erkunden, das er ohnehin nicht verlassen konnte, denn beim Betreten des Hauses hatte ihm ein freundlicher Zeitgenosse die Schuhe abgenommen.
Noch keiner hatte sich die Mühe gemacht, sich vorzustellen oder ihm auch nur den Hauch einer Erklärung zu geben. Alle seine Fragen wurden mit einem Schnauben beantwortet und er selbst mit Kreuzer angeredet. Das alles schürte seinen Zorn immer mehr und er konnte sich nur mit Mühe beherrschen.

Nun lag er in dem harten Bett, deckte sich mit der dünnen Decke zu und ärgerte sich wie so oft in den letzten Tagen über sein Pech. ‚Wie bin ich nur in diese dumme Lage gekommen?’
Als er in Viyanna mit vor Aufregung zitternden Knien, die Maschine bestiegen hatte, hätte er sich nie träumen lassen, dass diese Reise in so einem Schlamassel enden würde. Alles was er vor Augen gehabt hatte, war ein Sondereinsatz im Konsulat von Ankora.

Er lauschte dem Heulen des Sturms, der an dem Haus riss und zerrte als ob er das Gebäude Stein für Stein abtragen wollte. Viktor überlegte kurz, was geschehen würde, wenn der Sturm hier alles kurz und klein riss. Dann entschied er, dass es irrelevant war, gegen die Naturgewalten konnte er ohnehin nichts tun. Aber gegen seine Entführer, das nahm er sich vor, würde er vorgehen. ‚Morgen ist Zeit für Fragen und Antworten, da werden mir diese Hammelfresser nicht mehr auskommen’, dachte er grimmig.

Sein Schlaf war unruhig und wurde vom Heulen des Sturms gestört. Auch schien ihm, dass die Kälte nun durch die Mauern eindrang und sich erneut breit machte. Ihn fror erneut und zitternd kauerte er sich ins Bett und breitete die dünne Decke über sich. Gegen Morgen ließ der Sturm endlich nach und sein Schlaf wurde ruhiger.

Sehr unsanft wurde er geweckt, kaum dass er dachte, eingeschlafen zu sein. Müde blinzelnd öffnete er ein Auge, aber nun erwachte die Kreuzer-Sturheit in ihm und er schloss es wieder. Demonstrativ drehte er sich zur anderen Seite und zeigte dem Wächter den Rücken, dabei murmelte er im breiten Dialekt seiner Heimat: „Leck mi am Oarsch.“ Das brachte ihm einen recht ruppigen Schlag ein, aber er blieb stur. Jemand sagte etwas in einer fremden Sprache und Viktor wiederholte seine Bemerkung, etwas lauter diesmal, begleitet von einer Verwünschung und einigen weiteren Beleidigungen. Als er noch einen Hieb abbekam, wurde er richtig zornig und sprang auf. Ohne lange zu überlegen, packte er den Mann am Kragen und schrie: „Du verdammter Hammelfresser, hör endlich auf, mich zu schlagen!“ Der Wächter war so erstaunt, dass er einen Moment brauchte, um sich zu fassen, dann gab er Viktor einen heftigen Schlag unter das Kinn. Viktor taumelte rückwärts, aber er ließ nicht los, so zerrte er den Mann mit als er rücklings zu Boden ging.

„Aufhören!“, rief nun ein anderer, etwas sauberer wirkender Mann, der im Türrahmen stand, lässig eine Pistole auf die Streithähne gerichtet hielt und laut lachte. „Hosni, lass ihn los und sorge für Frühstück. Etwas Ordentliches für unseren Freund hier, muss es schon sein. Wie wäre es mit etwas Eier und Speck, Herr Danninger, dazu viel starken Kaffee?“
Umgehend wurde Viktor losgelassen und der mit Hosni angeredete Mann verzog sich kommentarlos. Viktor saß am Boden und starrte.

„Na los, Kumpel, heb deinen Hintern hoch und setz dich. Nun haben wir etwas Zeit, um uns wie zivilisierte Leute zu unterhalten.“ Viktor starrte noch immer. Der Mann steckte nun die Pistole weg und kam grinsend auf ihn zu. Höflich hielt er ihm die Hand entgegen und sagte: „Ich bin Jan Podorski, der Chef hier.“ Als Viktor weiterhin nur fassungslos am Boden saß, packte er ihn am Handgelenk und zog ihn hoch. „Setz dich an den Tisch, Danninger, iss was und lass uns reden.“
Erstaunt starrte Viktor in das braune kantige Gesicht seines Gegenübers. „Na schön“, meinte er zustimmend. Die plötzliche Änderung der Situation machte ihn noch vorsichtiger und so schaute er sich um. Er verbarg nicht einmal mehr seinen neugierigen Blick, denn der Leiter dieser Einrichtung hatte ebenfalls scharfe Augen und beobachtete seinerseits Viktor genau. „Hier ist nichts versteckt. Wir haben nicht die Mittel und auch zuwenig Strom, um irgendwelches technische Gerät länger als eine Stunde am Tag laufen zu lassen. Setz dich endlich, Danninger.“ Viktor wagte ein Lächeln, es sollte weniger Erleichterung als Überlegenheit ausdrücken – keines von beiden empfand er.

„Was wird hier gespielt? Warum behandelt ihr mich wie einen Gefangenen und nun bewirtest du mich wie einen geehrten Gast? Was ist das hier?“, fragte Viktor als sie sich gegenüber saßen. Die Minuten schienen sich zu dehnen, in denen er auf Antwort wartete, dann kam das Frühstück. Hosni rümpfte die Nase, servierte aber kommentarlos die Eier mit Speck und den Kaffee. „Danke Hosni, ich weiß deine Überwindung sehr zu schätzen“, meinte Jan mit übertriebener Ernsthaftigkeit. „Du kannst gehen, unser Gast hier, wird mir nichts tun und auch keinen Fluchtversuch wagen. Nicht wahr? Du bist doch vernünftig, Danninger?“ Viktor nickte. Seine Neugier war erwacht, denn das hier war eine umgekehrte Welt, hier schien ein Ungläubiger das Sagen zu haben. Er wollte mehr darüber erfahren.
Mit Appetit machte er sich über das Essen her, und erst als er bei der zweiten Tasse Kaffee angelangt war, und mit dem Brot das Fett vom Teller wischte, blickte er auf. „Nun, Podorski“, begann er und war gleichzeitig sehr stolz darauf, den Namen behalten zu haben. „Warum bin ich dein Gast?“ Er machte eine ausladende Armbewegung, die sowohl den Raum als das ganze Haus einschloss. Jan grinste von einem Ohr zum anderen, was ihn sympathischer erscheinen ließ. „Ja, Danninger, das war ein Geniestreich von uns, dich hierher zu holen. Wir brauchen dich.“ Er verstummte und ließ das einmal auf seinen Gast wirken. Doch auf Viktor hatte das nicht die geringste Wirkung ausgeübt, wenn dann machte es ihn wieder wütend. „Ach, und da kann man nicht mal bei mir zuhause anklopfen und nett fragen? Da holt man mich aus so einem gottverdammten Flugzeug, sprengt Leute in die Luft und verfrachtet mich wie einen Schwerverbrecher oder Kriegsgefangenen auf einen verfluchten Felsen, umgibt mich mit noch mehr Hammelfressern und dann soll ich mich freuen, dein geehrter Gast zu sein! Ne, du, da hilft der ganze Kaffee nichts!“ Er stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. So wie er dastand, wirkte er mehr denn je wie sein älterer Bruder, Karol. Alles was fehlte, war der weiße Überwurf den Karol ständig trug, wenn er Artefakte rettete.
„Setz dich wieder.“ Jan war ruhig geblieben, füllte die Kaffeetasse neu und schenkte auch sich eine Tasse voll ein. „Setz dich!“, forderte er ihn jetzt schärfer auf. „Es hat keinen Sinn, dich gegen mich zu stellen, Kreuzer. Und sag nicht, dass du nicht so heißt! Es steht vielleicht nicht in deinem Pass aber in deinem Gesicht. Trink den Kaffee und hör mir zu.“
Viktor gehorchte, neugierig war er ohnehin und jetzt schien er die Antworten zu bekommen, die er begehrte. „Wie gesagt, wir brauchen deine Hilfe. Du hast Zugang zu bestimmten Kreisen, wohin wir so nie gelangen. Du kennst die Struktur der Polizei in eurem Land und was noch wichtiger ist, der Name Kreuzer sagt den Leuten noch etwas, zumindest vom Neufriedlandersee bis über den Brenner hinaus ist er bekannt.“
„Ja, ja … das mag schon sein, Podorski, aber was hat das damit zu tun, dass ihr mich braucht. Ihr hättet ja nur einen eurer Männer als Kreuzer ausgeben müssen.“
„Da geht keiner durch. Schau dich an, Mann! Ihr Kreuzer seid Riesen im Vergleich zu uns anderen.“
„Red keinen Scheiß und erklär mir endlich, was hier läuft. Weg kann ich wohl nicht von hier, wenn mir dein Gorilla meine Schuhe nicht wieder gibt. Also kann ich mir genauso gut deinen Mist anhören. Aber wenn mir nicht gefällt was du sagst, dann leg ich mich wieder hin. Die letzten Tage waren nicht sehr erbaulich.“
„Ach, stellst du jetzt Forderungen?“
„Du willst was von mir, Hammelfresser!“
Jan lachte nun lauthals heraus. „Hör auf mit den Beleidigungen, ja ich esse auch Hammel, wenn ich kein anderes Fleisch bekomme und nun gib endlich Ruhe und lass mich ausreden. Ihr seid schon ein ungeduldiges Volk.“ Viktor brummte etwas, schwieg aber während Jan von seinen Plänen zur Rückeroberung bestimmter Banate und Woiwodschaften berichtete. Er selbst wurde als Ban von Apuseni bezeichnet, obwohl er ursprünglich aus Preußen stammte. Ihm unterstanden die Leute aus diesem und umliegenden Dörfern im Umkreis von fünfzig Kilometern. Mehr traute er sich nicht zu, um die Aufmerksamkeit des ortsansässigen Religionsführers nicht auf sich zu ziehen.
„Ihr seid in kleinen Einheiten unterwegs?“
„Ja, aber wir hier in Apuseni sind die größte mir bekannte Gemeinschaft. Wir werden den Friedgläubigen schon zeigen, wo bei uns das Kreuz hängt, Mann! Ich will meine verdammte Sprache sprechen und mich nicht anpassen müssen in einem Land, das meine Familie bereits seit Generationen bewohnt hat.“
„Na, aber hier bist du auch nicht gerade daheim, Podorski“, fuhr Viktor dazwischen.
„Darum geht’s doch gar nicht. Ich glaube, die haben dir auf der Polizeischule das Hirn rausgebetet. Vielleicht hätten wir doch keinen gläubigen Bullen nehmen sollen. So macht das keinen Sinn. Wir wollten dich weiter nach Ankora schicken und wenn dein Auftrag dort erledigt ist, dann brauchen wir dich als Verbindungsmann zu den Brenner-Leuten. Aber wenn du mir so kommst …“ Jan sprach nicht weiter, saß einfach da, trank den Kaffee und wartete. Doch auch von Viktor kam eine Weile nichts. Er goss noch einmal Kaffee nach, streckte sich ordentlich, dann lachte er leise als eine Erkenntnis in ihm reifte.
Jan runzelte missbilligend die Stirn, sagte aber nichts zur Erheiterung seines Gastes. „Schick deinen Lakaien um noch mehr Kaffee“, verlangte er schließlich als er seinen Lachanfall wieder unter Kontrolle hatte. „Wie?“
„Kaffee! Du hast doch nichts an den Ohren, oder? Dein Gast, also das bin ich, wünscht noch Kaffee. Sag das diesem Kümmelfresser.“
„Würdest du mit meinen Leuten etwas höflicher umgehen, schließlich haben wir hier alle dasselbe Ziel. Hier sind schließlich auch Leute, die nicht der Friedensreligion oder den Osmanen angehören.“
„Na so ein Zufall aber auch. Schick irgendeinen deiner Untergebenen zur Plantage, die sollen aus einigen Bohnen … du weißt doch, wie man Kaffee herstellt?“
„Jetzt hör mal zu, Danninger, verarschen kann ich mich allein, dazu hätte ich nicht so einen Aufwand betreiben müssen. Wenn du etwas willst, dann frag ordentlich danach oder halt die Klappe.“ Jan drehte sich brüsk um und brüllte zur Tür hinaus: „Hosni, noch Kaffee und etwas mehr Tempo diesmal!“
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Was weiter geschah ...
„Ach, Herr Podorski, weil du gerade dabei bist und deinen Lakaien zur Sau machst, sag ihm, er soll ein Pflaster mitbringen.“
„Warum?“, Jan klang gereizt. Einerseits hatte er damit gerechnet, dass Danninger nicht gerade erfreut sein würde, hier einquartiert zu werden, doch mit so einer Dreistigkeit hatte er nicht gerechnet. Er hatte wie alle anderen auch gedacht, ein gebürtiger Kreuzer würde von sich aus gegen das Regime sein, auch wenn er Polizist war, stattdessen saß der Typ hier in seinem Haus und machte auf renitent.
„Er soll besser zwei mitbringen und nicht zu kleine. Ich fürchte bei meinem Spaziergang hierher, hab ich mir Blasen gelaufen. Du weißt schon, Straßenschuhe und Bergpfade harmonieren nicht so gut, außerdem waren sie neu und jetzt hat sie dein Hausaffe. Wenn ich geahnt hätte, dass ich hier in den Bergen marschieren muss, hätte ich mir natürlich ordentliches Schuhwerk angezogen.“ Viktor wollte sich nichts anmerken lassen, aber die Schmerzen in den Füßen wurden schlimmer, jetzt da die Blutzirkulation wieder voll in Gang gekommen war. Jedes Aufsetzen der Füße empfand er als Qual und er fürchtete schlimmere Verletzungen als nur eine Blase.
„Wenn es so arg ist, dann soll sich das Tulla ansehen“, kaum gesagt brüllte Jan sogleich einen Befehl. „Ein Pflaster wird reichen oder zwei“, meinte Viktor um Haltung bemüht. Doch Jan kostete nun seine Stellung als Gastgeber aus und befahl Viktor, die Klappe zu halten. Bis Tulla erschien, schwieg er tatsächlich. Dann schaute er erstaunt auf, denn er hatte mit einem weiteren Mann gerechnet, stattdessen kam eine eher unscheinbar wirkende Frau, die in übergroßen Kleidern zu stecken schien. „Was musst du so einen Radau machen, Jan?“, fragte sie ärgerlich. „Ich habe gute Ohren. Was gibt es hier?“ Ihre Stimme klang ein wenig rau, so als würde sie oftmals lauthals brüllen, um sich Gehör zu verschaffen, war aber keineswegs unangenehm.
„Sieh dir mal seine Füße an, scheinbar hat er sich etwas mehr als Blasen gelaufen“, erklärte Jan, ohne auf Viktors Proteste zu achten. Sie nickte begrüßend in Viktors Richtung und begann damit ihre Tasche zu durchstöbern, da kam Hosni mit dem Kaffee. „Den hätte dir auch sie mitbringen können. Chef, ich bin jetzt weg, hab wichtigeres zu tun als deinen Schweinefresser zu füttern“, meinte er mürrisch und stellte die Kaffeekanne so heftig am Tisch ab, dass die braune Flüssigkeit aus dem Kannenhals überlief und sich eine kleine Lache am weißen Tischtuch bildete. Sein Hass auf Viktor war unverkennbar und nur mühsam beherrscht, dass er hier als Lakai bezeichnet wurde, besserte seine Laune keineswegs, wozu auch Tullas Anwesenheit beitrug. Ungläubige Männer gingen ja noch, immerhin waren es Männer, aber ungläubige Frauen, das war ihm zuwider, die waren höchstens zum Vögeln gut, aber zu sonst auch nichts, und Tulla benahm sich ihm gegenüber nicht gerade respektvoll.
„Arschloch“, meinte Viktor und gleichzeitig, sagte Jan: „Bevor du deinen anderen Pflichten nachgehst, Hosni, wirst du noch ordentliche Stiefel für Herrn Danninger organisieren und sieh ja zu, dass die Dinger passen, Strümpfe kannst du auch gleich mitnehmen. Hopp auf, Hosni, die Arbeit wartet nicht.“ Dann blickte er Viktor scharf an, der belustigt grinste, wusste er doch, was für eine Ungeheuerlichkeit eben wieder von Hosni verlangt wurde. Zuerst musste er zur Fastenzeit Schweinefleisch bringen und nun auch noch Stiefel. Ungehalten über den Befehl blieb Hosni mit dem Rücken zum Raum an der Tür stehen und fragte zornig: „Was?“ Man sah ihm an, dass er viel lieber den Gast verprügelt hätte, anstatt den Stiefelknecht für ihn zu spielen. „Der soll sich selbst um seine Treter kümmern, das ist nicht meine Aufgabe, oder schick das Weib“, fügte er vor Zorn bebend hinzu.
„He!“, Tulla fuhr zornig herum und funkelte Hosni an, dabei hielt sie eine Schere drohend in seine Richtung, auch diesmal mischte sich Jan ein. „Nicht in dem Ton, Hosni“, zischte er, stand auf und blieb an der Tür stehen. „Benimm dich nicht wie ein Steinzeitproll und vergiss verdammt noch mal nicht, wer oder was du bist. Prügeleien dulde ich hier nicht, du weißt das, regelt das anders.“ Er blickte ihm nur einmal fest in die Augen und Hosni senkte die Lider. Erst dann wandte sich Jan süffisant lächelnd ab. Noch hatte er die Oberhand. Solange hier genug Ungläubige beziehungsweise Andersgläubige herumliefen, war er der Chef. Das konnte sich aber rasch ändern, sollten hier zu viele Friedgläubige auftauchen. Problematisch wurden die für jede bestehende Gemeinschaft, wenn sie in der Überzahl waren, denn dann versuchten sie allen ihre Lebensart aufzuzwingen, mit allen erdenklichen Mitteln. Das war auch der Grund, warum Jan mit den Zigeunern, die er eigentlich nicht sonderlich mochte, so zuvorkommend umging. Die meisten von ihnen hatten mit dem Friedensglauben nichts am Hut und wollten ihre Ruhe haben. Sie hielten ihre eigene Tradition hoch und waren gnadenlose Gegner, wenn es hart auf hart kam. Durch ihre Pendelbewegung im Eurasischen Raum brachten sie auch ständig Informationen mit, wofür sie in seinen Dörfern kostenlos versorgt wurden. Das funktionierte schon seit Jahren – eine Hand wäscht die andere, so sollte es sein nach Meinung der Widerstandsbewegung Apuseni und anderer befreundeter Gemeinschaften.

Gereizt schob er nun Hosni voran und wiederholte seinen Befehl im Hinausgehen, bevor er seinen eigenen Tätigkeiten nachging. Er wollte unbedingt den Einsatz für Viktor planen, damit er das in den nächsten Tagen Gesprächsreif machen konnte. Die Zeiten verlangten rasches Handeln, zu lange hatte die Welt nur zugesehen und gelächelt, jetzt war es Zeit, dass wirklich die Zähne gezeigt wurden. Noch sah Viktor das alles von einem eher familiären Standpunkt aus. Zur Polizei war er gegangen, weil er dachte, so den Menschen zu dienen. Die Konvertierung war nicht so wichtig für ihn gewesen, denn jede Religion ging ihm im Prinzip am Arsch vorbei.

Als Jan und sein Gefolgsmann das Zimmer verlassen hatten, ging Viktor zum Bett und entfernte vorsichtig die Socken. Schmerzhaft verzog er das Gesicht und da sah er die Bescherung. An den Fersen und den Innenseiten der Fußsohlen hatten sich mehrere Blasen geöffnet und es sah nicht sehr appetitlich aus. Angewidert zog er die Nase kraus, dann ließ er Tulla mit der Behandlung beginnen.
Stumm machte sie sich ans Werk, badete zuerst die Füße in handwarmem Wasser, in das sie eine Lösung aus Kamille gegeben hatte. Anschließend trocknete sie seine Füße sorgfältig ab, verteilte Salbe auf den Wunden und legte einen sauberen Verband an. „So Herr Danninger, damit das so bleibt wie es ist, rufst du jemanden, wenn du pinkeln musst oder noch besser, du nimmst diese Flasche hier.“ Sie lächelte belustigt, als seine Reaktion wie erwartet ausfiel. „Nein, Tulla, das nicht. Ich hab einige Blasen an den Füßen und sonst nichts. Ich kann gehen, wenn ich muss.“ So weit wollte er es nicht kommen lassen, dass er hier wie ein alter und kranker Mann behandelt wurde, das hätte nur seine Glaubwürdigkeit und seine Entschlossenheit untergraben. „Wie du meinst, ich sehe morgen wieder nach deinen Füßen.“ Kaum gesagt, war sie schon zur Tür draußen und schloss sie sorgfältig ab.
‚So viel zum geehrten Gast, Herr Podorski’, dachte er bitter. Dann machte er es sich im Bett so bequem wie möglich und dachte über seine Möglichkeiten hier nach. Viel Spielraum wurde ihm nicht geboten, von keiner Seite, denn zuhause galt er als tot.

Viyanna

Auch im Hamam wurde Hyrtl bereits erwartet. Ein Sicherheitsmann geleitete ihn sofort zu einer separaten Umkleide und von dort aus zum Bereich des Ogenerals. Vor der Tür zum Dampfbad standen zwei imposante Erscheinungen, die Arme vor der Brust verschränkt, und verscheuchten schon allein durch ihre Präsenz jeden neugierigen Badehausbesucher. Hyrtl sah ihnen die Anstrengung, hier in voller Uniform zu stehen an, denn der Schweiß stand ihnen in dicken Perlen auf der Stirn, auch die nassen Stellen unter den Achseln zeugten von dem Flüssigkeitsverlust der Wachmänner. Dennoch waren sie beachtlich, auch ihre Bewaffnung, was Hyrtl mehr interessierte, als die roten Gesichter. Neidisch blickte er auf die MP-5SD, die durch die Schalldämpfer sehr diskret abgefeuert werden konnten. Wie gerne hätte er so eine MP besessen, aber noch war er nicht so weit gesunken, um sich bei seinem Schwager, wegen einer Waffe zu erniedrigen. Der Mann am Eingang hatte sogar ein HK G36C in der Hand gehalten, das hätte Hyrtl dann doch beinahe um den Verstand gebracht. Solche Geräte sah man beim Militär nicht oft, sie hatten die eher einfacher gehaltenen Sturmgewehre zur Verfügung und er natürlich seine MP7.
Lässig grüßte er die schwitzenden Gestalten und ließ sich von ihnen die Tür zum Dampfbad aufhalten. Irgendwie war es ein gutes Gefühl, sich von diesen Offizieren wie einen Staatsgast behandeln zu lassen. „Na Jungs, alles Paletti?“, fragte er im Hineingehen. Eine Antwort bekam er nie, doch davon ließ er sich nicht stören, ebenso wenig von ihren giftigen Blicken. Er wusste, dass er ohne die Rückendeckung des Generals ein toter Mann war.

Georg betrat den dämmrigen Raum. Ohne seine Uniform, nur mit einem Handtuch um die Hüften bekleidet, kam er sich auf perverse Weise nackt vor... verwundbar, auch wenn er hier unter Freunden war, zumindest solange der General ihn als nützliches Werkzeug erachtete. Einige Sekunden dauerte es, dann erkannte er neben den Silhouetten mehrerer auffällig junger und überaus hübscher nackter Frauen die stämmige Gestalt seines Schwagers, und er ging zu ihm.
„Hab Dank für die Einladung Talas“, sagte er und neigte den Kopf, bevor er es sich auf einen Wink des Generals hin neben ihm auf der Bank bequem machte.
„Bitte gerne. Sei mein geehrter Gast. Schöne Grüße von Lena, soll ich dir ausrichten und du wirst wieder Onkel.“
„Ach, so eine Freude, Talas. Von wem ist es?“ Er stellte diese Frage beinahe beiläufig und verärgerte damit den General für Sekunden, doch der fing sich rasch wieder und lachte darüber, als hätte der andere einen Witz gemacht. Dann klatschte der General in die Hände, und auf dieses Signal hin erhoben sich die jungen Frauen und verließen hintereinander den Raum, die Köpfe schamhaft gesenkt.
Hyrtl blickte ihnen nach und ließ seinen Blick eine zusätzliche Sekunde lang auf dem appetitlichen Po einer besonders zierlichen Dame ruhen.
Natürlich bemerkte es sein Schwager. „Ach, Frauen... was wäre diese Welt ohne sie? Willst du eine von ihnen haben, bevor du wieder gehst? Ich könnte es einrichten... als zusätzliche Belohnung für deine treuen Dienste.“
Für eine Sekunde war Hyrtl versucht, das Angebot anzunehmen. Dann erinnerte er sich, dass derartige Gesten Celiks mitunter einen hohen Preis hatten, und schüttelte den Kopf.
„Wie du willst. Den Auftrag hast du tadellos ausgeführt. Ich habe bereits gestern Nachmittag Meldung erhalten. Es führen also keine Spuren zu mir.“
„Wie sollten sie auch, Talas? Ich bin der einzige der weiß, was tatsächlich abläuft. Was ist der Grund für das Treffen? Du weißt, dass auch ich unter Beobachtung stehe, ein einfacher Feldwebel, welcher der Schwager vom Ogeneral ist, das ist meinen Vorgesetzten nicht ganz geheuer. Du kennst die Typen, hast sie ja selbst eingesetzt.“ Hyrtl rückte sich auf dem Handtuch zurecht und atmete tief ein. Er genoss das Dampfbad, die Unterhaltung mit dem General weniger.
So lief es immer ab. Zuerst richtete Talas Grüße von Lena aus, die aber aus irgendeinem Grund nie für ihn zu sprechen war, dann bekam er Lob oder Tadel für den letzten Auftrag und dann begann das Gespräch über den nächsten. Es fand immer im Dampfbad statt, denn hier konnten sie nicht abgehört werden. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit ging jedes Abhörgerät kaputt und vor der Tür standen die beiden Gorillas, als letzte Abwehr, denn vor dem Eingang wartete der andere Leibwächter mit der G36C. Der Mann steckte sogar in einem Kampfanzug, was die anderen Besucher denken ließ, er wäre vom regulären Militär, dabei gehörte er der Privatarmee des Generals an.

Der General war gut gesichert. Von außen konnte keiner ungehindert an ihn heran kommen und sollte Hyrtl plötzlich seine guten Manieren verlieren, verhinderten die Männer vor der Dampfkammer das Schlimmste. Sie hatten ausdrücklichen Schießbefehl, für den Fall, dass ein Gast handgreiflich werden sollte. Diese drei Wachmänner waren allerdings nicht die einzigen, die exklusiv für den General arbeiteten. Wenn er sich im Hamam aufhielt, waren immer mehr Männer dabei, denn durch den Kundenverkehr mussten mehr Menschen überwacht werden. Das ganze Bad wollte er dann doch nicht mieten. Zu seinem Schutz waren der Mann am Eingang mit dem G36C, dann die beiden, die immer in seiner Nähe weilten und dann waren noch zahlreiche Männer rund um das Gebäude und an strategischen Punkten postiert. Auch in der Stadt waren viele seiner Söldner verteilt, die seine Villa, sein Innenstadtbüro und noch einige andere Immobilien bewachten, an denen er Interesse zeigte. Abgesehen von den Söldnern hatte er noch Spione in sämtlichen Ministerien und Glaubenszentren sitzen, die im Kalifat etwas zu sagen hatten. So reichte sein Arm bis weit in andere Kalifate, wozu auch seine weitverzweigte Familie beitrug. Hier hatte der Mutterschoß wirklich gute Arbeit geleistet und hohe Ehre verdient. Der Celik-Clan reichte über das Kalifat Viyanna und Umgebung bis nach Großanatol und nach Zentralarabia.

Hyrtl wusste darüber Bescheid und kümmerte sich nicht weiter darum. Er ging in Frieden seinen Geschäften nach und wurde erst dann handgreiflich wenn es nicht anders ging oder er einen entsprechenden Befehl erhalten hatte.
Lieber war er am Land, als in der Stadt. Er mochte Viyanna nicht, die Intellektuellen in der Stadt, oder die, die sich dafür hielten, waren ihm ein Dorn im Auge, denn manchmal fiel es einer Horde Studenten oder Akademiker ein, für die Rechte von Bauern oder Arbeitern auf die Straße zu gehen. Das fand er weder notwendig noch lustig und am liebsten würde er solchen Aufmärschen mit seinem Panzer einen Besuch abstatten. Er wusste, was die Leute am Land brauchten oder auch die Arbeiter, die wollten vornehmlich ihre Ruhe vor dem besserwisserischen Gesocks, etwas Warmes zu essen, ein Dach über dem Kopf und ab und zu mal ein wenig Spaß. Doch mit dem Frieden war das alles etwas weniger geworden. Am Land konnten sich die Leute noch ein wenig mehr entfalten und mit ihren Produkten selbst Handel treiben. Hyrtls kleines fahrbares Nebenerwerbsgeschäft florierte ausgezeichnet. Er wusste, dass der General seine Schieberei nur duldete, aber durch die Bezahlung einer gewissen Summe, hatte er sich dieses Gebiet gesichert und neben dem General in Viyanna sah auch der zuständige Pascha in Passau darüber hinweg. Manchmal kam er sich vor, als würde er zwischen allen Stühlen sitzen und nur die Vernunft hielt ihn davon ab, dem General die Kehle aufzuschneiden und ihn sauber ausbluten zu lassen. Seiner Meinung nach sollte man das mit allen machen, die meinten sie wären besser als der Rest der Menschheit, was auch so einige alt gediente Politiker mit einschloss. Aber solange sie seine Geschäfte nicht zu sehr behinderten, konnte er sie ignorieren.

Nun fragte er sich, wie er sich nur immer wieder auf so gefährliche Missionen einlassen konnte. Wenn sie wenigstens teilweise offiziellen Charakter hätten, aber alles lief auf einen persönlichen Kleinkrieg des Generals mit seinem Widersacher in Pest hinaus, der ebenfalls seine Hand auf der geplanten Trinkwasserpipeline liegen hatte. Dazu kam noch, die Verwandtschaft des Generals in Zentralarabia, die dauernd mit irgendwelchen Ölengpässen drohten. Hyrtl kannte das Spiel mittlerweile und fand es langweilig. Wenn hier etwas nicht nach dem Willen des Scheichs im Ölstaat ging, dann drehte der den Ölhahn zu. Celik war mit dem Scheich auf irgendeine Art verschwägert, genaueres wusste Hyrtl aber nicht. Der nächste auf der Liste war der Ayatollah in Ankora, der gleichzeitig auch der Ministerpräsident von Großanatol war, der versuchte ebenfalls an der Pipelinesache mitzunaschen und damit natürlich die nördlichen und westlichen Nachbarn zu kontrollieren.

Der General lehnte sich zurück und lächelte überheblich. Er wusste, dass er diesmal von Hyrtl sehr viel verlangte, zu viel wahrscheinlich, aber der Preis war hoch, höher als gewöhnlich. So sagte er nun: „Du sabotierst den Besuch vom Ayatollah und wenn es dir irgendwie möglich ist, nimmst du den Großmufti gleich mit. Merk dir, was ich dir sage, denn dafür gibt es nichts schriftlich.“ Hyrtl hatte das Gefühl, jemand dresche auf seinen Verstand ein, aber er hörte den Ausführungen des Generals zu. Das ganze Ansinnen kam ihm so hirnrissig, ja geradezu selbstmörderisch vor, dass er herzhaft lachte. Einen Moment hielt er es tatsächlich für einen Scherz. „Versteh mich nicht falsch, Talas, wie stellst du dir das vor? Wie denkst du komme ich mit meiner Lisa nach Viyanna, ohne entdeckt zu werden. Mit dem Panzer …“, er verstummte, denn nun hatte er eine Idee, wie es doch gehen könnte, zumindest einen guten Teil der Strecke konnte er auf dem Wasser zurücklegen.
„Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann, lieber Schwager. Du wirst sehen, nach diesem …“
„Hör auf damit. Wer leitet den Einsatz?“ Er wurde professionell und versuchte sich die aufkommende Panik und Wut nicht anmerken zu lassen. Dieser Auftrag war Selbstmord.
„Natürlich du.“ Noch immer zierte das selbstgefällige Grinsen das bärtige Gesicht des Generals.
„Keiner deiner Männer? Warum?“ Er wollte es wissen, ahnte aber, dass er darauf keine befriedigende Antwort bekommen würde, erst, wenn es zu spät war. Celik war ein hintertriebener Patriarch, der seine Position ausweiten wollte und dem jede Schandtat zuzutrauen war, die ihm niemand nachweisen konnte. ‚Schlaue kleine Drecksau’, dachte Hyrtl angewidert, hielt aber den Blick auf seine Hände, die er über die Knie gelegt hatte, um nicht unkontrolliert damit zu gestikulieren. Er wollte den Anschein von Ruhe bewahren.
„Du bist mein Schwager.“ Abermals lächelte der General herablassend.
„Ich bin Feldwebel in der Armee des Kalifen von Viyanna und Umgebung“, erklärte er entschieden, dann wollte er noch etwas sagen, unterließ es aber. Manchmal war es besser, seine Gedanken bei sich zu behalten, besonders Celik gegenüber.
„Sei froh, dass ich deine Schwester als dritte Frau genommen habe, denn sonst müsstest du wahrscheinlich noch immer in der Offiziersmesse die Latrinen putzen.“
„Oh ja, daran erinnere ich mich und ich sage dir, es gibt schlimmeres auf der Welt.“ Plötzlich grinste er breit. Es war alles andere als dem Glauben angemessen gewesen, was er dort angestellt hatte und es hatte dem einen oder anderen gläubigen Kollegen oder Offizier beinahe um den Verstand gebracht, wenn er sich über die hygienischen Vorschriften hinweggesetzt und sein eigenes Desinfektionsmittel verwendet hatte, es handelte sich um hochprozentigen Schnaps vom elterlichen Hof. Auch war es ihm von jeher egal gewesen, mit welchem Fuß er über die Schwelle trat, er hüpfte sogar mit beiden Beinen darüber, wenn es ihm gerade Spaß machte.
„Vergiss nur nicht, wem du verpflichtet bist, Schorsch“, der General klang freundlich, doch die Drohung war unmissverständlich und brachte Hyrtl gedanklich zurück ins Dampfbad. „Natürlich nicht, Herr General, ich weiß, wo mein Platz ist.“ Darüber dachte Celik eine Weile nach, dann sagte er: „Den genauen Zeitplan erfährst du später, das hat noch Zeit. Nächste Woche haben du und deine Mannschaft Urlaub und ihr werdet Pest einen kleinen Besuch abstatten, du weißt schon.“ Hyrtl biss sich gerade noch auf die Unterlippe, um einen Wutausbruch zu verhindern. Eben hatten sie einen Spion aus den Pester-Reihen ausgeschaltet und jetzt sollten sie selbst in die Höhle des Löwen fahren, nur sie vier Mann, das kam ihm dann doch reichlich kümmerlich vor. „Ich bin kein Spitzel, Talas, ich schaffe Tatsachen und für die letzte Tatsache hätte ich gerne eine Bestätigung für meine Bestellung. Du weißt schon, das coole Ding, mit dem man sogar in der Nacht sehen kann – Nachtsichtgerät nennt man das“, sagte er endlich sehr beherrscht, das brachte den General zum Schmunzeln. „Wie immer verstehen wir uns prächtig.“
„Wen?“ Er seufzte, schon so früh nach einem Anschlag hatte er nicht mit einem weiteren gerechnet, aber auf das Spezialfernglas war er schon länger scharf und so war er wenigstens von der anderen Sache abgelenkt und konnte sich in Ruhe Gründe überlegen, warum das nicht machbar war. Jetzt war er in einer etwas schlechteren Position, so entblößt wie er sich in dem Moment vorgekommen war, als er ihm den Auftrag übergeben hatte und dabei hatte er nicht die eigene Nacktheit im Sinn.
„Chefverhandler Theo Yilmaz.“ Darüber dachte er kurz nach, dann nickte er und meinte schlicht: „Gut.“ Der Auftrag schien machbar zu sein, Yilmaz kannte er. Er war für die Vertragsabschlüsse zwischen den Kalifaten Viyanna und Pest zuständig, die bereits seit fünfzehn Jahren über die Trinkwasserleitung von Semmering bis Pest verhandelten. Immer wieder kam etwas dazwischen und Celik, der ein persönliches Interesse an der Pipeline hatte, dauerte das alles schon zu lange. Er würde die Figuren einfach austauschen und weiter im Hintergrund bleiben.
„In drei Wochen reden wir über die delikatere Angelegenheit, ich will, dass du dir alles genau ansiehst und dir einen Weg überlegst. Nachricht auf üblichem Weg, wenn die eine Sache erledigt ist und mach die Tür ordentlich zu, wenn du gehst. Morgen bekommst du deine Bestellung, Astsubay.“ Damit war Hyrtl entlassen und er stand rasch auf.

Erst als er wieder in seiner gewohnten Uniform steckte und am Bahnhof wartete, wagte er, gründlicher über alles nachzudenken. Er hatte den Verdacht, dass die Geschichte mit Güzün eine Falle war, eine üble, in der er der Verlierer sein würde, sollte es ihm nicht gelingen, den Ayatollah unerkannt zu liquidieren. Aber vorher war noch die andere Sache zu regeln. ‚Hyrtl, das sind sehr interessante Zeiten, in denen du lebst.’ Er schaute in den grauen Himmel, schauderte und sagte dann: „Verdammte Saubande, verdammte.“
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****ra Frau
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„Genau“, antwortete jemand. Erschrocken fuhr Hyrtl herum und erkannte vorerst nur eine Gestalt in einem Ganzkörperschleier. Nach der Schrecksekunde räusperte er sich und meinte: „Potzblitz aber auch, was machst du hier? Hast du keine Angst, dass sie dich erwischen und verhaften?“ Rasch drehte er sich wieder um, es durfte nicht ersichtlich sein, dass er diese Frau kannte und sie ihn angesprochen hatte. Nur nicht die Aufmerksamkeit GP erwecken, schon gar nicht im feindlichen Gebiet und feindlich war alles, was nicht sein Panzer war.
„Warum denn? Ich bin doch schicklich gekleidet und verdammt froh, wenn ich das Zelt wieder ausziehen kann.“
„Du bist verrückt, Bi...“
„Pscht. Keine Namen.“
„Schon gut, entschuldige“, einen Moment lang hatte er nicht nachgedacht und die angeborene Vorsicht fallen lassen. Er hätte ihr gerne die Hand geschüttelt, aber er hielt den Blick streng nach vorne gerichtet, wie auch sie einen Schritt neben und hinter ihm stehen geblieben war. „Wie hast du mich gefunden und was machst du hier?“, fragte er stattdessen den Mülleimer neben der Bank.
„Das war Zufall, Georg. Ich war heute Vormittag am Bahnhof, da habe ich dich ankommen sehen, also habe ich gewartet. Wer achtet schon auf eine Person wie mich?“, sie redete so leise, dass er sie fast nicht hören konnte, so lehnte er sich zurück und schloss die Augen, tat als würde er sich entspannen, ein Soldat auf Urlaub, ein nicht ganz ungewohntes Bild in der Hauptstadt. „Richtig. Was willst du?“ Hyrtl war wieder vorsichtig, setzte sich erneut anders hin und redete diesmal einen Gepäckwagen an, der einige Schritte vor ihm an einer Halterung befestigt, stand.
„Hast du etwas von Viktor gehört?“, fragte sie sofort.
Hyrtl atmete erleichtert auf, es war nur eine private Frage. „Leider nicht. Er hat euren Hof in die Luft gejagt, hat ganz ordentlich gerummst. Ihr habt das bestimmt noch gehört. Wie geht es dir und … den anderen.“ Beinahe hätte er die Namen genannt, sich aber gerade noch gebremst. ‚Ich bin müde’, dachte er bei sich.
Kaum hörbar für ihn berichtete sie von ihrer Ankunft in Viyanna, das erst am Morgen gewesen war und wie sie sich nun einzurichten versuchten. „Ihr seid verrückt, gerade hierher zu gehen“, meinte Hyrtl, als sie geendet hatte. „Ja so schaut es aus. Aber wo könnte es sicherer sein, als hier? Es gibt noch viel zu tun“, erklärte sie und dachte dabei an die vielen Kunstschätze, die irgendwo vermoderten, an Menschen, die ebenso an der Lieblosigkeit der Friedensreligion kaputtgingen wie die alten Gebäude und die gewachsenen Strukturen. Es war nicht mehr viel vorhanden, was einmal eine abendländische Kultur ausgemacht hatte.

Plötzlich knackte es in einem der Lautsprecher am Bahnsteig und Hyrtl wandte seine Aufmerksamkeit vom Gepäckwagen ab und der Durchsage zu. Eben wurde die Abfahrt seines Zuges angekündigt. „Ich muss los. Ende nächster Woche oder Anfang übernächster bin ich in Viyanna. Vielleicht gibt es wieder einen Zufall. In Shallah oder wie das heißt … Pfiat di.“ Damit rannte er los, achtete nicht weiter auf die schwarze Gestalt und schaffte es gerade noch rechtzeitig in den Regionalzug nach Poltern.

Biri hatte nichts erreicht, außer vielleicht eine große Schelte von Karol, weil sie so lange weggeblieben war. Aber sie hatte jetzt endlich ihren Vollumhang, sie nannte es Einmannzelt ohne Klimaanlage, deswegen hatte sie den Unterschlupf auch verlassen. Trotz der Kühle des Tages schwitzte sie darunter und sie beeilte sich, in die Innenstadt zu kommen. Anonym tauchte sie in der Menge unter und etwa eine Stunde später kam sie völlig erschöpft am alten Flakturm an. Es fehlten bereits einige Stockwerke und eine Seite war mit Gerümpel verrammelt, aber ein Eingang war noch intakt. Hier hatten sie sich vorerst eingerichtet, für wie lange wussten sie noch nicht. Karol hatte in Viyanna schon länger nach einem geeigneten Unterschlupf gesucht und in dem alten Bunkernetzwerk einen gefunden, der zur Not auch leicht verteidigt werden konnte. Sie brauchten nur die Zugänge bis auf einen zu sprengen und schon, so dachte er, hätten sie gewonnen. Er hatte aber nicht damit gerechnet, dass dieser positive Aspekt auch für die andere Seite galt und sie ganz leicht eingeschlossen werden konnten.

Das dumpfe Poch-Poch-Poch ihres Klopfens machte kaum ein Geräusch und Biri fürchtete schon, Karol oder Ole würden sie nicht hören. Die Minuten dehnten sich zu gefühlten Stunden und ihr wurde zunehmend unwohl unter dem Körperschleier. Sie meinte, darin zu ersticken oder sein Gewicht nicht mehr tragen zu können. Nun verstand sie die Frauen, die nur wenig ausgingen, das Unding war einfach nur hinderlich und gefährlich. Einige Male war sie nur mit Mühe durchgeknallten BMW-Fahrern entkommen, die meinten auf der Ringstraße ein Rennen fahren zu müssen. Am Bahnhofsplatz war es nicht besser gewesen. Ruhiger wurde es erst in der Straße der Gebete. Bei jeder schnelleren Gangart wickelte sich der Stoff um die Waden und zwang einen langsam zu gehen, wollte man nicht fallen. Ebenso machte die schlechte Sicht durch den Sehschlitz jeden Spaziergang schwierig, sie kam sich blind und taub vor, denn hören konnte sie darunter auch kaum und so wurde sie immer verzagter, als sie jetzt wartete und Angst hatte, es würde sie keiner hören. Endlich schwang die Tür auf und Karol schaute sie verdutzt an. „Wo zum …?“, fragte er, doch sie schniefte nur, schob ihn zur Seite und drang in den Vorraum ein. Der Seufzer schien aus tiefster Seele zu kommen, als sie endlich das hinderliche Kleidungsstück abgestreift hatte, wobei ihr Karol behilflich sein musste.
„Ich hab Hyrtl getroffen“, sagte sie rasch, noch bevor er schimpfen konnte.
„Wo?“, fragte er perplex.
„Am Bahnhof. Ich musste doch das scheußliche Ding kaufen und da hab ich ihn gesehen und gewartet. Kurz haben wir miteinander gesprochen. Nächste Woche ist er wieder in Viyanna.“ Darauf sagte Karol nichts mehr, er nahm sie einfach in den Arm, so erleichtert war er, sie zu sehen und flüsterte: „Ich hatte Angst ... um dich.“ Noch immer drückte er sie an sich, atmete den Duft ihres Haares ein, dann murmelte er kaum hörbar: „Schlafe heute mit mir … es ist so lange her.“ Im ersten Moment wusste sie nicht was sie sagen sollte, denn die meisten Männer hatten es sich abgewöhnt zu fragen, sondern nahmen sich einfach was sie wollten, zumindest war es unter den Friedgläubigen so der Brauch.
„Bring mich nachhause“, antwortete sie schlicht, dabei schmiegte sie sich ganz fest an ihn. Er war gut und stark, der Mann den sie liebte und vertraute und der ihr zuhause war.

„He, ihr beiden! Leg mal dein Zelt zur Seite, Biri, und kommt, das müsst ihr euch ansehen“, rief Ole, lächelte kurz gezwungen und eilte bereits voraus.
„Was ist los?“ Karol sofort wachsam geworden, folgte Ole, dabei ließ er Biri keinen Moment los. Er schien ihre Nähe zu brauchen, denn an diesem Tag gab es für ihn einen Schock nach dem anderen. Einen hatte er erlebt, als er im Bunkersystem alte Dokumente gefunden hatte, woraus sich schließen ließ, wie ihre Kultur von den eigenen Leuten verraten worden war, weil sie dachten, etwas Gutes zu tun. Das hatte er von jeher befürchtet, nun hatte er es bestätigt gefunden. Dann hatten sie den Monitor entdeckt und Ole schaffte es, den Empfänger zu justieren und auszurichten. Nun konnten sie wenigstens die stündlichen Propagandanachrichten verfolgen.
Im Wohnraum hatte Ole den Fernsehempfänger aufgebaut und dort sahen sie auf dem Propagandakanal GF 1 die aktuellen Nachrichten. Das Bild war schlecht, doch sie konnten genau erkennen, wie auf der Donauinsel, die seit einigen Jahren von den wenigen ansässigen Autochthonen nur noch Hängemeile genannt wurde, die Exekution zweier Männer vorbereitet wurde. Immer wieder flackerte das Bild, weil der Empfang so schlecht war, aber sie bekamen mit, was passierte. „… in wenigen Augenblicken … die Hinrichtung der Lügner und Verleumder Manuel Schmid und Herschel Friedrich. Beide sind überführt … Blasphemie … Homosexualität …“, ertönte die leidenschaftliche Stimme des Sprechers.
„Was? Nicht sie! Das sind Freunde von mir. Manuel und Herschi, Historiker, Altertumsforscher …“ Vor Zorn brachte er beinahe kein Wort heraus, alle Farbe wich ihm aus dem Gesicht als er sah, wie sie zum Richtplatz geführt wurden. Jeder hatte ein Schild um den Hals hängen, wo seine angeblichen Taten aufgeführt waren. Ole und Biri schafften es nur mit Mühe, Karol vor einer kopflosen Tat zu bewahren, denn er wäre ohne Plan aus dem Zufluchtsort gestürmt, um die Freunde zu retten.
„Schalt das dämliche Ding aus, Ole“, herrschte ihn Biri an, dann packte sie Karol an den Händen und zog ihn zum Tisch, dort drückte sie ihn auf eine Bank. Anschließend holte sie etwas von ihrem Heilmittel und nötigte ihm einen doppelten Korn auf. Endlich kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. „Ich bring sie um. Einen nach den anderen mache ich kalt, ich schwöre es. Die töten alles, was sie nicht verstehen.“ Er griff an seine Seite und fasste nach der Pistole, die noch in seinem Gürtel steckte. Nie wieder würde er sich davon trennen und auch nicht von den Messern, die er von nun an überall, wo sich Platz fand, in seiner Kleidung versteckt hatte.
„Es liegt ein Grab in Polenland, ein Hügel dort am Straßenrand, ein schlichtes Kreuz …“, hob Biri ein altes Lied zu singen an, schenkte ein weiteres Glas voll ein und zu dritt betranken sie sich. „Das wird es für meine Freunde nicht geben. Kein Grab, kein Kreuz, kein Garnichts“, lallte Karol schließlich dann gröhlte er lauthals: „Axes flash, broadsword swing, shining armour’s piercing ring … kein Helm und keine Heldentaten, hahaha, ich erschlag sie mit dem Spaten …“ er lachte während er sang, dann hakte er sich bei Biri ein und meinte: „Bring mich nachhause, Süße … ich will nachhause, Biri.“ Sie verstand ihn, ihr ging es genauso. Stürmisch und hungrig umarmte er sie, drückte sich fest an sie, verschlang sie beinahe mit seinem Kuss, dabei begann er, ihre Bluse aufzuknöpfen. Als er sich Oles Blick bewusst wurde, ließ er von seiner Frau ab und lallte: „Ah, verdammt, Ole, komm halt mit, wenn es Biri nichts ausmacht.“ Biri fand ebenso, es war Zeit, diese langjährige Freundschaft auf eine neue Ebene zu heben. Sie streckte auch Ole einladend die Hand entgegen und zusammen gingen sie zu ihrem Nachtlager.

Am nächsten Morgen konnte sie zunächst keinen der Männer anblicken. „Hey“, sagte Ole und stellte einen Becher mit heißem Tee vor sie, dann nahm er neben ihr Platz und sagte: „Ich hoffe, ich habe dir nicht weh getan.“ Sie hob den Kopf und lächelte. „Nein, das hast du nicht. Es war … es war … anders als alles, was ich kannte.“ Mit roten Wangen dachte sie daran, wie sie sich gierig an beide Körper geklammert hatte und dann hatte sie mit Erstaunen festgestellt, dass sich die beiden Männer ebenso umarmten, wie sie es bei ihr taten. „Es ist dir hoffentlich nicht peinlich, Biri, dass ich auch auf Karol …“
„Nein, nein, ist schon in Ordnung. Wie gesagt, es ist … neu.“
„Magst du etwas zu essen? Also, ich könnte jetzt ein ganzes Schwein verschlingen. Ein Spanferkel. Wie ist es mit dir, Karol?“
„Immer her mit dem Schwein … irgendeines wird noch bluten müssen“, murrte der Ältere zornig, doch dann lächelte er. „Ich höre schon auf. Danke euch beiden für die Erdung gestern. Das hatte ich verdammt nötig.“ Er grinste verschämt, dann hielt er sich den Kopf und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Biri zwischen sich, berieten sie, wie sie die gefundenen Artefakte im Keller katalogisieren und übersetzen sollten, denn nicht alles war klar formuliert, manches davon schienen schwammige Gesetzestexte zu sein. Aber das konnte man erst sagen, wenn man alles untersucht hatte. Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder in die Gegenwart und zu seinen toten Kameraden, deren Leichen den Elementen preisgegeben waren und zur Schau noch immer vom Kran baumelten.
Die Hängemeile war ein guter Platz für Geier jeder Art.
„Ich werde alle nach der Reihe zur Rechenschaft ziehen. Irgendetwas lasse ich mir einfallen, Leute und wenn es das letzte ist, was ich im Leben tun werde. Diese Dreckschleuder von Kalif wird dafür bezahlen, dass seine verfluchte Familie das Land verraten hat.“ Die Frau legte beschwichtigend ihre Hand auf seinen, dann schaute sie ihm ins Gesicht und nickte. Ole bestätigte ebenfalls. „Wir kämpfen bis zuletzt, Karol! Wir sind Kreuzer! Krieger des Kreuzes, verdammt noch mal!“, brüllte er, dann etwas ruhiger„Was machen wir jetzt? Wenn die uns erwischen, dann sind wir auch dran.“ Ole blickte von einem zum anderen. Die Frage war ernst gemeint, denn sie waren mitten im Hornissennest und wollten von hier aus kleine Sicherungsoperationen starten, wie Karol es nannte. Herschel und Manuel hatten in Viyanna die Hauptarbeit geleistet und Karol wusste, wo sie ihre Lager und Verstecke hatten, zumindest kannte er einige davon. Keiner hatte von allen alles gewusst, das wäre zu gefährlich gewesen. Doch nun kam für die beiden Männer jede Hilfe zu spät. Sie hingen tot im Wind und wurden von den Aaskrähen beäugt. Karol fuhr sich mit beiden Händen über das Gesicht, rieb sich die Augen und meinte schließlich: „Ich seh mir nachher die Lager der beiden an, sollten sie noch nicht von der GP entdeckt worden sein. Ole kommt mit mir und Biri, du musst hier die Stellung halten. Schaffst du es, einkaufen zu gehen? Ich weiß, mein Schatz, es ist viel von dir verlangt, in der Burka …“
„Lass gut sein, Kreuzer, ich schmeiße hier den Laden. Macht euch auf den Weg und irgendwann müssen wir uns ein Kommunikationssystem überlegen, damit wir uns gegenseitig warnen können. Du weißt schon nicht registrierte Handys oder so etwas.“
„Menschenskind, Biri, das ist eine gute Idee.“ Ole gab ihr einen scheuen Kuss auf die Wange und fragte danach: „Wann gehen wir?“
„Bald. Aber zuerst ziehen wir uns um.“ Karol grinste vieldeutig, ging zu seinem Rucksack und kam mit einem weißen Umhang zurück. „Den trage ich immer, wenn ich arbeite“, verkündete er stolz. Einen zweiten händigte er Ole aus. „Karol, damit fallen wir zu sehr auf“, versuchte er seinen Freund zur Vernunft zu bringen. „Nicht heute, Karol, wir tragen ihn, nur nicht heute. In einigen Tagen, wenn die Leichen fortgeschafft sind. Bitte. Denk auch an Biri“, drang er weiter in ihn.
„Weißt du was“, meinte Biri schließlich, die einen Einfall hatte und gleichzeitig Karol ablenken konnte. „Ich nähe schwarze Kreuze darauf. So etwas habe ich einmal auf einem Bild gesehen, das sieht gut aus und passt zu euch, Jungs.“
*****ine Mann
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Donnerwetter, so langsam gewinnt die Handlung immer mehr an Komplexität und Tiefe, der Hintergrund entfaltet sich und die ersten konspirativen Strukturen zeichnen sich ab. Es ist schön, zu beobachten, wie die einzelnen Figuren immer mehr an Eigenleben und Charakter zunehmen. Das menschenverachtende Regime zeichnet sich mit jedem einzelnen neuen Detail in seiner blutrünstigen Perversion immer schärfer ab und bleibt dabei auf erschreckende Weise glaubhaft, ohne abgehoben zu wirken.
Und die Spannung steigt ins Bodenlose. *top*
Weiter so, Herta!
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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So geht es weiter ...
Aber vorher noch ein herzliches Danke an Bedouine ... nicht nur für deinen aufmunternden Kommentar hier, sondern auch für deine Kenntnisse, die du mit mir teilst und den Tritt in den Hintern, den ich ab und zu zu brauchen scheine *ggg*

*blumenschenk* (ich weiß, Frauen schenken Männern keine Blumen, ich schon) Herta

**********************************

Apuseni

Er hatte neue Stiefel bekommen was ihm aber nichts brachte, weil er trotz der hochtrabenden Worte Jans, in dem kleinen Raum eingeschlossen war. Ärgerlich schnaubte er vor sich hin, die Zeit verstrich ihm nur im Zeitlupentempo und dieser Hosni schien sich einen Spaß daraus zu machen, ihn auflaufen zu lassen, wenn er allein mit ihm war. Doch Viktor war an solche Gemeinheiten aus seiner Schulzeit gewöhnt und konnte sie entsprechend und mit Zinsen zurückzahlen. Und weil er mit einer Vielzahl an Glaubensrichtungen groß geworden war, schaffte er es stets, die Spitzen exakt zu dosieren, manchmal waren sie homöopathisch gering, beim nächsten Mal hatten sie die Schlagkraft einer Atombombe. Je nachdem, was er auslösen wollte. Hosni war für alle Varianten sehr empfänglich, denn, wie Viktor richtig vermutete, war dessen Selbstbewusstsein nicht gerade stark ausgeprägt und jede Kleinigkeit konnte ihn in Rage versetzen. Viktor amüsierte sich königlich darüber. Besonders, als er die Stiefel bekam und sich beim Probieren helfen ließ, das er auch gut allein fertiggebracht hätte. Alle möglichen Gründe fielen ihm ein, warum gerade diese Stiefel nicht passten und er schickte Hosni um ein weiteres Paar. Das machte er insgesamt zehnmal, nur um sich dann am Schluss für das erste Paar zu entscheiden. Viktors Mutter hatte das bis zum Exzess beherrscht, nicht nur bei Schuhen, sondern bei allen möglichen Gütern, und er war ihr ein gelehriger Schüler gewesen, mehr als er selbst gedacht hatte.
Einige Tage später kam Podorski erneut zu ihm und machte ihm Vorhaltungen. „Herr Danninger, ich verstehe vollkommen, dass du dir hier irgendwie die Zeit vertreiben willst, aber es gehört nicht dazu, Hosni zu verärgern. Ihr müsst lernen, euch zu vertragen, denn ich brauche euch beide.“ Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, starrte er auf den Glaubenspolizisten.
„Ich muss gar nichts, Herr Podorski. Du weißt nicht, mit wem du es zu tun hast. Du denkst, ich bin nur so ein dummer kleiner Bulle, der einige Kreuzer-Geheimnisse kennt, aber da, mein Freund, irrst du dich.“ Viktor richtete sich im Bett auf und schwang mit mehr Elan als er fühlte die Beine von der Bettkante. Nase an Nase standen sie sich gegenüber und starrten sich in die Augen. Ein Wettstreit des Willens. Und nur Viktor wusste, dass er nichts wusste. Kein einziges Geheimnis kannte er, hatte sich nie etwas erzählen lassen, aus Angst unwissentlich etwas zu verraten. Lediglich die Diskette hatte er aus dem Haus retten können.
„Leute“, beendete Tulla das Duell, die nach Atem ringend in das Gästezimmer gestürmt kam. Jan blinzelte, drehte sich aber nicht um. „Was?“
„Chef, die Zigeuner sind da. Goral will dich dringend sprechen und er verlangt einen Arzt.“ Jan war eine Sekunde sprachlos, dann fing er sich und befahl: „Tulla, du bist hier der Arzt. Abmarsch! Schick Goral in mein Zimmer! Danninger, komm!“ Sie wollte noch widersprechen, denn sie wusste, dass die Zigeuner Probleme machten, wenn sie die Behandlung vornahm. Sie waren da sehr eigen, höflich gesagt und Tulla schnaubte verärgert. Als Gadscho, als Nicht-Roma, und noch dazu als Frau galt sie als unrein. Jan wollte das nicht einsehen und sie schaffte es nie, sich durchzusetzen. So gab sie auch jetzt nach und befolgte den undurchführbaren Befehl.
Jan Podorski drehte sich vollends um, schwang sich mit Schwung den Schal über die linke Schulter und schritt forsch aus. Verblüfft folgte ihm Viktor.

Mittlerweile kannte er die Gänge, welche in den Berg hineinführten. Vom weitem sahen die Häuser so aus, als würden sie lediglich aus zwei Zimmern bestehen, doch ein Teil der Wohnanlage war in den Fels geschlagen worden.
Jan ging in sein Büro, das gleichzeitig sein Schlafzimmer war. „Hosni! Organisier Kaffee für drei und dann sieh zu, dass diese Leute gut untergebracht werden, das sind unsere Verbündeten!“, rief er, als er seinen Stellvertreter erkannte. Hosni war gerade aus einer Tür getreten und blickte verschämt zur Seite, als er Jan bemerkte. „Okay, Chef“, murmelte er und rannte weiter. Endlich einmal eine Aufgabe, die nichts mit Tieren oder Schuhen zu tun hatte. Doch da irrte er sich, denn der Anführer Goral hatte seine Meute an Hunden etwas vergrößert.

Neugierig betrachtete Viktor den Zigeuner und erstarrte. Er erkannte in ihm einen Mann, der in halb Eurabien gesucht wurde. Ihm wurden Betrug, Nötigung, Diebstahl und Mord vorgeworfen, sowie noch zahlreiche weitere Kleindelikte, die seine Sippe, seine jati, begangen haben sollte. Doch Goral sonst eher aggressiv, wenn ihn jemand so anstarrte, lachte lediglich und sagte: „Gadscho, du hast wohl noch nie einen cigany gesehen, so wie du die Augen aufreißt. Sei froh, dass du hier unter Freunden bist, denn würde ich dich draußen …“
„Schon gut“, antwortete Viktor verbindlich, sah weg und nahm sich Kaffee. Er fragte sich, warum er dabei sein musste, aber andererseits interessierte es ihn, was der Roma zu sagen hatte.
Jan hieß sie um einen kleinen Tisch platz nehmen und verteilte nun die Rollen des Sprechers und der Zuhörer, indem er Goral das Wort gab. „Goral, bleib ruhig, der ist mein Gast. Er hört nur zu und lernt.“ Scharf fixierte er mit seinem Blick Viktor, bis dieser nickte. Dann fragte er: „Was ist passiert? Du sagtest doch, dass ihr bis an die Westküste wandern wolltet und erst in einigen Jahren wieder nach Apuseni kommt. Jetzt bist du nach einem Monat schon wieder da.“ Goral rückte sich auf dem Stuhl zurecht, sodass er mit nichts anderem in Berührung kommen konnte, ignorierte die Tasse, denn die hatte ein Türke, ein Xoraxaj, in der Hand gehabt, ein Angehöriger einer Volksgruppe also, mit denen man keinesfalls irgendwie in Kontakt geraten durfte, wenn es sich vermeiden ließ. Viktors eigenartiges Starren ließ er vorerst auf sich beruhen, das konnte man später noch regeln, jetzt war er auf Jans Hilfe angewiesen. Er brauchte dringend einen Platz für die Verwundeten und die Neuigkeiten mussten ausgetauscht und miteinander in Zusammenhang gebracht werden.
„Reg dich ab, Gadscho und hör zu“, sagte er deshalb ruhiger als er sich fühlte. „Wir sind unvermutet sind auf Xoraxaj gestoßen, du weißt ja, wie sehr ich diese Großkotze liebe“, begann er seinen Bericht, dabei grinste er böse. „Also, zuerst dachten wir noch, das wären normale Bauern und wir wollten unsere Dienste als Kesselflicker anbieten, so wie wir es immer machen. Dabei stellte sich dann heraus, dass es ein Ausbildungslager für Jihadisten war. Die Betonung liegt auf war. Wir haben sie ausgelöscht. Diese feigen Hunde, haben wohl nicht mit uns Rajputs gerechnet, ich schreib dir nachher die Koordinaten auf, wenn dieser Das hier weg ist.“ Er blickte gehässig auf Viktor, der weiterhin auf seine Tasse starrte, doch das Wort erboste ihn innerlich. Er fand es eine Unverschämtheit, ihn als Sklaven zu bezeichnen. Als Viktor nicht reagierte, fuhr er stolz fort und erklärte, wie sie sich unerkannt unter die Bevölkerung mischten und von dort aus Terror verbreiteten. „Wer denkt schon daran, dass wir uns zusammengeschlossen haben, zwei jati in einer vereint – die Kesselflicker, die unsere Tarnung sind und dann noch wir Krieger.“ Er lachte lang und ausgiebig, denn die Schlacht war nur kurz gewesen und sie hatten reichlich Beute gemacht und im Vergleich nur wenig Verluste hinnehmen müssen. „Wir haben denen gezeigt, dass mit den cigany nicht gut Kirschen essen ist, dieses versiffte Pack. Sechs Überlebende behalte ich als Das, schließlich müssen die mir den Verlust meiner Männer ersetzen. So gut wie meine Rajputs sind sie nicht, aber sie werden lernen, zu arbeiten.“
„Das denke ich auch, Goral und ich bin dir wieder einmal zu Dank verpflichtet, weil du unsere Feinde vernichtet hast.“
„Ah, kaum der Rede wert.“
„Deine Mühe wird nicht vergessen, Goral.“
„Davon gehe ich doch stark aus, Podorski. Ich habe einige Beutewaffen und ich brauche jetzt doch noch für einige Zeit einen Platz für meine und die gotra aus der anderen jati. Kommen wir wie üblich ins Geschäft? Und schick diesen starrenden, dreckigen haxo raus, der stört mich, sonst befördere ich ihn vor die Tür!“ Überheblich nickte er in Viktors Richtung, der sich gerade noch auf die Lippen biss, um nichts zu sagen. Betont gelangweilt betrachtete er weiter das Muster auf dem Kaffeebecher, es waren lauter kleine rote und gelbe Rosen aufgemalt. Das Motiv kam ihm lächerlich friedlich und kitschig vor in einer Welt der dauernden Gewalt. Als der Roma noch eine weitere Beleidigung los wurde, reagierte Viktor allerdings. Langsam drehte er sich zur Seite und lächelte. „Ah, du bist wohl auch ein kleiner Schlaumeier. Am besten, du packst deine Beleidigungen zu einem kleinen Paket zusammen, verschnürst es und schickst es als Hilfslieferung nach Pakistan. Am besten noch, du lieferst es selbst ab und komm mir nicht mit deiner Ehre, die ist ...“
„Was hast du am Wort zuhören, nicht verstanden, Danninger?“, unterbrach Jan Viktors Schmährede, er wollte unbedingt verhindern, dass sich Goral durch Danningers arrogantes Auftreten beleidigt fühlte. Doch der ignorierte den Ban der Apuseni-Bewegung, sprang auf und versuchte Viktor vor die Tür zu setzen. Der sah nun endlich eine Möglichkeit, seinen angestauten Zorn loszuwerden und schlug seinerseits zu. „Danninger!“, brüllte Jan. „Aufhören! Ich erklär es dir später. Verschwinde einfach.“ Viktor schnaubte wütend, ließ aber von Goral ab, dem er eben den Arm auf den Rücken drehen wollte. Der Zigeuner-Anführer brachte ihn bis vor die Tür und bevor er schloss sagte er noch: „Wenn du nicht hören kannst, du verdammter Das, dann bleibst du draußen.“ Anschließend ging er an seinen Platz und berichtete weiter von den Geschehnissen als wäre er nicht unterbrochen worden. Goral traute keinem Nicht-Roma, doch mit Jan hatte er ein Abkommen getroffen und der Preuße hatte ihn bislang nie enttäuscht. Aber er blieb dennoch vorsichtig und fand es gut, dass er diesen anderen Gadscho vor die Tür gesetzt hatte.
„Schade, dass du meinen Gast nicht magst, der wird unser neuer Verbindungsmann nach Viyanna und Ankora, nur weiß er es noch nicht“, sagte Jan schließlich als der andere seinen Bericht beendet hatte. Zusammen verließen sie das Büro, um die Unterbringung und Versorgung der Zigeunerfamilien, der gotra, zu kontrollieren, die auch hier nach ihren strengen Regeln kampierten.

‚Zigeuner und ihr verdammter Stolz, daran sollte man sie allesamt aufknüpfen und diesen Goral an den höchsten Baum’, dachte Viktor ärgerlich, dem erneut ein Ventil für seinen Frust genommen worden war. Wieder einmal war ihm vor Augen geführt worden, dass er hier nur ein Gefangener war und das frustrierte ihn noch mehr, so beschloss er einfach, zu warten und ein wenig zu lauschen. Viel hörte er nicht, eigentlich nichts und das besserte seine Laune auch nicht unbedingt.

Als die beiden herauskamen, stand er noch immer am Gang und überdachte seine Situation. Nun drangen auch von draußen Stimmen herein, irgendjemand schimpfte lauthals.
Die Zigeuner machten naturgemäß ihrer Stellung Schwierigkeiten, weil sie sich nicht von Tulla behandeln lassen wollten. Zornfunkelnd kam sie ins Haus gelaufen und brüllte: „Wenn du mir diese verdammten Luschen zur Behandlung bringst, dann sollen sie sich gefälligst auch behandeln lassen oder von mir aus verrecken!“ Sie schleuderte noch einen Fluch in Gorals Richtung und verschwand dann im hinteren Bereich des Hauses. Der Zigeuner lachte lauthals und meinte anerkennend: „Die hat Pfeffer im Arsch, Podorski. Ich werde meinen Männern raten, sich behandeln zu lassen.“
„Was hat die so aufgeregt?“, fragte Viktor gedankenlos, er erwartete auch keine Antwort und war erstaunt, als sie kam. „Du bist wirklich ein haxo, ein Idiot! Denkst du, meine Männer würden sich von einer Unreinen versorgen lassen, wenn ich es nicht anordne?“ Das brachte Viktor zum Lachen und schließlich sagte er sehr ernst geworden: „Deine Einstellung ist auch nicht so verschiedenen von denen der Friedgläubigen, zu denen auch ich gehöre. Du bist der Das hier, und zwar der Sklave deiner eigenen Zwänge.“ Damit drehte er sich um und ging in sein Gefängnis. „Schließ hinter mir ab, Herr Podorski, sonst mach ich hier noch die Fliege.“ Er schüttelte über die Dummheit der Leute den Kopf. „Ach ja, hast du was zu lesen? Es ist etwas langweilig hier und Hosni darf ich ja nicht mehr schikanieren.“ Er schaffte es auch jetzt noch, seine außergewöhnliche Stellung zu betonen.
*****ine Mann
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Danke für die Blumen... *zwinker* Und es ist mir ein Privileg, dir hin und wieder eine Anregung geben zu können.

Mich beeindruckt die Leichtfüßigkeit und Sicherheit, mit denen die einzelnen Szenarien so glaubhaft ausbreitest, und der sachkundige Umgang mit den verschiedenen Kulturkreisen und ihrem Umgang miteinander. Figuren, Situationen und Dialoge sind glaubhaft, ohne hölzern zu wirken.
Meine ausdrückliche Anerkennung! *zugabe*
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Dann muss ich mich ja nicht nur bei Dir, liebe Herta, sondern auch bei Bedouine bedanken, dass es hier immer weitergegangen ist?

Nun denn: zwei Mal herzlichen Dank!

(Der Antaghar)
*****ine Mann
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Iiiiiiiiiich? Ich mach' doch gar nix. Ich will doch nur spielen... *floet*
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****ra Frau
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Na dann ... lass uns spielen *floet*
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****ra Frau
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Nicht gespielt ... weiter geht's
Mehrere Tage lang war er eingeschlossen und bekam weder Jan noch sonst jemanden zu Gesicht. Ein Witzbold hatte ihm Das Buch des Friedens zum Lesen gebracht und einige Fatwa-Texte dazu. Das löste in Viktor einen derartigen Heiterkeitsausbruch aus, dass er in der Folge die Einrichtung in ihre Einzelteile zerlegte. Erst als er keinen Schlafplatz mehr hatte, war er zufrieden und las das Buch der Bücher, die Weissagungen eines Mannes, der vor fast 1500 Jahren in etwa gelebt haben sollte. Schon einmal hatte er die Verse lesen müssen und nur stumm den Kopf darüber geschüttelt, jetzt fand er sie noch schlimmer und er fragte sich, warum er jemals konvertiert war. „So ein hanebüchener Schwachsinn. Aber hier muss man ja genauso aufpassen, wie draußen. Dass Podorski nicht merkt, was hier so gespielt wird. Sogar mir fällt schon auf, wie sich die Friedgläubigen verändert haben. Was geht hier vor, Jan?“ Er stellte die Frage, obschon er darauf keine Antwort bekommen konnte.

Jedoch heilten die Blasen an seinen Füßen dank Tullas Behandlung sehr schnell. Vier Tage war er schon eingeschlossen, da kam sie in Begleitung seines persönlichen Bewachers, was er als große Ehre empfand und begutachtete den Heilungsverlauf. Viktor wünschte sich allerdings Tulla öfter zu sehen, die er doch recht attraktiv und interessant fand. Leider passte Ibrahim auf wie ein Habicht und spitzte die Ohren wie ein Luchs, damit ihm nur ja nichts entging, was geredet wurde.
„Du brauchst mich nicht mehr, Danninger“, sagte sie schließlich, packte ihre Sachen zusammen und wollte schon wieder gehen, da hielt er sie zurück. „Ähm“, er kam sich linkisch vor, denn mit Frauen, zumindest mit unverschleierten, hatte er bislang wenig zu tun gehabt. Biri ausgenommen, kannte er keine Frau, die so selbstverständlich ihre Weiblichkeit zur Schau stellte. Er erkannte, dass auch bei ihm die jahrlange Indoktrination ihre Wirkung zeigte, denn insgeheim musste er sich eingestehen, dass er es nicht wirklich guthieß. Dann schalt er sich selbst einen Dummkopf, weil er so dachte. Sie schien ganz gut zu Recht zu kommen, auch ohne Kopftuch oder Schleier, außerdem war sie sehr kompetent. In Kiew und Bukarest hatte sie studiert, wie sie ihm einmal so nebenbei erzählt hatte, das war es aber schon gewesen an Privatem. Einzig, dass sie großes Glück gehabt hätte, erwähnte sie noch. Das glaubte er gerne, denn es wurde nur eine geringe Quotenanzahl an Frauen zu den Unis zugelassen aber auch die Zugangsbeschränkungen für Männer waren nicht ohne.
Doch jetzt versuchte er ein unverbindliches, freundliches Lächeln, das ihm irgendwie schief geriet und wartete auf ihre Reaktion. „Ja? Brauchst du noch etwas?“ Ihre Stimme klang wie immer gleichmütig und Viktor sank der Mut, doch dann raffte er sich auf. „Sag mal, gibt es hier ab und zu so etwas wie eine Party?“ Er fragte sich, warum er das gesagt hatte, es war eine dämliche Frage von einem Gefangenen. Verblüfft starrte sie ihn an, dann nickte sie. „Gut. Ich möchte dich nämlich einladen, mich auf die Nächste zu begleiten“, jetzt musste er dem eingeschlagenen Weg folgen, um nicht seine Glaubwürdigkeit zu verlieren. Sie lachte über dieses Angebot. „Danninger, ich gehe auf keine Feste dieser eingebildeten cigany und unser Dorffest findet erst in einigen Wochen statt, wenn es warm genug ist, draußen zu feiern. Und du bist eingesperrt. Außerdem wird mich wahrscheinlich Hosni begleiten.“ Viktor wurde hellhörig aber er wagte nicht, sie danach zu fragen, schließlich ging es ihn nichts an. „Das heißt nichts, ich möchte zu den Zigeunern und ich denke es mir eine verdammt gute Idee, wenn wir zusammen hingehen“, sagte er stur und grinste Ibrahim an, der an der Tür stand und aufpasste. Viktor sah ihm an, wie er sich geistig Notizen machte und alles zu behalten versuchte, was er von sich gab.
„Wir werden sehen, Danninger.“ Damit stand sie auf und ging hinaus. „Brauchst du etwas?“, fragte sie an der Tür, wandte sich aber nicht mehr um.
„Sag Ibrahim, er soll mir Kaffee bringen und frisches Wasser, außerdem hat er gestern vergessen …“
„Er hat es gehört, ich komme vielleicht später noch einmal und wir trinken zusammen Kaffee“, unterbrach sie ihn ernst. Auf so etwas hatte er gehofft. „Kekse!“, rief er ihr rasch nach. „Bring Kekse mit!“ Er hörte noch ihr raues Lachen, dann wurde er abermals eingeschlossen. Seit er unmissverständlich klargemacht hatte, dass er ohne genaue Erklärungen nicht freiwillig mitarbeiten würde, war Jan Podorski weniger zuvorkommend und Ibrahim hatte strikte Anweisung, ihm nur das Allernotwendigste zu bringen, wozu für Viktor unumstößlich Kaffee gehörte. Doch seit die Roma hier waren, wurde ihm jegliche Freiheit verwehrt, er hatte auch fast selbst darum gebeten, wie er sich eingestehen musste.

Halb fürchtete er, Tulla würde nicht erscheinen, doch dann, es dunkelte bereits, ging die Tür auf und sie kam mit einem Tablett herein. Ibrahim und Hosni folgten ihr und blieben neben der Tür stehen.
„Aufpasser“, sagte sie knapp, stellte das Tablett ab und setzte sich dann an den Tisch. Dabei schien sie die beiden Männer bewusst zu ignorieren, denn sie senkte die Stimme keineswegs.
„Das macht aber keinen Spaß“, antwortete Viktor, als er sich zu ihr setzte. Er versuchte das Benehmen von Hosni mit einem Schulterzucken abzutun, hatte er doch versprochen, den Mann nicht mehr zu ärgern. Doch alles kannte seine Grenzen.
„Es soll auch keinen machen. Hosni meint meine Ehre beschützen zu müssen, wenn ich in meiner Freizeit zu dir komme. Anscheinend erhebt er irgendeinen Anspruch, was weiß denn ich“, erklärte sie.
„Red lauter, du Schlampe“, forderte der Stellvertreter des Ban eisig. Endlich sah er sich in der Position, seine Macht in der Gemeinschaft zu demonstrieren, denn seit zwei Tagen war Jan mit Goral unterwegs. Sie wollten sich mit einem anderen Widerstandsführer treffen und über einen gemeinsamen Schlag gegen die religiöse Führung in Pest oder auch in Bukarest zu beraten. Doch davon wusste Viktor nichts.
So stand er jetzt auf, ging zu Hosni und gab ihm eine Ohrfeige. „So redet man nicht mit einer Frau“, belehrte er ihn. Da ging Hosni buchstäblich in die Luft. Der wollte nun ebenfalls seine angestaute Wut loswerden und nutzte die Situation redlich aus. Tulla sprang von ihrem Sitz, wobei sie den Kaffee verschüttete und brüllte: „Seid ihr jetzt komplett durchgeknallt? Hört ja auf, hier die Machos rauszukehren! Alle beide!“ Erwartungsgemäß scherten sich die Männer nicht um ihr Gebrüll und sie versuchte ihnen zumindest auszuweichen. Vor die Tür schaffte sie es nicht, denn davor rangen sie. Ibrahim mischte sich nun ebenfalls ein. Er bekam Viktors Arm zu fassen und versuchte ihn auf dessen Rücken zu drehen. Viktor drehte sich im Schwung wie ein Tänzer mit, sodass er den Arm erneut in normaler Position hatte, dann holte er aus und verpasste seinem Gegner eine Kopfnuss, genau auf das Nasebein traf er ihn und für einen Moment sah er selbst Sterne tanzen. Dann hörte er seinen Gegner brüllen und er wusste, der war einige Zeit außer Gefecht.
„Hört auf!“, rief Tulla erneut, da landete Hosni seinerseits einen Treffer an Viktors Schläfe und schickte ihn damit zu Boden. Noch bevor sich dieser aufrichten konnte, stellte er seinen Fuß auf dessen Hals und drückte zu. Viktor packte ihn am Sprunggelenk und versuchte sich zu befreien, doch Hosni hatte, wie es schien, Beine aus Stahl. „Du verdammte Schlampe, wenn das dein Vater, die Umma oder gar der Imam …, du kennst die Fatwa …“, brüllte Hosni. Seine Augen funkelten vor rechtschaffenem Zorn, auch die Fäuste zeugten von einer kaum unterdrückten Wut. Nun verheimlichte er seine Abscheu vor Tulla und allen Ungläubigen nicht mehr.
„Ich habe keinen Vater, du Hammelfresser! Raus mit dir und nimm deinen Freund mit! Auf euch beide bin ich echt nicht scharf!“
„Ah ja, aber auf den kleinen weißen Pisser da schon, der sich als Rechtgläubiger ausgibt aber voller Heuchelei ist. Durch und durch verlogen, das kleine Aas.“ Tulla trat nun vor Hosni, stemmte die Hände in die Hüften und starrte ihn zornig an. „Raus hier, du hinterlistige Ratte. Wer hat meinen Erzeuger gekauft, damit er in diese Gemeinschaft hier aufgenommen wird?“ Ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen, während sie weiterredete „Ich lebe zölibatär, wie ist es mit dir? Und wenn du nicht sofort von hier verschwindest und deinen Schoßhund mitnimmst, werde ich den Ban aufklären. Außerdem kann ich jetzt gleich einige deiner kleinen medizinischen Geheimnisse … He, da sind doch sicher einige Leute vor der Tür! Hallo, wollt ihr …?“, drohte sie. Da nahm er den Fuß von Viktors Kehle. „Halts Maul, Tulla!“ Um Atem ringend lag Viktor am Boden und rieb sich die malträtierte Stelle, während Hosni Gift und Galle verspritzte. „Das ist noch nicht vorbei, du elende Hure. Bald bin ich hier der Chef und dann kommst du an den Platz der dir zusteht.“
„Für dich noch immer Doktor Petrescu und nun verpiss dich endlich, du Schwachkopf!“ Noch während sie sprach, holte Ibrahim zum Schlag aus und traf sie mitten auf die Brust. Der Schlag presste ihr die Luft aus den Lungen und sie ging in die Knie. Diesen Moment suchte sich einer der Roma und trat dazwischen. „Hey Gadscho! Langsam reicht es aber“, rief er gut gelaunt, packte Ibrahim am Kragen und zerrte ihn vor die Tür. „Du verdammter Dhimmi“, zischte Hosni, als er sich einer wachsenden Schar Ungläubiger gegenübersah und den Rückzug antreten musste. „Das wirst du büßen.“
„Kann sein, und jetzt, haxo, mach einen gepflegten Abgang, bevor ich dir den Weg zeige und dich mit deiner Ehre ungespitzt in den Boden ramme.“ Wie beiläufig befingerte der Zigeuner ein Messer, das er in der Hand hielt und erst jetzt zu bemerken schien. Da endlich drehte sich Hosni um und ging, gefolgt von Ibrahim. Viktor, der sie beobachtete, hatte kein gutes Gefühl für die weitere Zukunft dieses Lagers. Das sah nach sehr viel Zwietracht in der Widerstandsbewegung aus, so würden sie auf keinen Fall in irgendeiner Weise erfolgreich sein. ‚Das kann nur in die Hosen gehen. Wo ist Podorski?’, dachte er, dann fragte er laut nach dem Ban. „Nicht da“, antwortete der Zigeuner knapp. Nun endlich wischte sich Viktor das Blut aus dem Gesicht, es war nicht wirklich viel passiert, die Unterlippe war aufgeplatzt, aber der Kopf dröhnte ihm trotzdem. „Danke, cigany“, sagte er im Aufstehen und streckte ihm die Hand zum Dank entgegen. Wie zu erwarten, wurde sie ignoriert, es war schon genug, dass er dem Gadscho geholfen hatte. „Du hast was gut bei mir“, sagte er und wischte sich verlegen die Hand an der Hose ab.
„Da hast du Recht. Dein Arsch gehört jetzt mir.“
„Verdammt und ich dachte immer, ihr …“ Mit gespielter Entrüstung griff er sich ans Gesäß.
„Blöder Hund. Du schuldest mir was“, unterbrach ihn der Zigeuner lachend. „Du hast anscheinend doch etwas Humor und ich dachte immer ihr Xoraxaj kennt keinen Spaß.“
Viktor schaffte es, zu grinsen, schwieg aber. Statt einer Antwort ging er zu Tulla und half ihr hoch. „Bist du verletzt?“
„Nicht der Rede wert“, antwortete sie. Die Stelle am Brustbein, war so heftig getroffen worden, dass ihr Herz einen Moment zu schlagen aufgehört hatte, deshalb atmete sie langsam und versuchte, nichts von ihrer Panik merken zu lassen. Viktor beobachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen, er wusste nur zu gut, dass es für sie beide ohne die cigany schlimm ausgehen hätte können. Das konnte es noch, wenn Jan nicht bald auftauchte. Innerlich fluchte er über die Tatsache, dass der Ban durch Abwesenheit glänzte, während hier die Hackordnung in Auflösung begriffen war. Tulla richtete sich voll auf, strich sich durchs Haar und schaute bewusst am Roma vorbei. „Was kann ich für dich tun, Goral?“, fragte sie schließlich und ihre Stimme klang noch rauer als sonst. Viktor war verwirrt, weil sie auch den Mann Goral nannte, dann fiel ihm ein, dass sich die Roma von Gadschos nur mit dem Sippennamen anreden ließen. Den Spitznamen gaben sie nie leichtfertig preis und schon gar keinem Nicht-Zigeuner, vorher würden sie noch einen Gadscho-Namen annehmen. „Im Lazarett“, meinte er wieder einsilbig geworden und ging ohne weitere Erklärung aus dem Haus.
„Na toll“, bemerkte Viktor. Schon wollte er Tulla folgen, die eilig davonging, da schloss sich die Tür vor seiner Nase und er wurde eingeschlossen. „He!“, rief er, doch sie antwortete lediglich: „Zu deiner eigenen Sicherheit, Danninger.“
„Na toll!“, diesmal war er viel lauter. „So viel zum Kaffeetrinken und kennenlernen.“ Missmutig stapfte er zum Bett und ließ sich darauf fallen. Die Situation in diesem Widerstandscamp kam ihm immer sonderbarer vor, sie schien ihm wie ein Bienenschwarm ohne Königin, kopflos, führerlos. Inständig hoffte er, dass Podorski bald wieder auftauchen würde.

Um sich von seiner eigenen Situation abzulenken, dachte er über Tulla und ihre Beziehung zu Hosni nach. Seiner Meinung nach musste etwas Wichtiges vorgefallen sein, was die beiden so negativ aufeinander reagieren ließ. Tulla schien regelrecht vom Zorn auf den Mann und ebenso auf die Umma, die Glaubensgemeinschaft aller Friedgläubigen, zerfressen zu sein. Dann hatte er den Eindruck, sie konnte sich selbst nicht leiden, so nachlässig wie sie sich selbst gegenüber war. Gesicht und Hände waren aber immer von peinlicher Sauberkeit, das war ihm bereits bei der ersten Behandlung aufgefallen. Auf Hygiene legte sie allem Anschein nach den größten Wert, was für sie als Arzt sprach. Es war auch das erste Mal gewesen, dass sie auf ihren Titel verwiesen hatte. ‚Was ist das hier nur für ein Laden? Alles ist viel zu verschwommen, zu viele Kulturen auf einen Haufen. Eine muss verschwinden, mindestens, sonst können die den Laden dicht machen.’ Abermals dachte er an Tulla und wie sie sich zu ihm gestellt hatte. Er musste zugeben, dass er ihren Mut bewunderte. Darüber grinste er. ‚Ich würde dich gerne kennenlernen’, dachte er. Dann verbot er sich diese Gedanken, denn sie brachten nichts, nur die Zeit verging und die Nacht brach herein. Durch das schmale Fenster erkannte er den Mond und er schauderte wegen der Kälte, welche die Nacht ausströmte.
Seit mindestens einer Stunde wanderte er in dem kleinen Zimmer herum und versuchte sich darüber klar zu werden, was er eigentlich wollte. Noch nie war er sich innerlich so leer vorgekommen, so ohne jeden Halt. ‚Habe ich schon einmal an etwas geglaubt?’, fragte er sich, während der Mond weiter zog und er fröstelnd am Fenster stand. An der Scheibe drückte er sich die Nase platt, um etwas anderes als diese Kälte im Inneren zu fühlen. ‚Ich wollte nie wie Karol werden, dieser bornierte Historiker, dem die Wahrheit über alles geht, nur die vor der eigenen Nase, die kann er nicht sehen, dieser Idiot.’ So kreisten dann seine Gedanken um die Familie und leise hörte er das Singen der Kesselflicker, die an ihrem Lager den Sieg über die Xoraxaj und die Großzügigkeit der Rajputs feierten, die im Andenken ihrer Vorfahren gegen die Friedgläubigen kämpften. Er wusste nicht mehr, wie viele Feiern es für dieses Ereignis schon gegeben hatte. Aber er nahm an, dass sie einfach einen Grund erfanden, um fröhlich zu sein.
„Aus dem geehrten Gast, ist heute ein nicht geehrter Gefangener geworden“, sagte er seinem Spiegelbild im Fenster.
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Da fiel ihm siedendheiß seine Markierung ein und er traf eine Entscheidung.

Viyanna 223 n. U.

Die Razzia des nächsten Hauses stand an. Müde standen die Polizisten herum und warteten auf den Befehl, ins Innere vorzudringen. Keiner hatte mehr große Lust, diese dunklen, engen Häuser zu durchsuchen. Es fand sich nie etwas, manchmal nahmen sie einen kleinen Dieb fest, dem am nächsten Tag die Hand abgeschlagen wurde, das war es dann aber auch schon. Was diese Polizisten weitermachen ließ, war die Präsenz der Männer in hellbrauner Uniform mit den Halbmondarmbinden, die waren das tatsächlich durchführende Organ des Glaubensgesetzes.
„Jetzt wachsen mir dann die Füße am Boden fest, wenn nicht bald was weitergeht“, flüsterte einer der Männer. Heiseres, unterdrücktes Lachen antwortete ihm. Dann war es wieder still und endlich kam der Befehl.
Das Haus war umstellt und die ersten Männer liefen bereits in den Keller hinab, um einen etwaigen Fluchtweg abzuschneiden. Aus den Fenstern konnte ohnehin niemand fliehen, denn sie waren allesamt vergittert. Die Architekten der Friedensregierungen planten weitblickend. Aber nicht weit genug.

Ulf erhob sich leise und tastete sich an der Wand entlang. Flink entleerte er einen Wandschrank, streute die Dinge wahllos herum und öffnete anschließend eine Klappe an der Rückwand. Fritz wollte schon aufatmen und dort hindurch kriechen, da hielt ihn Ulf zurück und grinste verschwörerisch. „Später“, sagte er nur, spähte durch den Türspalt und schlich dann zu einem Stapel Kisten neben dem Schrank. Es würde verdammt knapp werden, aber die Spur war gelegt. Rasch schob er eine Kiste zur Seite und drückte dann eine weitere Klappe auf. „Schnell und pass auf, Stolperdraht“, flüsterte er, dann schob er Fritz durch den schmalen Eingang des Fluchttunnels und sich dann nach. Gerade noch schaffte er es, den Schließmechanismus zu betätigen, da hörte er schon Fußgetrappel. Die Kellerabteile wurden bereits durchsucht. Sein Lächeln wurde grimmig als er über den Draht stieg. Er hatte in jedem großen Versteck zwei Ausgänge und alle waren mit Sprengfallen versehen. „Und jetzt lass mich vor, Fritz, ich muss die Schritte zählen bis zur nächsten Falle.“ Er zwängte sich an seinem Freund vorbei und gebückt gingen sie weiter. Bei fünfzig Schritt bückte er sich, befühlte den Boden und da war der Draht. Er gab die Warnung weiter und stieg selbst vorsichtig darüber, dann waren sie beinahe im alten U-Bahntunnel. Es war einer der schnellsten Wege, um ungesehen aus der Stadt zu kommen und fast keiner wusste mehr, dass es diese Linie einmal gegeben hatte. Ulf hatte sie in den alten Kreuzerunterlagen gefunden und einige der verlorenen Verstecke wiederentdeckt und ausgebaut. Dazu gehörten der nun nicht mehr nützliche Flakturm und das Lager im Schloss Laudon, das er nun aufzusuchen gedachte. Aber der Weg dorthin war noch weit und sie mussten einen Teil der Strecke an der Erdoberfläche zurücklegen.
Doch bevor sie weitergingen, fühlten sie die Erschütterung einer Detonation. „Was war das?“, fragte Fritz erschrocken. „Unsere Reiseversicherung. Beeilung“, meinte Ulf und hastete weiter. Der andere Tunneleingang war durch die erste Detonation zerstört worden. Er hatte dazu eine Rohrbombe gebastelt, das war einfach zu machen und jeder Idiot konnte Kunstdünger beschaffen. Mit Diesel sah es zwar schon etwas schlechter aus, aber der Kauf war noch nicht verboten.
Zehn Schritte noch, wenn er den Plan richtig im Kopf hatte, dann waren sie in Sicherheit vor der Glaubenspolizei, zumindest solange sie nicht wieder an die Oberfläche kamen. Jetzt hieß es rasch und vorsichtig weiterlaufen. Jede Minute konnten ihre Verfolger in den zweiten Draht rennen, dann würde unweigerlich eine weitere Ladung hochgehen, seine spezielle Überraschung, seine „Fahr-zur-Hölle-Ladung“, und die war stark genug, den gesamten Tunnel, zum Einsturz zu bringen, und er wollte ganz bestimmt nicht mehr drin sein, wenn das geschah.

Mit Ingrimm dachte er wieder einmal an die Katakomben unter Sankt Stephan, die auf eine ähnliche Weise vernichtet worden waren - mitsamt den Menschen, die sich darin befunden hatten. Zwar waren die Waffen der Polizei etwas ausgefeilter und moderner, doch das Prinzip war das gleiche, und Ulf hatte viel Zeit und Aufwand auf sein Wissen um Sprengstoffe verwendet.

Sie liefen was das Zeug hielt, stolperten durch einen Mauerdurchbruch in einen anderen, wesentlich größeren Tunnel, und dann spürte Ulf den plötzlich ansteigenden Druck auf den Ohren, und er warf sich Fritz in den Rücken, riss ihn von den Beinen – „Kopf schützen! Druckwelle!“ - und dann zitterte der Boden, brandete ohrenbetäubender Donner körperlich spürbar über sie hinweg, eine Hitzewelle versengte ihm die Nackenhaare, und Ziegelstaub und Mörtelbrocken rieselten auf sie beide hernieder.
Lange Sekunden blieben beide Männer ächzend und nach Luft ringend liegen. Ulf war der erste, der sich wieder aufrappelte.
Fritz war sichtlich angeschlagen, er schüttelte den Kopf und schien gegen Schwindelgefühl anzukämpfen, als er sich aufsetzte
„Was... was hast du gemacht?“, keuchte er, und Ulf lachte während er ihm auf die Füße half. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinab und die Ohren schmerzten nach der massiven, schlagartigen Druckveränderung. „Mein persönliches Abschiedsgeschenk an die Bückbeter. Kleines Eigenlaborat, vierzig Kilogramm Kunstdünger und Diesel, dazu geliertes Benzin und zehn Flaschen Speiseöl als Brandladung. Ich habe dort hinten alles in die Luft gejagt, diese Idioten sind doch blind in die Falle gelaufen. Aber wir hatten auch verdammtes Glück, dass es uns nicht erwischt hat. Los, auf die Füße mit dir, wir müssen weiter!“
„Wo gehen wir hin?“
„Später gehen wir wohin. Jetzt gehen wir erst einmal nach unten.“ Er zerrte Fritz auf die Füße, sie liefen noch ein kleines Stück weiter und dann stießen sie, für Fritz unerwartet, auf eine Treppe, die einen Schacht hinab weiter in die Tiefe führte. Die Stufen waren gefährlich, denn viele waren an den Kanten abgebrochen oder zerbröckelten, wenn man darauf trat. Dennoch hastete er weiter hinter Ulf her. Immer noch hatte er das Gefühl, von Dämonen gehetzt zu werden, und sein Kopf meldete sich mit einem unangenehmen, pochenden Druckschmerz, der ihn auf eine Gehirnerschütterung hinwies.
Zwei Treppenabsätze stiegen sie insgesamt hinab, dann kamen sie in eine langgestreckte Halle mit einer gewölbten Decke, in deren Weite sich der Strahl der Taschenlampe im staubverhangenen Dunkel verlor.
„Wo sind wir hier? Was ist das für ein Ort?“ Fritz lief es in einem fort kalt den Rücken herunter.
„Das ist der ehemalige Bahnsteig der Haltestelle Schwarzenbergplatz, Untergrundbahn.“ Ulf schien sich an den Wänden zu orientieren, an denen noch die weiße Kunststoffverkleidung zu erkennen war. „Jetzt ist es nicht mehr weit, dann ruhen wir uns ein wenig aus, packen was wir brauchen und dann hauen wir aus der Stadt vorerst ab.“
„Dann erklärst du mir, was das alles soll und woher du die Verstecke kennst.“
„Ruhe, hier ist es so schon unheimlich genug“, flüsterte Ulf. Er mochte diesen Teil des alten Tunnelsystems nicht, den „Friedhof“, wie er ihn bei sich nannte.
„Wir müssen uns beeilen“, kaum gesagt, rannte er weiter, umrundete einen verfallenen Zeitungsstand und dann durchschritt er die Tür zur ehemaligen Wachstube der örtlichen Polizeibehörde. Hier war seine Notfallausrüstung untergebracht. Aber es war keine Dauerunterkunft, dazu war es hier unten zu unsicher und die Luft war nach hundert Jahren stickig, verpestet und mit allerlei Chemikalien durchsetzt.
Selbst jetzt bildete er sich ein, dass ihn die Augen brannten und er nicht richtig Luft bekam. Als auch Fritz den Raum betreten hatte, schloss er die Tür sorgfältig ab. Fritz war weiß wie die Wand. Der Schrecken der letzten Tage war fast zu viel für ihn. So setzte er sich jetzt erst einmal auf den Boden und schaute Ulf zu, der eifrig Wandvertäfelungen abschraubte und verschiedene Dinge aus den so entstandenen Nischen herausnahm. Endlich war er fertig und er legte alles vor Fritz auf den Boden.
„So Alter Fritz, hier ist frische Kleidung, nicht markiert, wohlgemerkt. Atemschutzmasken, sehr wichtig. Leg sie sofort an. Die Luft hier unten ist stellenweise verpestet, überall haben sich Taschen von Höhlengas gebildet, und wenn man da ohne Maske rein läuft, dann kann es unter Umständen zu spät sein. Das hier ist Trockennahung, schmeckt wie ein Schlag ans Kinn, aber wir werden es überleben. Wasser ist in diesen beiden Behältern. Wir müssen sparsam damit umgehen, denn hier unten ist nichts mehr. Wir bekommen erst wieder etwas, wenn wir an die Oberfläche zurückkehren. Hier, zieh das an.“ Die Kleidung, die er Fritz zuwarf, war der orangefarbene Einteiler eines Müllwerkers, komplett mit der entsprechenden Geruchsnote, wenn auch schon stark abgeschwächt.
„Das soll ich anziehen? Du spinnst ja! Das …“
„Ist eine weitere Reiseversicherung und jetzt zieh es an, wenn du weiter mitkommen willst, aber schnell, sonst gehe ich ohne dich. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Ulf war bereits dabei, seinerseits einen identischen Overall überzustreifen. Er starrte so lange auf seinen Freund bis sich dieser erhob und die Kleidung wechselte. „Du wolltest eine andere Identität, nun hast du sie. Wenn es dir nicht passt ist es dein Pech.“
„Nein, schon in Ordnung. Damit hält uns die Polizei sicher nicht auf, du hast schon recht, Ulf. Wir werden einfach Unberührbare.“ Er lachte über den Witz, aber es war nicht angenehm, sich vorzustellen, einfach gemieden zu werden, nur weil man diese orangefarbenen Overalls trug.
Nachdem sie endlich umgezogen waren, stopfte Ulf die andere Kleidung in die Wandnischen, schloss sie wieder sorgfältig ab, bevor er dann die Rationen in die Umhängetaschen füllte. Lieber wären ihm Rucksäcke gewesen, weil sich mehr transportieren ließ und sie einfacher zu tragen waren, aber er musste der Verkleidung Rechnung tragen. In die Seitentasche der Hose ließ er eine P 80 gleiten, nachdem er sich überzeugt hatte, dass sie geladen war. Er mochte zwar keine Handfeuerwaffen, aber diese hier kannte er, damit konnte er umgehen und sie vermittelte ein Gefühl der Sicherheit und hob beträchtlich das Selbstvertrauen. Vor Jahren schon hatte er sie aus den Uraltbeständen eines Militärlagers gerettet. Eigentlich hatte er sie gestohlen, aber das Wort kam ihm falsch vor. Die Pistole war auf jeden Fall vor den Händen der Friedgläubigen gerettet worden und somit eine ganze Reihe Andersgläubiger. Das war ihm Rechtfertigung genug. Fritz nannte das die Kreuzerlogik, der man sich nicht so schnell in den Weg stellen konnte.
Als alles fertig gepackt war, setzten sie die Masken auf und Ulf ging erneut voran.

Diesmal verzichtete Ulf nicht mehr auf das Licht, denn hier war die Strecke sehr gefährlich. Der Tunnel war eingestürzt und er wusste, dass weiter vorne eine ungute Stelle lauerte, die er besser im Schein der Taschenlampe umgehen wollte, bevor er auf etwas Unangenehmes trat. Auch hielt das Licht die gefährlichen großen Ratten ab, die immer wieder mal hier auftauchten, auch wenn sie nicht in diesem Abschnitt lebten. Es war ein versiegelter Bereich und schon lange in Vergessenheit geraten.

Er war im Zweifel mit sich, ob er Fritz den Grund für die Schließung dieses Tunnels sagen sollte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als sie auf das erste Skelett stießen, das quer über den Bahnsteig ausgestreckt lag. Es musste einmal ein Mann gewesen sein, Schuhe und Kleiderfetzen hafteten noch an den Knochen, und die Augenhöhlen starrten leer auf die Tunneldecke.
„Verdammte Scheiße“, murmelte Fritz, erschrocken. „Was... ?“
„Weiter“, befahl Ulf. „Nicht hinsehen. Ist nicht schön.“ Das hätte er besser nicht gesagt, denn nun blickte sich Fritz erst recht im Lichtkegel um. Was er sah, ließ ihn eine Gänsehaut aufsteigen. Er fühlte ein ziehen in den Pobacken, das sich nach oben und unten hin ausbreitete und ihm befehlen wollte, gefälligst die Beine in die Hand zu nehmen und zu rennen. Doch er zwang sich das Tempo beizubehalten, um keinen Fehltritt zu riskieren. Ulf ging es ähnlich und das, obwohl er schon mehrmals hier unten gewesen war, und die Ausrüstung erneuert oder ergänzt hatte. Am Grässlichsten wurde es, als vor ihnen aus dem Dunkel ein im Tunnel stehen gebliebener U-Bahnzug auftauchte und sie sich an den Wagen vorbeizwängen mussten. Der erste war durch Trümmer zerschmettert und vereinzelt konnte man skelettierte Gliedmaßen erkennen, die zwischen dem verbogenen Metall herausragten. Fritz keuchte, als er mit dem Fuß aus Versehen gegen einen Schädel stieß, so dass dieser laut klappernd in der Dunkelheit verschwand.
„Nicht mehr weit“, flüsterte Ulf beruhigend, auch er wollte hier so schnell es ging vorbei. Der nächste Wagen war intakt und übervoll mit Skeletten, denen man noch ansah, dass sie bekleidet gewesen waren. An einigen Schädeln waren sogar noch Haarbüschel zu erkennen, die wie festgeklebt wirkten. Fleischloses Grinsen in der Dunkelheit sobald ein Lichtschein darauf fiel. „Was war hier los?“, fragte Fritz.
„Später, erst weg hier.“ Damit war Fritz mehr als einverstanden und sie beschleunigten ihren Schritt, doch der Anblick der Skelette war furchterregend gewesen und nichts für schwache Gemüter. Fritz würgte in einem fort und versuchte sich abzulenken, doch immer wieder musste er daran denken, wie er den Kopf getreten hatte.
„Reiß dich zusammen, du kannst hier die Maske nicht abnehmen – ich will nichts riskieren.“
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Ein wenig weiter geht's noch.
Die Geräusche, welche die Atemschutzmasken erzeugten, waren unheimlich in dieser düsteren Stille, die sich wie ein Leichentuch um die Lebenden und die Toten legte. „Weiter, nicht stehen bleiben“, kommandierte Ulf und hastete vorwärts.
Als sie endlich im Schein der Taschenlampe den Geisterwagen passiert hatten, atmeten beide Männer erleichtert auf. Dann gingen sie rasch weiter. Sie mussten noch viele Kilometer laufen, denn dieser gesperrte Tunnel war einer der längsten der alten Linie. Ulf hoffte, dazwischen eine seiner gesicherten Abzweigungen in einen offenen Gang zu finden.
Mit Schaudern erinnerte er sich, wie jedes Mal, wenn er diese Route nahm, an das, was er alles über den Anschlag gelesen hatte, dessen friedhofsstumme Hinterlassenschaften sie gerade hinter sich ließen.
Er hatte Jahre darauf verwendet, den Teil der Geschichte zu erforschen, zu dem dieser Vorfall gehörte, mit all seinen Randerscheinungen, politischen, sozialen und globalen Vorbedingungen und Konsequenzen, Details der mutmaßlich beteiligten Gruppen, ihrer Hauptakteure, Strategien und Hintermänner. Er hatte zahllose Bücher gelesen, zumeist verbotene Bücher. In fieberhaftem Eifer hatte er Englisch und Arabisch regelrecht studiert, hatte alte Zeitungsartikel gehortet und akribisch archiviert, sie nach jedem noch so unbedeutenden Körnchen an Informationen durchsucht, unter hohem persönlichem Risiko sogar militärische Datenträger angekauft und war weite Strecken quer durch Europa gereist, um mit Fachleuten persönlich zu sprechen, stets getrieben von seinem unstillbaren Wissensdurst über jene chaotische Periode, jene wenigen schicksalsträchtigen Jahre des Feuers und des Blutes.

Ein Anschlag mit Giftgas war es gewesen, der die beiden hinter ihnen liegenden U-Bahnstationen und den Schacht dahinter verheert hatte, der Luftdruck des einfahrenden Zuges hatte die todbringenden Schwaden durch die Betonröhre wie durch den Kolben einer Luftpumpe gepresst und hunderte Menschen in ätzende Schwaden eingehüllt, die ihre Augen, Schleimhäute und Lungen zerfraßen … dutzende weitere Menschen waren bei der entstehenden Massenpanik zu Tode getrampelt worden.
Niemand hatte je die Verantwortung dafür übernommen, aber das hatte zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon längst keine Rolle mehr gespielt.
Der Anschlag war mitten in die Zeit der Großen Erhebung hineingefallen, und um Gruppen und Fraktionen war es da schon längst nicht mehr gegangen, nur noch um Töten oder Getötet werden. Politische Programme und Leitsätze waren bedeutungslos geworden, bestehende Allianzen und rechtsstaatliche Strukturen hatten sich im Feuer des Bürgerkrieges aufgelöst wie Salz in der Suppe. Staats- und Parteichefs hatten sich bei den bis aufs symbolische Blut geführten Verteilungskämpfen um die letzten Reste von Macht und Privilegien tagtäglich gegenseitig ans Messer geliefert.
Überall in Europa hatten sich die Massen erhoben, einzeln gegeneinander und gemeinsam gegen die Staaten, denen sie die Schuld an den herrschenden Zuständen gaben. Aus Schlägereien und Übergriffen von Jugendbanden waren gewalttätige Demonstrationen geworden, dann sehr bald Ausschreitungen randalierender Mobs, denen ganze Stadtviertel zum Opfer gefallen waren, dann hatte es die ersten Bombenattentate und Straßenschlachten gegeben. Paris, London, Frankfurt, Hamburg, Berlin, Wien, Linz, Madrid, Rom, die Liste war lang, und zu jener Zeit war sie täglich länger geworden.
Am Anfang hatten die Regierungen noch gehofft, durch den Einsatz von Polizei und Militär den mittlerweile ganz offen auftretenden islamistischen Milizen, welche die Kontrolle über ganze Städte für sich beanspruchten, Einhalt gebieten zu können. Dann war in Berlin-Kreuzberg eine Hundertschaft der Bereitschaftspolizei in einen geschickt vorbereiteten Hinterhalt gelockt und bis auf den letzten Mann niedergemacht worden. Die Bilder von brennenden Polizeifahrzeugen und jihadistischen Milizen, die kreischend und heulend, siegestrunken, die abgeschnittenen Köpfe von Polizisten und Polizistinnen in die Fernsehkameras hielten, waren binnen Stunden um die Welt gegangen, und ein Kontinent hatte unter Schock gestanden. Die politische Opposition hatte der Regierung und der "strukturellen polizeilichen Aggression" die Schuld an dem Blutbad gegeben, und von da an hatten die Sicherheitsorgane de facto kapituliert, jeder hatte jeden beschuldigt, und das wahre Töten hatte begonnen.
Bald darauf waren Brandanschläge auf Moscheen und Kirchen gleichermaßen an der Tagesordnung gewesen, Milizen und Einwohnerwehren hatten sich regelrechte Straßenkämpfe geliefert. Tag und Nacht waren die Schlachtrufe in den Straßen zu hören, die als Musik des Todes von den Wänden widerhallte. Und dann war das Giftgas gekommen, das Gas und die Autobomben und die Selbstmordattentäter, die Massenpanik und die Anarchie ….
Aus der Asche des Bürgerkrieges hatten sich diejenigen siegreich erhoben, die sich als die Skrupellosesten erwiesen hatten, diejenigen mit dem längeren Atem und den härteren Herzen, und sie hatten sehr bald gezeigt, was sie unter Minderheitenschutz gegenüber einer Bevölkerung verstanden, die nun in ihrem eigenen Land keine Mehrheit mehr sein durfte ….
Sie hatten wohl schon vorher die gesamte Infrastruktur unterwandert, Gelder und Waffen aus dem Ausland bezogen und wichtige Regierungspositionen besetzt, dazu noch Lobbyarbeit in Brüssel und in anderen wichtigen Hauptstädten geleistet.
Ulf zwang seine Gedanken wieder in die Gegenwart und hastete weiter, immer darauf bedacht, nicht in eine seiner eigenen Fallen zu laufen.
Stunde um Stunde gingen sie vorwärts und Fritz fürchtete schon, sie würden niemals irgendwo ankommen, da meinte er, ein Rauschen zu hören, dem ein unheimliches Pfeifen folgte. Kalte Finger schienen sich von seinen Pobacken aus, die Wirbelsäule nach oben zu tasten und er schauderte unwillkürlich. Aber Ulf atmete erleichtert auf, sie näherten sich dem letzten befahrenen Tunnel. Ulf suchte nach einem Durchgang. Er wusste, dass hier in der Nähe das Versteck mit der ehemals versiegelten Tür war, aber es jetzt in der Dunkelheit zu finden, war nicht ganz unproblematisch, denn er wurde den Verdacht nicht los, dass sie bereits daran vorbei gelaufen waren.
Abermals schreckte sie das Geräusch eines Zuges aus dem Nebentunnel während Ulf mit der linken Hand die Wand entlang tastete. Endlich fühlte er Metall und er beleuchtete die Mauer vollständig. Vorher war er nur darauf bedacht gewesen den Weg zu sehen, um ja über keine seiner Fallen zu stolpern.
„Vorsicht. Hier ist gleich wieder eine kleine Überraschung.“ Fritz nickte, obwohl ihn der andere nicht sehen konnte. Das Licht der Taschenlampe war jetzt weiter gewandert und beleuchtete nun den Griff einer verschrammten und beschmierten Metalltür. Verschiedene Zeichen waren darauf gemalt worden und Ulf lächelte erleichtert. Hier war er richtig, aber aufhalten durften sie sich nicht. Vorsichtig öffnete er und stieg dann über den Stolperdraht. Langsamer folgte Fritz, er fühlte noch immer den Schrecken der vergangenen Stunden in den Gliedern und die Knie zitterten ihm. „Wie lange werden wir jetzt hier bleiben?“, fragte er schließlich. „Und kann ich das Ding jetzt abnehmen? Ich bin durstig.“
„Warte noch. Wir bleiben nicht hier. Ich will raus so schnell es geht. Aber vorher muss ich noch sehen, ob die Luft rein ist – und zwar in jeder Hinsicht.“ Damit schritt er zu einer anderen Tür und spähte vorsichtig hinaus. Schon zog eine Triebwagengarnitur an ihm vorbei und der Sog hätte ihn beinahe mitgerissen. Warme Zugluft presste sich ins Innere und ließ Papierfetzen durch die Luft segeln. Ein Streifen traf Fritz im Gesicht und er schrie erschrocken auf. „Behalt deine Nerven, Fritz, hier ist nichts Schlimmes mehr, ehrlich“, versuchte ihn Ulf zu beruhigen. „Du kannst jetzt die Maske abnehmen aber pack sie ein. Die brauchen wir vielleicht noch.“
„Was, noch einmal dieses scheußliche Ding aufsetzen? Sag mal, wo läufst du mit mir hin, Ulf? Was ist das eigentlich alles? Ich dachte, ich komme von Islamstadt her und werde etwas mehr Ruhe finden und was ist? Es ist schlimmer als dort, Mann. Zumindest kommt es mir ärger vor.“
„Hör auf zu jammern. Es geht jetzt nicht anders. Wenn wir diese verdammten Bückbeter bekämpfen wollen, dann können wir das nur mit ihren eigenen Waffen machen. Der Anschlag kurz nach der Übernahme hier in der U-Bahn, du bist an den Leichen vorbeigegangen, war schon ein guter Weg. Aber es hätte gezielter weiterverfolgt werden sollen. Meine Vorfahren haben gute Arbeit geleistet, waren aber zu sehr in der Unterzahl und viel zu langsam. Nun werden wir wieder anfangen. Auf mit dir, in den nächsten zehn Minuten kommt kein Zug, dann müssen wir im Bahnhof sein.“ Damit stieg er in den Tunnel. „Immer muss man bei dir rennen. Verschwendest du auch einmal Gedanken an andere Menschen?“
„Immerzu, Fritz. Und nun, wenn dir dein Leben lieb ist, lauf was das Zeug hält, denn bis zum Bahnhof ist es noch ein schönes Stück.“ Damit verfiel er wieder in Laufschritt und schwer atmend folgte ihm Fritz. Ohne Maske war es leichter zu atmen, auch wenn die Luft hier muffig und verbraucht war. Sie liefen so schnell es ging und dennoch waren sie fast zu langsam, denn sie hörten den sich nähernden Zug und mussten nun ihr Tempo noch erhöhen. Selbst Fritz, der vorher schon dachte, er könne nicht mehr schneller laufen, strengte sich an und mit einer letzten Anstrengung sprangen sie nacheinander auf den rettenden Bahnsteig. Keine Sekunde zu früh, denn kaum standen sie oben, rauschte bereits die Triebwagengarnitur in die Station ein. Einige Leute schauten kurz auf, erkannten Müllarbeiter in ihnen und schauten wieder weg. Ulf hatte mit der Dhimmi-Verkleidung ganze Arbeit geleistet, sie waren praktisch unsichtbar in ihren orangefarbenen Anzügen.
Schwer atmend sank Fritz zu Boden, er lehnte sich an die mit weißem Kunststoff verkleidete Mauer und schloss die Augen. So ließ ihn Ulf einige Minuten sitzen, während er selbst die Gegend auskundschaftete. Sie hatten es gut gemacht und die Endhaltestelle war nicht mehr fern. Aber jetzt mussten sie an die Oberfläche. Ihre Tarnung würde sie vorerst schützen und so war auch das Versteck gut zu erreichen. Mit etwas Glück konnten sie sogar fahren.
Wie er jetzt so am Bahnsteig stand und mit scheinbarem Interesse einen religiösen Aushang studierte, beobachtete er die Menschen. Er fand es schockierend, keine einzige unverschleierte Frau war mehr zu sehen. Dann fiel ihm ein, wie diese Unsitte langsam Einzug gehalten hatte und er ballte die Hände zu Fäusten. Es hatte eine Zeit gegeben, da waren die Frauen freier gewesen, hatten die Kleidung getragen, die sie mochten und gingen aus mit wem und wann sie wollten. Doch an diese Geschichten erlaubte er sich nun nicht zu denken. Im Moment gab es Wichtigeres als die Vergangenheit.
Abermals betrachtete er verstohlen die Menschen. Männer mit Bärten standen in dominanten Posen auf den besten Plätzen, dahinter ihre Frauen und in den finstersten Winkeln die Dhimmis. In den Augen der Gläubigen war er ein Kafir, ein Ungläubiger, den es zu bekämpfen und zu vernichten galt. Er fand, es war alles eine Sache der Sichtweise, für ihn waren die anderen die Ungläubigen, die er zu beseitigen beabsichtigte. Sollte seine Tarnung auffliegen, dann war er des Todes, denn ein Kafir war vogelfrei, konnte jederzeit getötet werden.
Schnell senkte er den Blick, er durfte nicht auffallen, denn sämtliche Stationen wurden Video überwacht. Er war sich sicher, dass sie früher oder später entdeckt würden, wenn sie sich noch weiter hier herumtrieben. Aber Fritz brauchte die Atempause und er selbst überlegte noch, welche Richtung er nun einschlagen sollte. Es gab verschiedene Möglichkeiten und alle wollten bedacht werden.
Um nicht weiter aufzufallen, ging er einige Schritte auf den Aufgang zu, dabei sammelte er Müll ein, der am Boden lag. Im ersten Moment dachte er, er hätte sich getäuscht, doch beim zweiten Blick erkannte er eines der Geheimzeichen, die seine Bundesgenossen hinterließen, um sich gegenseitig unauffällige Mitteilungen zukommen zu lassen, sich vor der Gegenwart von Feinden zu warnen oder auf Verstecke und Unterschlupfe hinzuweisen. Für das uneingeweihte Auge waren es allenfalls lästige Kritzeleien, die im Trubel des Tagesgeschäfts leicht übersehen wurden. Für ihn jedoch enthielten sie eine Botschaft, die trotz ihrer stilisierten Darstellung nicht deutlicher sein könnte. Auf einem Werbeplakat für Handys war direkt vor ihm ein solches Zeichen angebracht. Jemand hatte eine Weidenrute gezeichnet und einen durchstrichenen Kreis, daneben ein Kreuz. Sein Mund verzog sich zu einem grimmigen Lächeln, als er die Botschaft entzifferte: Widerstandsgruppe, Unterschlupf, nur nachts aufsuchen, gängige Notfall-Passwörter verwenden. Länge und Richtung der Weidenrute enthielten verschlüsselte Richtungs- und Entfernungsangaben. Ulf rechnete im Kopf nach, verglich beides mit der Liste an ihm bekannten Unterschlupfen, und sein Lächeln wurde breiter. Es war gut zu wissen, dass sie im sicheren Haus war, das würde Vieles erleichtern.

Er wusste, was er zu tun hatte, was er von Anfang an hätte machen sollen. Aber er hatte sich von diesem alten Mann unter Sankt Stephan einlullen lassen. So ging er nun zurück und holte Fritz. „Komm, es geht weiter. Wir sind bald am Ziel. Dann kannst du dich ausruhen.“ Kameradschaftlich half er ihm auf die Füße und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.
„Wird auch gut sein. So jung wie du bin ich nicht mehr, dass ich das so witzig finden würde.“
„Nichts ist hier lustig. Es lacht keiner, Fritz. Wir haben Arbeit zu erledigen und zwar rasch. Benimm dich gefälligst wie ein gottverdammter Dhimmi und bück dich nach jedem Stück Müll, das du am Boden siehst.“
„Was?“
„Mach was ich sage“, mehr Erklärung gab er nicht, dann befolgte er seinen eigenen Ratschlag.
Scheinbar dienstbeflissen kontrollierte er die Mülleimer, sammelte den Dreck von der Straße und so kamen sie langsam aber stetig zur Bushaltestelle, deren historische Bausubstanz schon lange nicht mehr zu erkennen war.
Hier blieb er einfach im Schatten des Wartehäuschens stehen und tat so als wäre er nicht hier. Aber er beobachtete die Umgebung genau. Fritz machte ihm Sorgen, der sah so aus, als würde er jeden Moment durchdrehen, das hieß besonders aufpassen. Langsam tastete er nach der P80 in seiner Hosentasche. Der Griff der Pistole fühlte sich beruhigend an in seiner Hand.
Um diese Zeit war es in diesem Außenbezirk sehr ruhig, außer einigen Frauen in Burkas, die Kinderwägen schoben, sah er nicht viele Leute. Diese Verschleierungen kamen ihm verdächtig vor und er behielt eine Frau, die sehr lange vor einer Auslage stehen geblieben war, etwas genauer im Auge. Er wandte erst die Aufmerksamkeit von ihr als der Bus einfuhr und anhielt. Sofort drängte er Fritz zum Einsteigen und ging mit ihm den Gang entlang. Der Bus war fast leer und die wenigen Fahrgäste wichen zur Seite, denn niemand kam gerne mit Müllarbeitern in Berührung. Ulf ignorierte das und tat so, als würde er täglich hier arbeiten. Als der Bus losfuhr merkte er, wie sich Fritz endlich etwas entspannte.
Nach nur wenigen Minuten kamen sie in Neu-Üsküdar an und stiegen aus.
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