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Vermeintliche Absturzstelle in Magyarslam, 76 n. U.Mehrere verdutzte Gestalten saßen in der kleinen Maschine, die vor einer Stunde erst von Viyanna gestartet war und nun unerwartet kurz nach dem Großen Freudesee auf einer Wiese gelandet war. Ob es eine Notlandung oder ein planmäßiger Zwischenstopp war, wusste niemand. Die Passagiere, bis auf einen, waren das Fliegen gewöhnt und gerade diese ungewöhnlichen Landungen waren keine Seltenheit und wenig beunruhigend. So waren sie auch jetzt gelassen.
Die Ruhe änderte sich allerdings, als der Kabinenchef aufgeregt zum Cockpit vorlief. Dort hämmerte er mit den Fäusten heftig gegen die Tür, die sich nur für einen Moment öffnete. Kreidebleich drehte sich der Mann um und rannte den Gang entlang zurück zum Notausgang. Niemand konnte sehen, was weiter passierte, alle starrten sie zur Cockpittür. Sie hörten nur, wie sich der Ausstieg öffnete und hernach wieder schloss. Anschließend war es totenstill. Nur der Atem der Personen in der Kabine war zu hören. Plötzlich schien es einem der Männer zu reichen. Er wirkte wie jemand, der es gewohnt war, dass man ihm gehorchte. Er war klein, dick, beinahe kahlköpfig und hatte kleine Schweinsäuglein. Unter seinen Achseln waren hässliche Schweißflecken zu erkennen, dabei war es in der Kabine alles andere als warm. Er war also mehr als aufgeregt, eventuell wies die erhöhte Schweißproduktion auch auf eine Erkrankung hin. Seine ganze Haltung ließ dennoch nichts an Arroganz vermissen. Entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen, ging er zur Pilotenkanzel, denn der Kabinenchef ließ sich nicht mehr blicken, nachdem er das Flugzeug verlassen hatte. Doch auch dort wurde seine Neugier nicht befriedigt. „Zurück auf Ihren Platz!“, befahl der Copilot, ein breitschultriger Mann, dessen ganzes Gebaren schon Ehrfurcht einflößend war, dazu kamen noch die Uniform und die Pistole, die seinen Worten auf entscheidende Weise Nachdruck verlieh. Auf die zornigen Rufe des Mannes hin, war er aus dem Cockpit getreten und nun tat sich für die Passagiere tatsächlich eine gefährliche Situation auf.
„Was verlangen Sie an Lösegeld?“, schrie einer, dann der dicke Mann wieder: „Was wollen Sie von uns? Fliegen Sie gefälligst weiter! In der Hölle sollst du schmoren, verdammter Ungläubiger!“
Viktor beobachtete das von seinem Platz aus. Interessiert schaute und hörte er zu. Er hatte nicht vor, sich zu früh einzumischen.
Flugzeugentführung war etwas, das es seit der Unterwerfung nicht mehr gegeben hatte. Früher war das ein Instrument des Wahren Friedenszuges der Friedgläubigen gewesen, sozusagen ein Instrument der Missionierung. Nun fragte er sich, wer dieses Relikt des Terrors wohl ausgegraben haben mochte und was mit ihm hie geschehen würde. Die anderen Leute interessierten ihn herzlich wenig, es handelte sich nur um regimetreue Abgeordnete, die in irgendeinem geheimen Auftrag nach Temswar unterwegs waren, auf die konnte jeder einzelne Bürger seiner Meinung nach getrost verzichten. Einzig die Flugbegleiterin, die schüchtern im hinteren Teil des Fliegers saß, hatte seine Aufmerksamkeit erregt. Aber sie wirkte nicht wie jemand, der sich auf ein Abenteuer einlassen würde. Sicher sein konnte man sich allerdings nie, diese züchtigen Hauben schienen nicht nur die Haare sondern auch den Menschen darunter zu verstecken. Vorsichtig schaute er sich in der Kabine um, der Mann zu seiner linken, hatte die Augen geschlossen und die Hände auf dem Bauch gefaltet. Er schien zu schlafen, aber Viktor erkannte, dass er unter den halbgeschlossenen Lidern alles genau beobachtete. Vor ihm saß noch ein Mann, von ihm konnte er nur die Kopfbedeckung erkennen, er atmete schwer und hatte die Finger um die Armlehnen gekrampft. Noch ein Stück weiter, war der Mann, der sich vorhin beschwert hatte. Nun saß er steif auf seinem Platz und Viktor bemerkte, wie er immer wieder versuchte, etwas zu sagen, es dann aber unterließ. Hinter ihm waren noch einige Reihen, die aber leer geblieben waren.
Die Maschine war, wie alle anderen seit über 70 Jahren nur für Regierungszwecke in Betrieb. Es gab keine privaten Fluglinien und auch keinen privaten Flugverkehr, höchstens für Geschäftszwecke und auch das war eher selten. Geschäfte wurden über das Internationale Computerfreundschaftsnetzwerk „Gesichtsbuch“ ausverhandelt und dann per Bildübertragungskonferenz ausgemacht. Diese Netzwerke wiederum waren einigen privilegierten Menschen vorbehalten, die sich besonders für die Ausbreitung des Friedensglaubens in der Welt hervorgetan hatten und deren Familien. Flüge und Fernreisen in andere Weltgegenden waren ebenso nur dieser Bevölkerungsschicht vorbehalten. Die Meisten hatten ihr Geld mit der Ausbeutung fremder Systeme gemacht. Nun lebten sie von den Zinsen und beraubten weiter die Ressourcen der Bevölkerung, hungerten sie quasi aus, indem sie ihnen die neue Lebensweise aufzwangen.
Viktor gehörte weder zu einem wichtigen Stab noch war er ein reicher Geschäftsmann. Als kleiner Polizist war es ein Wunder, wenn man ein Flugzeug überhaupt aus der Nähe zu sehen bekam und nun saß er hier in einer allem Anschein nach entführten Maschine und fragte sich, wie er sich in dieser Situation verhalten sollte, wem er seine Loyalität schuldete. Während er an all das dachte, fühlte er die Disk in der Innentasche seiner Jacke und plötzlich hatte er eine Melodie im Kopf und er summte leise ein altes Lied: „… how many of them can we make die …“ Erschrocken über diese Worte, die er nur zum Teil verstand, hielt er inne und er wusste, wie im Zweifel seine Entscheidung ausfallen würde. Es war, wie vor wenigen Tagen auf dem Hof seines Bruders, der nur noch die Asche der Erinnerung war. Mit Ingrimm dachte er daran, dass niemand die Artefakte finden konnte, so gut hatte er gearbeitet. Leider waren auch viele Kunstschätze dabei verloren gegangen.
Er tastete gerade nach der Diskette, da ging der Copilot nach hinten. Die Pistole lag in seiner Hand, doch Viktor erkannte, dass der Mann nicht auf der Hut war. Er rechnete wohl nicht mit einem Angriff der Passagiere. Das fand Viktor bemerkenswert. Schon war er versucht, dem Mann ein Bein zu stellen und ihn zu entwaffnen, immerhin hatte er die Ausbildung das zu schaffen. Doch er unterließ den Versuch. Es war ihm wichtiger, zuerst herauszufinden, was die Entführer wollten und wo er hier gestrandet war. Später konnte er sich noch immer mit einem Fluchtplan befassen. Einfach ins Blaue hineinzurennen brachte nichts anderes als noch mehr Ärger, hielt er sich vor Augen. Bewusst atmete er ruhig und gleichmäßig, denn der Mann mit der Pistole machte ihn doch einigermaßen nervös.
Der Glatzkopf weiter vorne hingegen, schien vor Zorn zu beben. Viktor erkannte es an dessen immer wieder unterbrochenen Bewegungen. Nun stand er tatsächlich auf und brüllte: „Was wollt ihr von uns? Ich bin Minister Hasim Obermann und zuständig für den Inneren Frieden in Mitteleuron. Ich verlange eine Erklärung! Dieses Verhalten ist gegen das Gesetz!“ Das brachte den Copiloten dazu, sich umzudrehen und die Waffe erneut zu heben. In diesem Moment kam der Pilot aus der Kanzel. Lässig schritt er den Gang entlang, hielt beim Minister kurz an und gab ihm eine schallende Ohrfeige. „Maulhalten, Feigling“, war alles was er sagte. Dann ging er auf Viktor zu und schaute ihm einige Zeit in die Augen. „Mitkommen“, befahl er. Viktor bekam es nun mit der Angst zu tun. Von Geiseln getrennt zu werden, war kein gutes Zeichen. Aber er stand widerspruchslos auf und folgte dem Kapitän. Die Flugbegleiterin erhob sich ebenfalls und Viktor stellte schaudernd fest, dass sie in ihren kleinen Händen eine Steyr TMP hielt. Er schluckte heftig, das Ding konnte einiges an Schaden anrichten und das in verdammt kurzer Zeit. Die Dame schien sich mit der Maschinenpistole auszukennen. Sie war also tatsächlich an Abenteuern interessiert. Das wiederum machte sie für Viktor attraktiv und er schaute sie genauer an. Das Haar trug sie noch immer nach althergebrachter Sitte unter einem Tuch, sodass nur ein Dreieck ihres Gesichts zu sehen war. Auch vom Körper sah er nicht mehr als ihre Hände, welche die gefährliche Waffe ruhig auf ihn richteten. Dann schwenkte sie ab und hielt sie auf die drei anderen Passagiere. Während er ausstieg, hörte er sie mit derselben angenehmen, melodischen Stimme, die ihnen die Notfallmaßnahmen erklärt hatte, sagen: „Meine Herren, schnallen Sie sich bitte an und nehmen Sie die Sicherheitsposition ein – wir werden in wenigen Minuten abstürzen.“ Nach ihrer Rede feuerte sie den Gang entlang. Sofort schlossen sich die Sicherheitsgurte und die Rücken bogen sich. Dann folgte sie den beiden Piloten und Viktor.
Er fühlte sich alles andere als wohl, als er auf einen Lastwagen zugeschoben wurde. Erst wollte er sich weigern, einzusteigen, doch ein Wink mit der Pistole half ihm zu einer rascheren Entscheidung. Den Helden wollte er nicht spielen. Gerade als er auf der Ladefläche platz genommen hatte, gab es eine Erschütterung und dann schoss ein Feuerball in die Luft. Das Flugzeug war explodiert. „Ja, Freund Kreuzer, deine Maschine ist über Magyarslam abgestürzt. Hast noch Glück gehabt, Alter“, meinte der Copilot. An die Frau gewandt fuhr er fort: „Sind genügend Leichen vorhanden?“
„Ja, alles wie geplant.“
„Dann fahren wir.“
Den Rest der Unterhaltung verstand Viktor nicht mehr, denn die Plane wurde herabgelassen und er saß im Dunkeln. Dann hörte er Autotüren schlagen, der Motor startete und in halsbrecherischem Tempo ging es eine unbefestigte Piste entlang, die bald darauf in eine breite Straße mündete. Viktor fragte nicht mehr, wohin sie fuhren. Er wusste nur, dass es Richtung Osten ging, ins Gebiet von Romslam hinein, einer Provinz in Magyarslam, die einige unwirtliche Gegenden barg, mit guten Versteckmöglichkeiten. Er legte sich auf den Boden und versuchte, nicht zu sehr auf der Ladefläche herumzurutschen. Mehrmals stieß er sich an der Bordwand an, doch noch hatte er keine Position gefunden, welche die Reise angenehmer machen würde.
Sie fuhren den ganzen Tag, durch die Nacht und einen weiteren Tag. Immerzu waren monotone Gesänge aus dem Empfänger zu hören, die Viktor langsam wahnsinnig zu machen drohten. Erst als es ins Gebirge hinauf ging, wurde die Musik abgestellt und Viktor atmete erleichtert auf. Für ihn war das die reinste Folter gewesen. Die anderen waren mit Gehörschutz versehen und gaben mittels altertümlichen Morsezeichen dem Funker an ihrem Treffpunkt über ihre Ankunft Bescheid.
Er saß auf dem harten Boden, wurde durchgeschüttelt und wusste langsam nicht mehr, wie er die zunehmende Kälte aushalten sollte. Als er schon dachte, er würde erfrieren, tat sich ein Schiebefenster auf und eine Hand reichte ihm eine Decke durch, dazu kam noch eine Thermoskanne, aber kein Wort der Erklärung.
‚Der kleine Mistsack hat mich Kreuzer genannt, vielleicht ist er mit Karol bekannt? Danninger wird er nicht kennen. Wenn ich nur wüsste, was hier gespielt wird und warum sich Karli auf diesen Mist eingelassen hat. Die Neugier ist der Katze Tod, hat Oma immer gesagt – recht hatte sie’, dachte er düster. Je länger ihm die Nacht vorkam und je kälter es wurde, desto dunkler und zorniger wurden seine Gedanken. Sein Groll richtete sich gegen die Entführer. Zunehmend steigerte er sich in einen Hass, den er selbst nicht ganz verstehen konnte. Es war unfassbar in diesem Land, das angeblich so friedlich sein sollte, dass Menschen gekidnappt wurden, ermordet, wie der Minister und die anderen Männer an Bord der Maschine und dass sein Bruder wegen einiger nutzloser Gegenstände aus seinem Haus fliehen musste. Alles verschwamm zu einem einzigen Bild und bald rannen auch die Farben ineinander, mischten sich, bis am Ende, wie bei Knete, nur noch ein hässliches Grau übrig war. „Nein!“, schrie er erschüttert, als er im Morgengrauen meinte, eine tiefgreifende Erkenntnis gewonnen zu haben.
Die Leute vorne beachteten ihn nicht und trieben den alten Lastkraftwagen weiter in die Berge. Sie hielten nur wenige Male für kurze Zeit an, um den Treibstoff aufzufüllen und für Pinkelpausen. Zu diesen Zeiten durfte auch Viktor die Ladefläche verlassen und er schaute sich interessiert um. Die Gegend erinnerte ihn entfernt an die Gebirgslandschaft im alten Windisch, dort hatte er einige Jahre Dienst getan, so waren ihm hohe Berge vertraut. Doch diese waren anders, weniger hoch, doch karstiger. Wenn er nicht so verängstigt, unterkühlt, unausgeschlafen und hungrig gewesen wäre, hätte er die Gegend als durchaus reizvoll empfinden können. Besonders der Sonnenaufgang malte an diesem Tag die wunderschönsten Farben in die Landschaft, die kein Maler keiner Zeit in dieser Intensität mischen konnte. Doch für einen Augenblick nahm ihn der Anblick gefangen und entführte ihn in eine Zeit der Künste und der Wissenschaften, als es noch weniger Frieden und dafür mehr Kultur gegeben hatte.
Nach diesem Halt ließen sie den Wagen zurück, nahmen Viktor in die Mitte und dann gingen sie zu Fuß weiter. Die Frau war zurückgeblieben, die Steyr TMP hatte sie an einen der Männer übergeben, die mittlerweile die Uniformen gegen das einheitliche braune Gewand der Bergbevölkerung getauscht hatten. Danach war sie in einem heruntergekommenen Haus verschwunden. Viktor hätte sie gerne näher kennengelernt, er fand sie anziehend. Doch nun konzentrierte er sich auf den bevorstehenden Aufstieg. In seinem momentanen körperlichen Zustand brauchte er alle Willensanstrengung zu der er fähig war, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er hatte jetzt seit beinahe drei Tagen gefastet und sehr wenig geschlafen. Kalt war ihm noch immer. Bislang hatte ihn der Anblick der Frau etwas gewärmt, zumindest hatte sie es geschafft, dass er sich wärmer fühlte. Gerne hätte er ihren Namen gewusst, aber sie hatte nie das Wort an ihn gerichtet und ihn auch sonst gemieden, als hätte er eine ansteckende Krankheit.
„Wo sind wir?“, wagte er schließlich eine Frage zu stellen. Er schämte sich, weil seine Stimme zittrig und ängstlich klang. „Das wirst du noch früh genug herausfinden, Kreuzer“, antwortete der Pilot.
„Ich heiße nicht Kreuzer“, versuchte er es erneut.
„Nein? Da habe ich aber andere Informationen, Kleiner. Halt jetzt den Mund und geh. Wir reden, wenn wir zuhause sind.“
Stumm gingen sie weiter in die zerklüftete Bergwelt des Apusenigebirges.