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Die Kreuzer (Teil 1)

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Im Harem geht es weiter ;-)
Jetzt mussten sie nur noch die Dunkelheit abwarten, was sich in dieser Gegend als problematisch erweisen mochte, denn es gab nur wenig Raum für Deckung, wollten sie nicht gleich in den Wald vordringen. Langsam schritt Ulf auf der Verkehrsinsel herum, begutachtete die Mülleimer und tat alles in allem so, als würde er auf den nächsten Bus warten. Fritz dahingehend konnte kaum an sich halten, nervös saugte er an der Unterlippe und nestelte an seiner Kleidung. Er wollte unbedingt, dass es weiterging, weg von der Straße, oder wenigstens Informationen. Schon begann er wieder mit Fragen, da trat Ulf zu ihm und fragte: „Magst du auch?“ Damit nötigte er ihm eine Zigarette auf und zündete sich selbst ebenfalls eine an. Rauchend ging er zum Wartehaus und setzte sich auf die einzige Bank. Zögernd folgte ihm Fritz. Mit geschlossenen Augen inhalierte Ulf und es sah so aus, als würde er oft diese Rauchpausen brauchen und sie auch genießen. Scheinbar träge blinzelte er in die Sonne, ein fauler Müllarbeiter, der seinen Arbeitstag verstreichen ließ. Da fuhr abermals ein Bus ein. Mehrere Fahrgäste stiegen aus und schauten sie wütend an, denn sie blockierten die Bank, schlimmer noch sie war jetzt unrein. „Raus hier!“, befahl der Busfahrer streng, der zornig und heftig gestikulierend auf sie zugelaufen kam. Ulf grinste verhalten und meinte schon im Aufstehen begriffen: „Klar Chef, sind schon weg. Nur ne Rauchpause.“
„Elendes arbeitsscheues Gesindel, mit euch Dhimmipack sollte man abfahren, wenn ihr nicht gehorcht!“ Da musste sich Ulf allerdings schwer beherrschen, um dem Mann nicht ins Gesicht zu schlagen. Er schaffte es sogar, Fritz ohne Aufsehen zu erregen, aus dem Wartehäuschen zu schaffen, als er selbst meinte, gleich zu explodieren, denn der Busfahrer lief ihnen nach, wobei er noch einige Beschimpfungen loswurde und ihm einen Schlag mit der Kelle verpasste. Ulf ignorierte das, biss die Zähne zusammen und atmete tief durch, dann zog er Fritz mit sich weiter die Straße entlang. Es hatte keinen Zweck, die Tarnung zu gefährden, schon gar nicht wegen einer unbedeutenden Beleidigung. ‚Verdammte Konvertiten, die sind die schlimmsten’, dachte er trotzdem ärgerlich. ‚Man sollte sie allesamt in der Donau versenken.’

Nur langsam verstrich die Zeit. Innerhalb einer Stunde hatten sie den Kern der kleinen Ortschaft am Rande Viyannas umrundet, waren im Park gewesen und an der Donau. Sie hatten das Schloss gesehen und waren wieder gegangen. Dann besuchten sie abermals den Park und Ulf bückte sich eben nach einem Pappbecher, da blickte er auf blankpolierte Stiefel. ‚Scheiße’, war das erste, das er dachte, dann schaute er auf und zum Glück war es kein richtiger Polizist, sondern jemand vom Ordnungsamt, der sich wichtig machen wollte. ‚Diese Typen sind eine verdammte Pest’, dachte er angewidert und lächelte freundlich. „Was macht ihr hier?“, fragte der Beamte unwirsch. Ulf lächelte gezwungen, er war ein guter Schauspieler, wenn es darauf ankam, hob die Arme in einer entschuldigenden Geste und zeigte auf den Müll in einem Beutel, den er am Gürtel trug. „Ah so. Aber wir haben unsere eigenen Leute. Da muss ein Irrtum vorliegen. Kehrt in die Stadt zurück.“
„Sicher, Chef, sobald wir hier fertig sind. Wir sind auf Anweisung des Magistrats hier“, antwortete Ulf, wobei er sich erneut bückte und einen Zigarettenstummel aufhob, den er vorher schon vorsorglich fallen gelassen hatte. Eben wollte der Ordnungshüter zu diskutieren beginnen, da lenkte Ulf ein: „Chef, wenn wir zu früh wieder im Department sind, dann bekommen wir Ärger, wo wir doch nur unseren Auftrag ausführen.“ Dabei blickte er betreten zu Boden und tat so als würde ihm diese Peinlichkeit, am falschen Ort zu arbeiten, ständig passieren. „Na schön, dann will ich mal Gnade walten lassen und melde euch nicht, wenn ihr euch hier heraußen einen schönen Tag machen wollt. Aber vor Dunkelwerden seid ihr weg und nie wieder will ich euch hier sehen.“
„Sicher Chef, danke Chef“, murmelte Ulf devot und verbeugte sich. Dann überlegte er, dass es höchste Zeit war, von der Bildfläche zu verschwinden. Er blickte auf und berechnete rasch die Zeit bis zum Sonnenuntergang. Eine Weile würden sie noch aushalten müssen.
Müßig zündete er sich eine weitere Zigarette an, reichte auch Fritz eine, und dann schlenderte er rauchend durch den Park und machte wieder einmal Pause. Es war die effektivste Art, unsichtbar zu sein, sich möglichst sichtbar zu geben. Jeder Passant sah nur einen rauchenden orangeroten Overall, aber keiner würde sich an sein Gesicht erinnern. So ließ er die Zeit verstreichen und als die Dämmerung tiefer zog, wurde er ein wenig lebendiger. Kaum merklich beschleunigte er seinen Schritt und genervt folgte ihm Fritz. Er hatte noch so viele Fragen aber er wagte es nicht, eine zu stellen, denn seit Stunden benahm sich Ulf sehr eigenartig. Schaute immer wieder zum Himmel hinauf, rauchte und sammelte Müll ein. Dabei kamen sie stetig vorwärts und waren mittlerweile außerhalb des Siedlungsgebiets in einem kleinen Waldgebiet angelangt. Ulf summte leise vor sich hin und es hörte sich nicht an wie ein Lied, welches die herrschende Kaste goutieren würde. So kam Fritz endlich dazu, das alte Kampflied einmal ganz zu hören. Bald sang auch er mit: „Wir sind des Kreuzers weißer Haufen, heia hoho, und wollen mit den Musels raufen, heia hoho. Spieß voran, flieht voll Schmach, wir holen euren Sichelmond vom Dach. Spieß voran, flieht voll Schmach, wir holen euren Sichelmond vom Dach.“ Eine Weile sang er noch so dahin, dann wurde es ihm zu langweilig und er beobachtete erneut die Gegend und schätzte die Zeit bis zum Sonnenuntergang. Lange würde es nicht mehr dauern. Endlich war es so weit und er wandte sich dem großen, hell erleuchteten Gebäude zu. „Schloss Laudon“, verkündete er und grinste vielsagend. „Unser Ziel, das sicherste Haus auf viele Kilometer im Umkreis.“ Fritz schauderte noch mehr, denn das Schloss gehörte niemand geringerem als dem Minister für innere Angelegenheiten und Leiter des Heeresnachrichtendienstes Wesir Harim Öztürk. „Das nennst du sicher?“ fragte er sogleich erbost, aber Ulf antwortete nicht, sondern ging gleich weiter. Er musste den versteckten Eingang finden, das Zeichen, welches auf die Sicherheit des Weges hinwies. Konzentriert schlich er sich an den Hintereingang heran und wartete bis Fritz aufgeholt hatte. Ulf tastete das Mauerwerk ab. Nur ab und zu ließ er die Taschenlampe aufleuchten und ihr Schein enthüllte eine etwa zwei Meter hohe, sehr glatte Wand, die mit Stacheldraht gekrönt war. In unregelmäßigen Abständen waren Kameras angebracht und bewegungssensitive Scheinwerfer waren gut zu erkennen. Etwas anderes als Probleme hatte Ulf auch nicht erwartet und er hoffte, dass die sich nicht zu wirklichen Schwierigkeiten auswachsen würden. Langsam schlichen sie weiter durch das hohe Gras und versuchten nicht in den Suchkreis eines Scheinwerfers zu geraten.
„Achtung, hier könnten gleich einige Überraschungen auftauchen. Bleib wo du bist und lass mich mal vorgehen“, flüsterte Ulf. Vorsichtig schritt er im Schein der Taschenlampe dahin, dann sah er endlich das Zeichen, welches auf die gesicherte Tür hinwies. Nur der Gefahrenhinweis gefiel ihm gar nicht. Die Donau führte Hochwasser, also war dir Tür nicht so ohne weiteres zu erreichen. Verstimmt blickte er sich um und winkte dann Fritz. Es half nichts, hier auf bessere Zeiten zu warten war ein größeres Risiko als ein Tauchgang in der Dunkelheit. Diese Tür war ohnehin nie einfach zu erreichen aber bei Hochwasser war es fast unmöglich. Sicherheitshalber zog sich Ulf aus, steckte die P80 mitsamt einem Ersatzmagazin in einen wasserdichten Beutel, den er am Gürtel befestigte, anschließend packte er alle ihre Sachen in zwei große Müllbeutel, da würden sie trocken bleiben und es konnte nichts gefunden werden. Ihn fröstelte in der Unterwäsche und er wusste, im Wasser würde es noch kälter werden. Er zögerte nicht länger und schritt in die dunklen Fluten. Es dauerte nicht lange und das Wasser ging ihm bis zum Hals und er musste schwimmen. Nach etlichen hundert Metern, ihm kam es wie Kilometer vor, sah er die Markierung an der Mauer auftauchen. Er war froh, dass sie über der Hochwassermarkierung lag, denn die tatsächliche Tür war noch unter Wasser. Im Schein seiner Taschenlampe erkannte er den Öffnungsmechanismus, dann musste er tauchen. Das einströmende Wasser zog ihn beinahe durch die Öffnung und beinahe hätte es ihn gegen die Mauer gedrückt. Gerade noch schaffte er es in den Gang und ohne Verletzungen ans Ende zu gelangen. Von hier aus ging es steil nach oben, einen ehemaligen Kamin hoch. Es war dunkel und eng und er musste sich beeilen wenn er nicht ertrinken wollte. Immer wieder stieß er mit den Füßen oder den Händen an den Wänden an und dann tauchte er endlich auf. Die Sprossen der Leiter fand er beim zweiten Anlauf und sofort begann er sie zu ersteigen. Es war zum Glück nicht weit und der alte Schacht endete in einem niedrigen Gang. „Wir sind gleich da, Freund. Komm, ein Stück noch“, sagte er unerwartet freundlich, als Fritz auftauchte. Dann schaltete er die Taschenlampe wieder ein und rannte vorwärts. Sie waren hier in dem ältesten noch erhaltenen Teil des Schlosses, der aus einer Zeit datiert war, welchen man einmal 18. Jahrhundert genannt hatte. Alles andere war in der Zeit der Großen Erhebung vernichtet worden. Die Vorfahren von Wesir Öztürk hatten die Ruine erbeutet, renoviert und für ihre Zwecke neu eingerichtet. Es war nun so eine Art Lustschloss für den Wesir und diente ab und zu auch repräsentativen Zwecken.
Seit Stunden fühlte sich Fritz unter Schock stehen und keine Minute brachte ihm Beruhigung, er dachte, gleich müsste er aus der Haut fahren, zusammenbrechen oder sonst etwas drastisches unternehmen, um sich Erleichterung zu verschaffen. Doch jedes Mal, wenn er etwas sagen wollte, erwiderte Ulf: „Gleich, Fritz. Sei ruhig, ich muss mich konzentrieren.“
Aber er sah, dass Ulf ebenso verfroren und müde aussah wie er selbst, also schwieg er und verbiss sich jede Bemerkung.

Der Gang führte aufwärts, war schmal und niedrig, sodass sie einen Teil gebückt laufen mussten, dennoch dauerte es nicht lange und sie stießen an eine weitere Tür, die schon ein Stockwerk höher als das Kellerverlies lag, wie Ulf den Durchgang zu nennen pflegte. Bislang war ihnen das Glück zur Seite gestanden und er hoffte inständig, dass es so blieb. Er atmete tief durch, sammelte sich und dachte angestrengt an den Morsecode, den er vor Jahren einmal gelernt hatte und dann nur wenige Male gebraucht hatte. Dann klopfte er sein Zeichen auf das Holz. Lange Minuten mussten sie warten und er wiederholte das Klopfsignal. Dann endlich hörten sie eine Antwort. Ulf atmete erleichtert aus und gab ein anderes Zeichen durch. Erst danach öffnete sich die Tür ein Spaltbreit und sie sahen in ein erstaunt blickendes, männliches Gesicht. „Ich hoffte, dich noch einmal zu sehen, Ulf. Und nicht nur ich“, sagte er wobei er die durchfrorenen Männer sogleich durchwinkte und ihnen Decken reichte. „Danke, David. Ist Emma da?“
„Ja. Was ist mit ihm?“ Er deutete mit dem Kopf auf Fritz, der sich in die Decke gewickelt hatte, als ginge es ums Überleben. „Ein Freund. Ich bürge für ihn“, war die knappe Erwiderung. „Gut, folgt mir.“ David ging vorneweg eine schmale Stiege empor, dann durch eine Tür, die in ein behaglich eingerichtetes Zimmer führte. Es war eine Art Hinterzimmer zum Haremsbereich und die Zugänge waren gut getarnt. Emma hatte im gesamten Schloss gute Arbeit geleistet, dachte Ulf anerkennend.
„Hier könnt ihr euch ausruhen und aufwärmen. Ich werde mich beeilen.“ David deutete auf eine Bank und verließ umgehend den Raum, nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Tapetentür unsichtbar und gut verriegelt war.
„Ich bin froh, hier zu sein“, murmelte Ulf und streckte sich müde auf der Bank aus. „Na, ich weiß nicht. Du weißt, wem das Haus hier gehört?“
„Natürlich“, das Grinsen in Ulfs Gesicht wurde breiter. „Welch besseres Versteck könntest du dir vorstellen?“ Er wartete eine Weile, dann meinte er heiter: „Gib es zu, es gibt keines.“ Dann wickelte er sich fester in die Decke und schloss einen Moment die Augen. Er war so müde wie seit seiner großen Forschungsfahrt durch Europa nicht mehr. In den vergangenen Tagen hatte er nie mehr als zwei Stunden am Stück geschlafen und langsam machte sich die Erschöpfung bemerkbar, er wurde zunehmend reizbar und unkonzentriert.
Doch noch ehe die Tür aufging und David sie abholte, stand er bereits lauschend da, die P80 schussbereit in der Hand. Das Haus galt zwar als sicher, aber Ulf wollte sich auch hier einen Rückweg offen halten. Endlich hörte er, wie sich jemand an der Tür zu schaffen machte und er positionierte sich so, dass er bei Gefahr schießen konnte. Er entspannte sich erst, als er David erkannte und packte die nun gesicherte Waffe wieder weg.
„Kommt mit“, meinte der Diener feierlich und ging vorneweg. „Wird auch höchste Zeit“, murmelte Fritz, aber gerade leise genug, damit niemand reagieren musste.
Einen schmalen Gang gingen sie entlang, der nur von einer einzigen Glühbirne erhellt wurde, an seinem Ende befand sich abermals eine kaum sichtbare Tapetentür und da durch führte sie David nun.
Es war als kämen sie in eine andere Welt. Hier herrschten Luxus und Überfluss. Die Möbel gediegen und teuer, strahlten barocke Eleganz aus aber das wirklich faszinierende war die Person, die an einer Seite des Raumes vor einem Spiegeltisch thronte. Fritz fand, er hätte noch nie so eine bezaubernde Frau gesehen. Selbstbewusst saß sie in einem Hauch von Nichts vor dem Spiegel und kämmte sich das lange blonde Haar.
„Emma“, sagte Ulf nur. Er achtete nicht mehr auf Fritz oder David. Nun stand sie auf und schritt auf ihn zu. Zur Begrüßung umarmte sie ihn. „Schön dich zu sehen, Ulf. Nach dem Vergeltungsschlag unter Sankt Stephan dachte ich nicht mehr, dich jemals wiederzusehen. Bei Livia wäre ich mir dagegen fast sicher gewesen. Wo ist sie? Hat sie …?“
„Alles zu seiner Zeit, Emma. Was wir brauchen ist etwas Ruhe und trockene Sachen.“
„Natürlich. Wie ungastlich von mir, zuerst ein Bad, das ist am vordringlichsten, will mir scheinen.“ Ein Lächeln stahl sich um ihre Lippen und sie klatschte gebieterisch in die Hände. Umgehend erschien David. „Was kann ich …?“
„Such für Ulfs Gast ein Zimmerchen und dann sieh zu, dass wir hier nicht gestört werden. Besorge ihm auch Erfrischungen und vielleicht wünscht er ein Bad … Frag ihn einfach. Und schick Diana und Myra her.“
„Wird erledigt.“ Dann wandte er sich an Fritz, der noch immer staunend und frierend in der Mitte des Raums stand, und meinte: „Komm mit.“ Zögernd ließ sich Fritz aus dem hell erleuchteten Raum führen, der nur durch die Präsenz der Frau übervoll zu sein schien, denn außer dem Bett, einem Diwan mit Couchtisch, dem Spiegeltisch und einem Hocker davor, war er leer.

„Ich bringe dich jetzt mal ins Bad. Du siehst reichlich verfroren aus und sei mir nicht böse, du stinkst.“
„Kein Wunder, wo ich mich aufgehalten habe, danke für das Bad. Kommst du mit? Dann können wir gleich ein wenig reden.“ Doch sie schüttelte verneinend den Kopf. „Ich sorge hier für Ruhe. Lass dir Zeit, Ulf und genieße den Luxus, wenn du willst helfen dir Myra oder Diana oder beide.“ Er zog die Schultern hoch und ließ sie ergeben wieder fallen. Das hier war ihr Reich, es galten ihre Regeln. „Dann lieber allein. Deine Gänschen sind zwar recht nett, aber du kennst mich ja, ich gebe mich selten mit der zweiten Wahl zufrieden.“ Er grinste mehrdeutig und verschwand rasch ins Bad, das ebenso gediegen eingerichtet war wie das Schlafzimmer. Dankbar entfernte er die nasse Kleidung, die von einer der jungen Damen geholt wurde, und stellte sich unter die Dampfdusche. Es war angenehm wieder warm zu werden und es schien ihm als würde die Müdigkeit mit dem Wasser weggespült. Einige Minuten genoss er das Gefühl, dann stieg er heraus und wickelte sich in ein flauschiges, angewärmtes Badetuch. Angenehm erfrischt und hungrig ging er zurück ins Schlafzimmer. Emma hatte hier Ordnung schaffen lassen, das Bett sah frisch bezogen aus, was Ulf freute, denn in einem Bett, wo sie sich vorher mit einem anderen mehr oder weniger amüsiert hatte, wollte er nicht so gerne übernachten. Auch hatte sie für Essen gesorgt und nun trat sie ihm mit einem Glas Apfelsaft entgegen. Sie selbst trug immer noch diesen Hauch von schwarzer Spitze. Es schien sie nicht im Mindesten zu stören, dass sie wie die personifizierte Sünde aussah, im Gegenteil, ihre Bewegungen deuteten darauf hin, dass sie das Schauspiel genoss, denn ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen als sie ihn anblickte.
„Tut mir Leid, wir haben hier nur alkoholfreie Getränke“, meinte sie entschuldigend. Dankbar nahm er das Glas und erst als er ausgetrunken hatte, antwortete er: „Das macht nichts. Es ist ohnehin besser, nüchtern zu bleiben.“ Er schaute sie an, doch sie drehte sich um und ging zum Bett. Bequem nahm sie darauf Platz und bedeutete ihm, sich zu ihr zu setzen. Zögernd trat er näher und blieb dann vor ihr stehen. „Was ist, Ulf? Sagst du mir jetzt was genau passiert ist? Ich weiß nur von den Lügen, welche Harim mir erzählt hat. Aber eines weiß ich ganz bestimmt, Livia, sollte sie noch leben, ist eine elende kleine Spionin, eine Verräterin der Sonderklasse, von Harims Leuten ausgebildet. Über Simineon brauchst du nicht nachzudenken, der war in meinen Augen ein Vollidiot, gutmütig und blind.“ Ihre Augen wurden schmal als sie redete und dann merkte sie, wie Ulf erleichtert ausatmete. „Was ist passiert?“, fragte sie interessiert. Einladend reichte sie ihm die Hand und diesmal setzte er sich neben sie. Sein Oberschenkel berührte dabei ihren und einen Moment schaute er sie an. Dann lächelte er leicht und berichtete ruhig und gefasst, was sich seit dem Überfall auf die Versammlung in den Katakomben zugetragen hatte, auch wie er Livia beseitigen musste, berichtete er. Emma schien nicht sonderlich überrascht zu sein. Einiges davon hatte sie auf ihrem üblichen Weg erfahren, anderes hatte sie erraten. Als er endlich fertig war, bediente sie ihn mit Erfrischungen, die David oder ein anderer seiner Zunft unbemerkt serviert hatte. „Die Eunuchen sind auf unserer Seite, denn keiner von ihnen ist es freiwillig geworden. Harim ist zwar nicht blöd, aber er unterschätzt seine Diener und uns Haremsdamen sowieso. Du hättest ihn heute erleben sollen. Wenn der dich findet, dann macht er haram Hackfleisch aus dir und verfüttert dich an die Fische. Er war so zornig, ist richtig gehend die Wände hochgegangen, weil du mit deiner klitzekleinen Aktion zehn Männer seiner Eliteeinheit auf einen Schlag erwischt hast. Wie viel Polizisten noch getötet oder verletzt wurden, kann ich nicht sagen. Auf jeden Fall ist das Haus komplett eingestürzt und man ist noch immer dabei, die Trümmer wegzuräumen und nach Opfern zu suchen“, erzählte sie. „In den Nachrichten war die Rede von einem gezielten Anschlag aber Harim weiß was läuft, er weiß nur nicht, bei wem er den Hebel ansetzen muss. Er ist regelrecht im Blutrausch und lässt alle Kuffar überprüfen. Alle Verdächtigen werden verhört, gefoltert oder hingerichtet. In der Stadt geht der Spruch: Wer nicht konvertiert, verliert.“ Sie schaute ihn an, dann atmete sie tief ein und wieder aus und ein Lächeln kam hinter ihren ernsten Worten hervor als sie weiterredete: „Was für ein Husarenstück, dass du gerade hierher kommst. Gut, dass du nicht markiert bist und er deinen Namen nicht kennt.“ Ulf hörte schweigend zu und aß. Erst als er alles aufgegessen hatte, schaute er Emma an. Ihr Gesicht war noch immer von makelloser Schönheit, so wie er es in Erinnerung hatte, als er sie das erste Mal in Zürich bei ihren Eltern getroffen hatte. Damals hatte er noch nichts davon gewusst, dass sie sich dem Geheimdienst verpflichtet hatte und sich in hohe Kreise einschleusen lassen wollte. Nun war sie hier und lebte ein sehr luxuriöses und mehr als gefährliches Leben. Jetzt fielen ihm einige Fältchen auf, die sich in ihre sonst so feine und sehr helle Haut gegraben hatten. Zart nahm er ihr Gesicht in die Hände und streichelte ihre Wangen. „Da habe ich ja ganze Arbeit geleistet“, sagte er schließlich und fragte dann ganz unvermittelt und für ihn ungewohnt liebenswürdig: „Wie ist es dir ergangen?“
„Gut genug, wenn ich an andere denke. Ich wusste von Anfang an worauf ich mich einlasse, also lass bitte die Fragen.“ Ihre Stimme klang müde als hätte sie sich einen Moment nicht in der Gewalt gehabt. Dann lächelte sie und ein anderer Mensch schien neben ihm zu sitzen. Nun erkannte er ihr Talent, mit dem sie den Innenminister und noch einige andere Männer betörte und um ihre Geheimnisse brachte.
Einer plötzlichen Eingebung folgend fragte sie: „Magst du heute Nacht hier verbringen oder soll ich dich zu deinem Freund führen lassen?“ Es kostete ihn keine Überlegung, und trotzdem wartete er mit einer Antwort, die aus einem Lächeln bestand, dann legte er sich zurück, umschlang ihre Taille mit den Beinen und zog sie zu sich. „Ich bleibe. Wer weiß, wann ich wieder Gelegenheit habe, mit dir allein zu sein.“
„Eine weise Wahl, mein Lieber“, meinte sie verhalten grinsend. Dann verschloss er ihren Mund mit meinem leidenschaftlichen Kuss in dem nichts mehr von der Müdigkeit zu kennen war, die er noch vor wenigen Minuten gefühlt hatte.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
76 n. U. Banat Apuseni ...
*gruebel* Manchmal frage ich mich, ob hier noch jemand mitliest. Ein oder zwei werden es wohl sein *zwinker* Gefällt euch die Geschichte überhaupt noch? Ich möchte zwischenzeitlich auch betonen, ich halte mich an recherchierte Fakten, die ich weitergesponnen habe. Trotzdem frage ich mich, ob diese Geschichte nicht von aktuellen Ereignissen überholt werden wird.

Liebe Grüße
Herta

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76 n. U. Banat Apuseni


Er fühlte eine Dringlichkeit in sich, die keinen Aufschub duldete, so steigerte er sich immer mehr hinein, bis er beinahe panisch wurde. Schließlich hämmerte Viktor wild geworden gegen die Tür und rief lautstark nach dem Arzt. Erst als er sich immer heftiger aufführte und sogar ein Stuhl zertrümmert am Boden lag, öffnete sich die Tür und Tullas Kopf erschien im Spalt. Als sie sah, dass ihr nichts entgegen flog, öffnete sie ganz und zielte mit der Pistole auf Viktor. Er bemerkte zwar die auf ihn gerichtete Waffe und auch ihren eigentümlichen Aufzug, aber er achtete nicht darauf. „Na endlich“, rief er. „Komm, du musst mir helfen. Ich hab da …“ Dann wurde ihm bewusst, dass sie nur im Bademantel vor ihm stand und er mit einer Pistole bedroht wurde. Entgeistert verstummte er.
„Halt die Klappe, Danninger!“, brüllte sie zornig. „Sei ja still oder ich schieß dir ein Loch in deinen gottverdammten Schädel. Hier herrscht Ruhe! Ich brauche auch meinen Schlaf!“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte sie sich um und rauschte mit wehendem Mantel davon. Viktor blieb fassungslos zurück und starrte auf die geschlossene Tür. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, nur nicht mit Tulla, schon gar nicht in diesem sonderbaren Aufzug und mit dieser alles niederschmetternden Wortgewalt. Die rosafarbenen Pantoffeln waren ihm noch vor der drohend auf ihn gerichteten Pistole aufgefallen, sie standen in eklatantem Gegensatz zu dem schwarzen und ihr viel zu großen Bademantel. Noch immer verblüfft sammelte er die verstreuten Gegenstände ein und ging anschließend zu Bett. „Dann eben erst morgen“, murmelte er. Aber das ungute Gefühl, das sich seiner bemächtigt hatte, als er an die letzte Schutzimpfung dachte, wollte sich nicht verdrängen lassen, auch wenn momentan Tullas Bild vor seinen Augen an Intensität gewann und ihn lächeln ließ. Er fand, bei ihr lohnte sich ein zweiter Blick, sie war eine interessante Person. Einerseits hatte sie ihm gegen Hosni beigestanden und nun bedrohte sie ihn. Das fand er bemerkenswert und er verspürte den Wunsch, mehr Zeit mit ihr zu verbringen. Aber sie ließ sich nicht mehr blicken auch sonst schien niemand große Sehnsucht nach ihm zu haben. Die Zeit verging ihm langsam und er las abermals das Heilige Buch. „Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen …“, begann er die Eröffnungsverse zu lesen. Dann musste er aufhören, weil er einen Lachanfall bekam in dessen Folge er das gesamte Machwerk zerriss. Was das für jemandem mit seinem Glauben bedeutete, war ihm klar und er wusste auch, wie die Folgen für ihn aussehen mochten, doch es war ihm gleichgültig. An dem unschuldigen Papier ließ er seinen gesamten Frust aus. Seite für Seite riss er aus dem Band und formte Origami oder er machte ganz kleine Papierschnipsel daraus. Endlich hörte er entnervt auf. Auch das machte keinen Sinn und brachte ihm nur immer wieder die eigene machtlose Situation vor Augen, in die er sich zum Teil selbst gebracht hatte.

Es war noch dunkel und einige Tage später, als er unsanft aus dem Schlaf gerissen wurde. Erneut war er tagelang einfach ignoriert worden und er hegte den Verdacht, dass er diese Behandlung Hosni zu verdanken hatte.
„Leck mich“, brummte er, als er etwas Hartes im Rücken spürte. „Ach so“, meinte eine raue Stimme als schien sie sich, gerade dazu aufgefordert zu fühlen. Vorsichtig drehte er sich herum und starrte in einen Pistolenlauf, dann wanderte sein Blick den Arm entlang und landete schließlich in Tullas Gesicht. „Was wolltest du, als du so randaliert hast?“
„Nimm das Ding weg, dann werde ich es dir erzählen. Doch erst, wo ist Podorski?“
„Irgendwo. Also, was ist?“ Viktor stöhnte kurz, weil er nie Antworten bekam, aber dann erklärte er knapp: „Die haben mich vor dem Abflug geimpft, kann sein, dass es kein Impfstoff war, sondern ein Sender. Und nun erklär mir du, warum du mit einer Waffe auf mich zielst.“ Jetzt war es an Tulla, erstaunt zu sein. Sie saugte an der Unterlippe und zog die Augenbrauen zusammen, sodass eine steile Falte auf ihrer Stirn entstand. Fasziniert beobachtete er sie und schon hatte er wieder das Bild vor Augen, wie sie nur im Bademantel mit der Pistole in der Hand zornig vor ihm gestanden war. Unerwartet ging sein Atem schneller und er merkte, wie er auf ihre Brust starrte. Verlegen wandte er den Blick ab, doch sie schien es nicht zu bemerken, so angestrengt dachte sie nach. „In welchen Arm wurdest du gestochen? Ich glaube ja nicht, dass deine Glaubensbrüder soviel Intellekt aufweisen, wenn ich da an Hosni und seine Familie denke“, sagte sie bitter, dann atmete sie einmal tief durch und fuhr ruhig fort: „Es gibt genug andere Leute, die des Geldes wegen oder wegen ein wenig Macht und Prestige jedes Ehr- und Heimatgefühl über Bord werfen. Also, wo war die Einstichstelle?“ Die Fragen nach der Waffe ignorierte sie. Stumm rollte er den rechten Ärmel hoch und wies auf eine Stelle am äußeren Oberarm. Erst jetzt steckte sie die Pistole weg und ging zu ihm. Eigenartig war es, als er ihre warmen Hände auf seiner Haut fühlte, angenehm, und er schloss kurz die Augen als sie begann, das Gewebe abzutasten, bis unter den Ellbogen und hinauf unter die Achsel griff sie und dann meinte sie kritisch: „Das ist entweder ein Fremdkörper oder ein Tumor. Ich muss es entfernen, es drückt dir die Adern zu.“ Erschrocken sprang Viktor auf wobei er rief: „Was? Ein Tumor? Schneid es raus, sofort.“
„Ob es eine Geschwulst ist weiß ich nicht, auch nicht, ob es bösartig ist, wenn es was ist.“ Beruhigend legte sie ihre Hand auf seinen Arm, dann sagte sie, als er sich nicht wieder setzen wollte, sondern nur entsetzt vor sich hinstarrte: „Komm mit, Danninger. Ich schneid es dir raus, in meinem Labor habe ich alles. Ich versprech dir auch, nicht mehr die Pistole auf dich zu richten, in Ordnung?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf und ging voraus. Sie bemerkte zwar, wie weiß Viktor plötzlich geworden war, aber sie sah auch die Notwendigkeit eines raschen Handelns – sowohl Tumor als auch Sender, beides war möglich, und es schien auf die Arterie zu drücken, welche den rechten Arm mit Blut versorgte.

Viktor staunte nicht schlecht als er das gut ausgestattete Labor betrat. Es war im hintersten Teil der Hütte und direkt in den Fels geschlagen. Die Ausrüstung war fast so modern wie in einem Krankenhaus, wenngleich alles etwas kleiner ausgefallen war. Auf verschiedenen Regalen waren Nachschlagewerke zu erkennen, einen Autoklav älterer Bauart bemerkte er auf einem Sideboard, sie legte also großen Wert auf die Keimfreiheit ihres Handwerkszeugs. In einem verschließbaren Schrank waren diverse Arzneien aufgereiht und die Mitte des Raums nahm ein sauberer, metallisch glänzender Behandlungstisch ein. Aber nicht zu ihm führte sie ihn, sondern zu einer etwas bequemeren Liege an der Wand. Daneben stand ein sehr aufgeräumter Schreibtisch und darauf thronte ein Laptop. Zu ihm ging sie jetzt, fuhr ihn hoch und legte einen Stick ein. „Während ich dich behandle, höre ich mir die neuesten Nachrichten an, hab sie heute Nacht geliefert bekommen. Wir haben ja hier keinen Empfang, wie du weißt, deshalb sind sie von vorgestern“, erklärte sie, dann: „Setz dich auf die Liege dort und mach den Arm frei.“ Viktor beobachtete jede ihrer Bewegungen als sie sich die Hände wusch und desinfizierte, wieder einmal erstaunte ihn die Professionalität, mit der sie hier in dieser bergigen Einöde arbeitete. Während sie den Arm, in nun behandschuhten Händen, abtastete, lauschten sie den Nachrichten von vor einem Tag: „Gestern wurde uns mitgeteilt, dass der neue Präsident der UNO Vollversammlung Frank Mueller mit sofortiger Wirkung den Staatenbund aufgelöst hat. Es sei ihm nicht mehr möglich, eine Vereinigung zu leiten, die aus lediglich zwei Staaten bestünde, nämlich den Vereinigten Staaten von Amerika und der Schweiz, gab er als Begründung an. Das sehen unsere hiesigen Führer genauso und Kalif Kopf begrüßt diese Entwicklung außerordentlich.“ Es gab eine kurze Zusammenfassung über die Taten des Kalifen in den letzten Wochen, die sich hauptsächlich auf Moschee- und Koranschulenbesuche beschränkte. Danach folgte eine kurze Werbeeinblendung. „Ich hab’s“, murmelte sie schließlich, nahm einen Filzstift und machte einen Kreis um die betroffene Stelle. „Bist du gegen irgendwas allergisch“, fragte sie unbeteiligt. Viktor schüttelte stumm den Kopf, denn er wollte die Nachrichten hören, schon zu lange hatte er keine Neuigkeiten aus der Welt erfahren, die eben weitergingen und ihren Höhepunkt erreichten, bevor sie zum Wetterbericht kamen. „Am 25. dieses Monats hat das Christliche Oberhaupt seinen Rücktritt erklärt. Als Grund gab er ein neuerliches Schisma an, und die wiederholten gewaltsamen Übergriffe auf friedliche Rechtgläubige, welche dem Freitagsgebet nachgingen. Er wolle, so das christliche Oberhaupt, nicht weiter als Schöpfer dieser Gewalt genannt werden und er verurteile diese Gewaltorgien aufs Schärfste. Danach forderte er seine Glaubensbrüder auf, die Waffen zu strecken und dem Frieden zu dienen, so wie er es machen wollte.“ Einen Moment hielt Tulla in ihrer Tätigkeit inne, dann fuhr sie fort, die Einwegspritze mit einer Nadel zu versehen und fragte unvermittelt in die Stille zwischen ihnen: „Wie schwer bist du?“ Die Frage kam so unverhofft und war das krasse Gegenteil seiner Gedanken, dass sie ihn aus der Bahn warf und er stammelte wirres Zeug, zumindest kam es ihm so vor. „Na, ich schätze mal, so gut neunzig Kilo wirst du schon wiegen, viel mehr oder viel weniger auch nicht, bei deiner Größe gerechnet.“ Dann maß sie eine Dosis Lidocain ab, zog die Spritze damit auf und noch bevor Viktor etwas sagen konnte, hatte sie ihm die Nadel in den Muskel getrieben und abgedrückt. Erst als sie fertig war und „So“ sagte, meinte er: „Autsch. Du bist aber grob.“ Das entlockte ihr ein Lächeln, als wäre es das höchste Lob, das er ihr hätte geben können. „Lass die Nachrichten weiterlaufen“, bat er schließlich, doch sie schüttelte den Kopf. „Alles andere ist nur Bullshit, wer mit wem liiert ist, wo am schönsten Urlaub zu machen ist. Als ob sich noch irgendeiner Urlaub leisten könnte. Vielleicht die arabischen Minderheiten in den Ballungszentren oder die osmanischen Besatzer. Weißt du eigentlich, wie das alles angefangen hat?“ Viktor nickte langsam und er wünschte sich, es nicht zu wissen. Vor und auch während seiner Ausbildung hatte er oft mit Karol zusammen gearbeitet und alte Berichte übersetzt. Diese Erkenntnisse hatten ihn aber nicht davon abgehalten zum Polizeidienst zu gehen, ihn eher darin bestärkt. So berichtete er jetzt, was er noch in Erinnerung hatte. Tulla ließ sich von seinem Bericht in ihrer Konzentration nicht stören, er schien sie sogar noch zu fördern. Gründlich desinfizierte sie die Haut an der Operationsstelle noch einmal und setzte bedachtsam den notwendigen Schnitt. Das austretende Blut tupfte sie umgehend weg, dabei lauschte sie und schnitt tiefer, dabei legte sie die verschiedenen Hautschichten frei, bis der Muskel zu erkennen war und der Gegenstand, winzigklein und doch hätte er für Viktor bedrohlich werden können, vor der Pinzette lag.
„Ich erinnere mich an einen Artikel, er war schon fast unleserlich, in deutscher Sprache verfasst und er handelte davon, wie die Europäische Union, das war ein wirtschaftlicher und politischer Zusammenschluss von souveränen Staaten hier bei uns, beschlossen hatte, die Genfer Konvention, ich erkläre dir nachher, was das war, auf alle Arten von Flüchtlingen auszuweiten. Das war dann das Ende des alten Europas, und der Beginn des großen Umbruchs. Es kam, wie es kommen musste, Tulla, ein großer Menschenstrom wanderte vom Süden her in den Norden. Sie wollten hier am scheinbaren Wohlstand der Menschen teilhaben. Die Europäer waren damals wirtschaftlich schon sehr gezeichnet und kamen kaum selbst mit sich zu Rande, da erschienen diese halb verwahrlosen Männer und verlangten Aufnahme, soziale und finanzielle Sicherheit. In Folge dieser unkontrollierbaren Wanderung stieg die Kriminalitätsrate drastisch an, was ja kein Wunder ist, jemand der nichts hat, der stiehlt es sich und irgendwann artet das in Raub aus und endet bei Mord für ein paar Geldstücke. Die autochthonen Europäer bezahlten weiterhin ihre Steuern und mucksten nur wenig auf. Bis es in Berlin und auch in Wien und in zahlreichen anderen Hauptstädten zu ersten Massenzusammenstößen kam. London wurde dabei halb verwüstet, in Berlin wurden Polizisten von marodierenden Friedgläubigen vor laufenden Kameras regelrecht hingerichtet. Es muss eine Zeit des Chaos gewesen sein, Gewaltexzesse wie man sie sich kaum vorstellen kann, Tulla. Dann kam das, was als die Große Erhebung in die Geschichte des neuen Reichs eingegangen ist und den Anfang vom Ende eingeläutet hat, unvorstellbare Gräueltaten unter der Zivilbevölkerung, zuerst wurden ganze Stadtviertel überrannt, die Städte folgten, ich erinnere mich, es nahm den Anfang in Paris, Göteborg, Rotterdam, Berlin, London, … dann kamen die Länder und zum Schluss ganze Staaten.“ Er machte eine kurze Pause, schloss nachdenklich die Augen und redete schließlich leise, fast wie unter Zwang, weiter. Nun hatte er endlich einmal das Gefühl auf jemanden zu treffen, den das alles interessierte, der es nicht nur als dumme Lügengeschichten aus der Vergangenheit abtat, sondern es ernst nahm. „Dann wurden die Gesetze außer Kraft gesetzt, es herrschte Anarchie. Während dieser Zeit des politischen Vakuums, etablierten sich neue Mächte, welche die früheren Minderheiten in gezielte Bahnen zu lenken vermochten. Es war noch die Zeit der großen Erhebung mit Giftanschlägen, Bomben in Schulen, in Krankenhäusern – es muss das nackte Grauen geherrscht haben, jeder gegen jeden, Tulla, keiner konnte sagen, welche Partei die schlimmere war. – Armageddon, wenn du so willst. Das Abendland, wie es einmal hieß, hatte seinen Bankrott erklärt, die Europäische Union wurde aufgelöst, die Grenzen verschoben sich je nach Herkunft der neuen Herrschenden. So war das damals und jetzt hat sich die UNO als letztes Bollwerk und als letzte Erinnerung an ein Zeitalter vor der großen Erhebung auch aufgelöst. Vom Papst habe ich den Rücktritt eigentlich schon viel früher erwartet, der war schon immer ein ängstliches, feiges Schwein, genauso wie der Kopf in Viyanna – dort stinkt es gewaltig, Tulla.“ Er redete noch eine Weile, erzählte von Viyanna, das einmal Wien geheißen hatte. Sein Großvater hatte es noch unter dem deutschen Namen gekannt, erwähnte die zahlreichen Kirchen und Kunstschätze, die nun dem Untergang geweiht waren. So vertieft war er in seinen Bericht, dass er nicht merkte, wie sie die Sonde entnahm. Vorsichtig legte sie das nur wenige Millimeter große technische Gerät in eine silberne Schale und nahm dann Chirurgennadel und Faden. Mit zwei Stichen nähte sie alles zu, klebte ein Pflaster drüber und sagte: „Fertig. Das war interessant, was du erzählt hast und ich bin eigentlich nicht wirklich erstaunt über diese Entwicklung. Das sollte Podorski auch wissen.“
„Wo ist er – und verdammt, jetzt ist mir schlecht.“ Seit einigen Tagen musste er fasten und nun machte sich der Mangel an Nahrung, Flüssigkeit, Bewegung und Tageslicht bemerkbar. Viktor hatte plötzlich das Gefühl, sein Hirn würde durch Watte ersetzt, dann flimmerte es vor seinen Augen und er wusste nichts mehr.
ich lese
nicht immer - - - doch ab und zu - - -

dir zum Trost:

es war alles schon einmal da - - - *ja*

vielleicht in anderer Form *nixweiss*


*schiefguck* ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Themenersteller 
Pause
Eine längere Zeit werdet ihr jetzt von Fortsetzungen verschont bleiben, denn in den nächsten Tage geht's bei mir "ab ins Feld" zum Recherchieren. Dann gibt es noch einige Bücher fertig zu lesen, darunter solche Exoten wie den Koran und die UN-Menschenrechtskonvention, etwas zur Sturktur der EU und noch viele andere langweilige Texte.

*wink* und vielen Dank den vielen stillen Lesern für's Weiterlesen!

*blume* Herta
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Viel Freude bei dieser Arbeit! Und ich bin gespannt auf die Ergebnisse ...

(Der Antaghar)
*****ine Mann
911 Beiträge
Das gilt für mich genauso! Viel Spaß und Erfolg bei der Recherche!

LG
Bedou
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Spaß *fiesgrins* Was halt so manche Leute unter Spaß verstehen. *haumichwech*

Danke! Und ähm drückt mir die Daumen, dass ich die Informationen bekomme, die ich will.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Ich bin noch immer nicht mit den Infos gefüllt, die ich wollte, dafür habe ich andere bekommen und das in einem Ausmaß, das ich gar nicht wollte.

Hier geht es weiter mit Viktor Danninger:

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Als er wieder zu sich kam, wusste er nicht wo er war und was geschehen war. Er fragte sich auch, warum er eine Nadel in der Armbeuge stecken hatte. Auch über die Schmerzen, die er im ganzen Körper fühlte, wunderte er sich. Langsam wurde sein Denken wieder klar und er konnte hören, sehen konnte er nichts, denn es war zu dunkel, um mehr als Schemen zu erkennen. „Verpiss dich endlich, du Dreckskerl! Geh weg von mir!“, rief Tulla, dann klirrte etwas und eine männliche Stimme stieß einen Fluch aus, dem ein Schmerzenslaut folgte. „Verdammt, Tulla, was ist los mit dir? Zier dich doch nicht so.“
„Verschwinde, Hosni, du hast Aufgaben zu erledigen und wenn du noch einmal versuchst, mich zu küssen, töte ich dich.“ Hosni lachte anzüglich. Dann hörte Viktor nur noch sich entfernende Schritte und es war wieder still. Eine Weile lag er noch ruhig, dann zog er die Nadel aus der Armbeuge und stand auf. Er fühlte sich wackelig und seine Mundschleimhaut war ausgetrocknet. Suchend schaute er sich um und erkannte erst jetzt, dass er wieder in seiner Zelle war. Auf dem Tisch entdeckte er in der Dunkelheit den Schatten einer Karaffe, dorthin ging er. Zu seiner Freude war sie mit Wasser gefüllt und er konnte endlich seinen Durst löschen. Anschließend ging er zur Tür und rüttelte daran, drückte probeweise die Klinke und sein Erstaunen wuchs, denn sie war nicht verschlossen. Entschlossen ging er nun hindurch und schlich durch die Gänge. Zuerst schaute er in den hinteren Bereich der Hütte, ins Lazarett oder Labor, wie Tulla es nannte. Er verfehlte aber die Tür und landete in einem anderen Zimmer, es war so eine Art Kleiderkammer und Viktor verfiel kurz in Hektik. Dann besann er sich und ging systematisch vor. Rasch zog er sich aus und die teuren und qualitätsmäßig besseren Sachen an. Zusätzlich nahm er noch einige Kleidungsstücke zum wechseln mit. Er packte nur die besten und teuersten Sachen ein, superleichte und robuste Bergstiefel mit Goretex-Fütterung, dazu noch Thermoeinlagen. Goretex-Jacken und Berghosen, auch qualitätsvollere Unterwäsche fand er in einem Schrank. „Mensch, ich bin ein Glückskind“, sagte er vor sich hin, als er noch ein Regal mit Schlafsäcken fand. Auch hier nahm er sich einen heraus, griff nach einem Rucksack und verließ leise den Raum. Jetzt war er für einen Teil der Reise gerüstet. Er hatte vor, noch in dieser Nacht zu fliehen, jetzt würde es kein Zurück mehr geben. Leise huschte er durch den Korridor zum Hinterausgang, wo es, wie er richtig vermutete, zum Arsenal und zur Vorratskammer ging. Dringend brauchte er Nahrungsmittel, Wasser und Waffen.

Vorsichtig drückte er sich an die Wand und spähte um die Ecke. An eine Hauswand gelehnt erkannte er einen Wachmann, er hatte ein Sturmgewehr in der Hand, sah aber nicht so aus, als würde er sehr aufmerksam sein. Aber der Eindruck konnte täuschen. Viktor wartete noch einen Moment und als sich der Mann dem Lärm der cigany zuwandte, rannte er los. Es waren nicht mehr als zehn oder zwanzig Schritte und er hatte die Vorratskammer erreicht. Hier roch es nach Geräuchertem und anderen haltbar gemachten Lebensmitteln. Mit gutem Gespür fand er einen Schrank, in dem bereits verpackte Rationen, vorwiegend Trockennahrung, welche man nur noch mit Wasser anreichern musste, lagen, davon packte er ein, was in den Rucksack ging und füllte dann drei Wasserflaschen auf. Zu guter letzt und zu seiner großen Freude fand er noch einen handlichen Wasserfilter, der wanderte ebenfalls in den Rucksack. Nun war der Packen schon sehr viel schwerer, aber er wusste auch, dass er nur zu bald sehr leicht werden würde. Was jetzt noch fehlte, waren Waffen, solide Schusswaffen mit einer ordentlichen Reichweite.

Erneut schlich er in den Hof. Den Wachmann konnte er nicht sehen, dennoch blieb er vorsichtig, lauschte und spähte, denn er wusste, dass es keine zweite Gelegenheit geben würde. Wie lange er bereits hier im Lager von Jan Podorski war, wusste er nicht, er hatte auch nicht vor, es herauszufinden. Das Waffenlager war etwas außerhalb und durch einen Posten und einen elektrischen Zaun gesichert. In der Nische eines Felsüberhangs wartete er einige Zeit und das Glück stand ihm nach wie vor bei. Einer der Wachmänner bekam einen Funkspruch, woraufhin sich beide entfernten und ins Lager gingen. Viktor machte sich zu dem Zeitpunkt noch keine Gedanken darüber, freute sich nur über sein Glück und rannte zum Eingang, der ungesichert offen stand. Auch jetzt verschwendete er keinen Gedanken an diese Tatsache, die ihn bei klarem Verstand sofort stutzig gemacht hätte. Aber so war er nur von dem Wunsch beseelt, so rasch wie möglich von hier wegzukommen. Dieses Gebäude war wieder eines aus Stein, das in den Berg hineinragte. Im Inneren herrschte peinlichste Ordnung und er fand sich rasch zurecht. Das Licht seiner Taschenlampe ließ er über die Kisten und Regale gleiten. An einem Regal hielt er länger an und seufzte leise. Dieses Gerät gefiel ihm, nur war es für einen längeren Marsch zu schwer und auch die Raketen, waren zu lang und massig, um mehr als eins über eine lange Strecke zu tragen. Diese SA 24 Grinch war bei den Russen sehr bliebt und wurde gern für Hinterhalte verwendet. Sie waren relativ leicht und die Raketen brauchten nicht mit Zielfernrohr verfolgt und gesteuert zu werden, wie es bei den alten und billigeren Modellen oft der Fall war. Fast zärtlich strich er über das Gehäuse des Rohrs und wandte sich dann ab. Er bedauerte es zutiefst, keines mitnehmen zu können. ‚Hyrtl würde sich hier wohlfühlen, diese kleine Drecksau hat immer den Finger am Abzug’, dachte er mit einem Anflug von Sentimentalität. Seufzend ging er weiter und schließlich fand er, was er suchte. Reihe um Reihe modernste MGs und Sturmgewehre. Die Munition dazu befand sich nicht viel weiter weg in einem Schrank. Er wählte nicht lange aus, sondern griff nach einem Sturmgewehr der Marke HK 417. Deutsche Qualität hatte ihn schon immer beeindruckt und dieses Modell besonders, er hatte es einmal in einer Zeitschrift gesehen und wusste, dass manche Spezialeinheiten damit ausgerüstet waren, weil es leicht war und viele Funktionen vereinte. Dazu wählte er noch eine Maschinenpistole. Sorgfältig verstaute er seine Beute und schließlich ließ er noch einige Messer mitgehen, die in den Stiefelschäften und im Gürtel Platz fanden. Auch einige Packen C4-Sprengstoff fanden ihren Weg in den Rucksack und die dazugehörenden Zünder ebenfalls. Fünf Handgranaten wechselten noch in seinen Besitz, dann machte er sich leise auf den Weg. Aus Jans Zimmer hatte er eine Karte und eine leistungsstarke Taschenlampe mitgehen lassen und dem Lazarett fehlte jetzt ein Erste-Hilfe-Kasten. Er wusste, wo er hin wollte und machte sich sogleich auf den Weg zur Riesenmetropole am Bosporus, der Milliardenstadt Istanbul. Aber bevor er dem Dorf endgültig den Rücken zuwandte, sorgte er noch für etwas Ablenkung unter den Bewohnern.

Dass sein Tun schon mehrere Tage beobachtet und erwartet wurde, wusste er nicht, hätte er nicht einmal ahnen können. Seit dem Streit mit Jan hatte er niemand anderen als Hosni oder Tulla gesehen.

In einem abgedunkelten Raum standen sie beisammen: Jan, Goral, Hosni und Tulla. Sie beobachteten, wie Viktor die Siedlung über einen schmalen Trampelpfad verließ und sich noch einmal umwandte.
„Was hat er nur an Waffen mitgehen lassen? Soll ich ihn verfolgen oder zurückholen oder beides, der Typ ist eine Gefahr“, murrte Hosni ärgerlich. Er hatte sich ganz umsonst zum Affen gemacht und das machte ihn doppelt wütend. „Nein, Bruder, der macht genau das, was ich von ihm erwarte. Tulla?“ Die Frau wandte ihre Aufmerksamkeit einem PDA zu, nickte und seufzte innerlich. Lieber wäre es ihr gewesen, mit offenen Karten zu spielen. Aber so waren ihre Chancen größer, etwas zu bewirken. „Ich habe ihn“, murmelte sie. „Der Sender arbeitet exakt. Warum hast du im Arsenal keine Cams installiert?“, fragte sie nun, denn das war das einzige Gebäude ohne Wanzen in der gesamten Siedlung, nicht einmal die cigany waren davon verschont. Doch Jan grinste nur als Antwort, steckte die Hände in die Hosentasche und ging pfeifend hinaus. Doch die Melodie erstarb ihm auf den Lippen als er die Explosion hörte. „Verdammt! Dieser kleine Teufel hat das Arsenal in die Luft gejagt!“
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****ra Frau
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Pest, 76 n. U.
Trotz der sehr schlechten Fahrbahnverhältnisse, die sie immer wieder zu Umwegen zwangen, waren sie problemlos und ohne auch nur einmal angehalten worden zu sein, bis Pest gekommen.
Der Wagen holperte lautstark durch das schäbige Buda, ein Teil des ehemaligen Budapest. Hier war nichts wiederaufgebaut worden, lediglich die schlimmsten Löcher in den Straßen, welche von Granattreffern kündeten, waren mit Schutt aufgefüllt worden. Es schien aber auch niemanden zu interessieren, den Stadtteil wiederzuerrichten. Nicht einmal die wenigen hier noch in den Ruinen hausenden cigany hatten das Verlangen nach etwas Ordnung.

Die Spuren des Bürgerkrieges waren noch deutlich sichtbar. Selbst nach Jahrzehnten an der Macht, hatten es die Mullahs nicht geschafft, hier Ordnung zu schaffen. Hyrtl registrierte dies mit einem befriedigten Schnauben, es bestätigte seine Meinung über die Fähigkeiten der neuen Machthaber.

Die Magyaren hatten sich von allen Europäern am längsten an der Macht halten können, doch dann hatte sie das Schwert der Eroberer umso heftiger getroffen. Marodierende Banden und verfeindete Clans verschiedenster Gruppierungen, Religionen und Familien hatten sich in der Zeit des großen Chaos Schlachten geliefert, welche die Stadt in Trümmer gelegt hatten. Die politisch Verantwortlichen hielten sich weitestgehend heraus und griffen höchstens beschwichtigend ein, was immer wieder zu kurzen Ruhepausen führte, aber die Gewalt dann umso heftiger eskalieren ließ. Als dann die Friedgläubigen zahlenmäßig die Überzahl gewonnen hatten, war es zu spät für ein Gegensteuern und die Lage geriet vollständig außer Kontrolle, dazu kam die Bankrotterklärung des Staates, eine Währungsumstellung und die anschließende Inflation taten ihr Übriges dazu. Die Folgen waren bürgerkriegsähnliche Zustände, die sich landesweit ausweiteten und sämtliches Wirtschaftsleben zum Erliegen brachten.

Die Muslimbrüder verkündeten offen den Jihad und eröffneten die Jagd auf alle Ungläubigen. Die Regierungsgebäude wurden mit erbeuteten Granatwerfern beschossen, Polizisten niedergemacht und es wurde auf jeden gefeuert, der sich auf den Straßen zeigte. Für die Bevölkerung wurde das Leben zum Spießrutenlauf. Brücken wurden zerstört und die Donau konnte bald nur noch an einer Stelle überquert werden. Selbst hier mussten Polizei und Militär das Handtuch vor den Selbstmordattentätern werfen, die viele Soldaten mit in den Tod rissen. Die Krieger des Jihad waren bestens ausgerüstet und zahlenmäßig weit überlegen, sie überrannten Stellung um Stellung, dabei bejubelten sie laut die Größe ihres Gottes. „Allah u akbar“, hallte es durch die Straßen.
Für die einheimischen Truppen wurde es immer schwieriger gegen die verschiedenen Gruppierungen vorzugehen. Ihre Ausrüstung war zum Teil mehr als mangelhaft, der Nachschub schleppend und die ständig wechselnden Befehle der politischen Führung taten ein Weiteres dazu, die Männer zu verunsichern. Auch wurden die Truppen mehrmals an falsche Orte geschickt und gerieten dort in vermeidbare Hinterhalte oder sie waren weit ab vom Schuss und der Gegner konnte noch ein wichtiges Gebäude einnehmen, so wie es mit der Sendezentrale des bekanntesten Fernsehsenders geschehen war. Die Moral der Truppe sank stetig, aber noch gehorchten sie den Befehlen. Selbst als der Gebetsjihad zusätzlich weite Straßenzüge lahmlegte und sie nicht eingreifen durften, weil es sich um angeblich friedlich betende Menschen handelte, regte sich noch immer kein Widerstand. Selbst die Ureinwohner lehnten sich aus purer Bequemlichkeit nicht gegen diese Provokation auf, die eine Machtdemonstration war und den Leuten zeigen sollte, dass sie diesem puren Willen zu siegen, rein gar nichts entgegensetzen konnten. Erst als die Muslimbrüder die berühmte St. Stephans Basilika eingenommen hatten und der Muezzin vom Turm aus die Wahrhaftigkeit der Scharia und die Überlegenheit seiner Religion unter lauten Allah u akbar-Rufen verkündete, geriet Bewegung in die Massen.
Das Unausweichliche geschah: der Bürgerkrieg tobte in einer neuen Qualität. Jeder Gegenstand diente als Waffe, Menschen und Häuser brannten im Feuer der Rebellion. Freund und Feind waren kaum auseinander zu halten, so kam es, dass nahezu ein Viertel der Opfer auf „freundliches Feuer“ zurückging. Dazu kamen noch plündernde und streitbare cigany-Clans, die sich mit den Muslimbrüdern scharfe Gefechte lieferten, bis die cigany beinahe ausgerottet waren. Wenige überlebende Rajputs zogen sich in die Karpaten zurück und versteckten sich dort in den Bergen.

Es wurde gekämpft bis die Ressourcen aufgebraucht waren und die Christen das Handtuch werfen mussten. Die Kirchenführer hätten sich schon Jahre früher ergeben, wenn sich nicht ständig Widerstand unter den Gläubigen geregt hätte. Viele Bischöfe und der Papst hatten sich für ein friedliches Miteinander eingesetzt, bis der Erzbischof von Viyanna einen schmerzhaften Tod fand. Jemand hatte ihn an seiner Kutte aus dem höchsten Turmfenster des Stephansdoms in Viyanna gehängt, dort baumelte er und wurde langsam von seiner Amtskette erdrosselt. Die TV-Anstalten hatten die jubelnden Menschenmassen gefilmt, die unten gestanden waren und dem Tod des einzigen Kirchenfürsten verfolgt hatten, der sich für die Menschen einzusetzen gewagt hatte. Erst da gingen die Autochthonen Wiener geschlossen auf die Straßen und forderten eine gerechte Bestrafung der Täter, aber mehr als ein paar harte Worte fielen nicht. Zu viele Ressentiments gab es unter den einzelnen Gruppen, als dass sie einen Zusammenhalt gefunden hätten. Der Papst verurteilte zwar diese Tat, ließ es aber dann im Namen des Friedens auf sich beruhen. Auch jetzt wollte er die Leute noch beschwichtigen und redete ihnen im Namen Jesu ein, sich zu bescheiden und auch die andere Wange hinzuhalten. Ein beliebter Spruch war: „Welche Arschbacke darfs denn diesmal sein?“ Das war typisch wienerisch und nichts anderes als ein Ausdruck der Unzufriedenheit, der keine Handlung folgte.

Schließlich dankten auch in Budapest die politischen Führer ab und die Republik Ungarn war Geschichte.

In dem nachfolgenden Vakuum versuchten nationalistische Parteien und die Muslimbruderschaft gegenseitig die Macht an sich zu reißen. Die Einheimischen hatten auch jetzt noch nicht den Willen, sich durchzusetzen oder für ihre Rechte einzustehen, der Bürgerkrieg hatte zu viele Opfer gefordert und die Menschen waren durch Jahrzehnte einer falsch verstandenen Humanität weich geworden. Einige Drohgebärden und ausreichendes Säbelrasseln der Kalifen und Scheichs genügten und die schwer angeschlagenen Einheimischen gaben erneut nach, nicht einmal die Zeit des Bürgerkriegs hatte daran viel ändern können. Vielmehr hatte es einige besonders hartnäckige Führer in ihrer Meinung bestärkt, dass nachgeben die bessere Option sei. Die Lektion in Demut war in Europa gut gelernt worden.

Vehement riss die Bruderschaft die Regierungsgewalt an sich und sofort begannen sie mit den notwendigen Reformen. Schiedsgerichte und Scharia hebelten die alte Verfassung aus, die Menschenrechtskonvention der UNO wurde für null und nichtig erklärt, und es geschah das, was die Bruderschaft erwartete, nämlich nichts. Die Einheimischen murrten zwar ausgiebig über die Schlechtigkeit der Welt, hielten sich aber aus alter Gewohnheit an das neue Rechtssystem, welches alle Ungläubigen knechtete und Frauen generell zur Ware degradierte. Ohne es zu merken waren die Autochthonen zu Sklaven verkommen, die sich einen Teil ihrer Freiheit erkaufen mussten, taten sie das nicht, erwartete sie schwere Strafen bis hin zu einem schmerzhaften und lang dauernden Todeskampf.

Der neue Kalif, Achim Mohammed Tecim, setzte auch hier die Religionsbehörde, der eine gefährliche und sehr einflussreiche Splittergruppe namens Nurculuk angehörte, nach altem osmanischem Vorbild ein, welche sich der inneren Sicherheit des neuen Kalifats Magyarislam annahm. Die Nurculuk war eine der vehementesten Unterstützer der Missionierung, duldete keinerlei Kritik und schuldete nur den eigenen Führern Treue.
Fortan wurde jedes Fehlverhalten der Bürger sofort dem Schariarat gemeldet und die Urteile manchmal sogar noch vor Ort vollstreckt. Die harte Hand der Terrorbehörde sorgte für oberflächliche Ruhe und die Dhimmis verhielten sich unterwürfig. Widerstandsnester gab es nur wenige, welche schnell ausgehoben wurden, anschließend wurden die Anführer öffentlich hingerichtet und die Leichen zur weiteren Abschreckung oft tagelang zur Schau gestellt.

Hyrtl hatte kurz vor der Kalifatsgrenze seinen Panzer gegen einen Mowag Eagle mit Markierung des Pester Kalifats getauscht. Er hoffte, den Eagle behalten zu dürfen, wenn sie den Auftrag erfolgreich abschlossen. So ein Zweitwagen bot erhebliche Vorteile, zumal er im Innenraum etwas komfortabler war als der Luchs. Passend zum Fahrzeug hatte er noch die richtigen Uniformen besorgt und aus Celik zusätzlich vier halbwegs moderne MGs erpresst, dazu noch ein Scharfschützengewehr mit Schalldämpfer, alle anderen Waffen, hatte er aus dem Depot seiner Garnison mitgenommen. Der zuständige Offizier hatte zwar eine Augenbraue gehoben, als er die Bestellung gelesen hatte, dann aber widerstandslos die angeforderten C4 Sprengstoffpakete inklusive Zünder herausgerückt. Auf die Frage, warum er das im Urlaub benötige, hatte Hyrtl nur auf einen Brief des Ogernals verwiesen und es war umgehend Ruhe eingekehrt. Was er sonst noch brauchte, hatte er sich von zuhause mitgenommen. Seine Mutter hatte einen wahren Fundus an verschiedenen Kleidungsstücken, daraus hatte sich Hyrtl schamlos bedient.

Wachsam fuhren sie durch die Reste von Buda und überquerten dann die nur notdürftig reparierte Elisabethbrücke.

Auf der anderen Donauseite wandelte sich das Bild der Stadt. Hier war der Wiederaufbau in vollem Gang, zum Teil sogar schon abgeschlossen. Häuser waren instand gesetzt worden, auch die Stromleitungen lieferten die notwendige Elektrizität, um ein Mindestmaß an Komfort zu gewährleisten, auch wenn der Strom für einige Stunden am Tag abgestellt werden musste. Ebenso war die zerstörte Bahnverbindung nach Viyanna vor einiger Zeit repariert und anschließend mit großem Pomp wieder in Betrieb genommen worden. Das war einer der Gründe warum Hyrtl nun hier war. Der Ogeneral wünschte, den Chefverhandler des Kalifats Pest zu beseitigen, der für den Auf- und Ausbau der Infrastruktur verantwortlich zeichnete und auch die Wasserversorgung von Viyanna nach Pest koordinierte.

Hyrtl studierte die Informationen, die er in seinem PDA gespeichert hatte. Eben hatte er die neuesten Informationen von Talik erhalten und den Befehl, raschest möglich zuzugreifen. Hyrtl seufzte über diesen unnötigen Befehl, er wusste, was von ihm erwartet wurde und für einen erfolgreichen Zugriff brauchte es eben seine Zeit. Aber nun hatte er endlich erfahren wo die Zielperson wohnte und arbeitete, wo sie sich tagsüber und abends aufhielt, welche die bevorzugte Moschee war und welches Teehaus sie um die Mittagsstunde aufsuchte. Dennoch musste er sein Opfer erst genau auskundschaften, denn mit wem es diese Zeiten verbrachte, das wusste er noch nicht. Zwei Tage wollte er für diese Spähertätigkeit verwenden, dann wollte er einen Plan haben. Er wusste selbst, wie wichtig in dieser Sache die Zeit war und dass er so gut wie keinen Spielraum für Fehler hatte, was es schwierig und interessant gleichsam machte. Manchmal mochte er solche Herausforderungen. Diesmal war er sich nicht so sicher, wie es ausgehen mochte, denn alles schien mit allem zusammenzuhängen und der Tod des einen, den Tod des anderen zu bedingen. ‚Ich bin doch nur Feldwebel, das sollte mich nicht weiter kümmern’, dachte er und saugte an der Unterlippe. Dabei dachte er, welche Möglichkeiten sich ihm hier boten, ging wieder und wieder die Daten durch und studierte die Straßenkarten, die alle nicht mehr neu waren und durch die Umbauten in der Stadt hatte sich so einiges verändert, was die Aufklärung noch nicht erfahren hatte. Hyrtl fluchte innerlich, wollte aber seine Männer davon nichts wissen lassen. Die sollten von den Problemen jetzt noch nichts wissen und auch nicht von der Gefahr in der sie schwebten, sollten sie von Nurculuk-Männern enttarnt werden.
Eines war er sich aber gewiss, so sehr er seinen Schwager verachtete, den Großmufti hasste er aus ganzem Herzen. Dieser Mann leitete ein wahres Terrorregime und nichts und niemand war willens ihn zu bremsen, zumindest bekannte sich keiner offiziell dazu. Hyrtl saugte noch immer an seiner Unterlippe und machte dabei schmatzende Geräusche, es war ihm nicht bewusst, dass er das tat und erst als sich Hans vernehmlich räusperte, schaute er vom PDA auf. „Was?“, fragte er barsch. „Du hast geschmatzt, Chef. Gibt es was, das wir wissen müssen?“
„Nein. Lass mich lesen. Ich muss einen Plan entwerfen. Ruhe“, befahl er barsch und ärgerte sich gleichzeitig, weil er log. Es gab viel, was er seinen Männern sagen müsste, aber noch war nicht die Zeit dafür, wenn sie es denn jemals sein würde. Er lehnte sich wieder zurück und schloss die Männer, das Fahrzeug und die Gefahr aus.

Sigi lenkte den Mowag Eagle von der Erneuerungsstraße in die Erlösungsallee, dann drosselte er das Tempo als er vor sich Bewegung ausmachte. Zahlreiche Menschen versammelten sich auf der Straße und begannen andächtig, Gebetsteppiche auszulegen. Sigi wollte die Leute nicht über den Haufen fahren, also hielt er an. Der plötzliche Stopp schreckte Hyrtl hoch und er schaute sich um. „Was?“, fragte er erneut.
„Menschenmenge voraus.“
„Geh! Wo?
„Na da!“ Sigi zeigte nach vor und konnte es gerade noch verhindern, mit den Augen zu rollen. Manchmal war der Kommandant schon etwas eigen, wie er fand.
„Aha.“ Mehr war dazu nicht zu sagen.
Hyrtl richtete sich seufzend auf und schaute hinaus. Kurz überblickte er die Situation, dann befahl er: „Sigi, fahr mal langsam weiter und halt kurz vor der ersten Teppichfranse. Hans, du gibst mir nachher Rückendeckung und behältst diese Drecksäcke, im Auge. Man weiß ja nie, gell. Alf, du hältst die Klappe und denkst mal scharf nach, wen du hier kennst, falls dir jemand einfällt, dann funk ihn an. Wir könnten hier etwas bessere Tarnung gebrauchen, einer deiner Bekannten wäre hilfreich.“
Langsam rollte das Fahrzeug weiter bis es wenige Schritte vor der ersten Reihe zum Stehen kam.

Hyrtl wartete noch einen Moment, seufzte nachdenklich, setzte sich schließlich die Kappe auf und stieg aus.
„Mann, Mann, Mann, lauter Verrückte“, sagte er auf türkisch, was er sehr gut beherrschte, es aber nie einem Vorgesetzten gestehen würde, denn dann wäre er gezwungen, alle Befehle in dieser fremden Sprache zu hören und weiterzugeben und seine Tarnung als ein wenig geistig Zurückgebliebener würde auffliegen.
Wie es ihm zur Gewohnheit geworden war, prüfte er den Sitz seiner MP 7 bevor er sich auf den Weg machte und vor der ersten Reihe stehenblieb, gerade als der Imam mit dem Gebet begann und sich die Betenden auf die Erde warfen. Diese Art des Jihad kannte er noch von Linksufer, wo es immer einige provokante Aufzüge dieser Art gegeben hatte, bis er sich den Befehlen widersetzt und das Pack von der Straße vertrieben hatte.
Wie überall auch fühlte sich hier war niemand bereit, sich gegen diese Belästigung zu wehren. Hyrtl bemerkte, dass in den umliegenden Häusern Fenster geschlossen und Vorhänge zugezogen wurden. ‚Feig wie überall’, dachte er angewidert und spuckte aus. Unabsichtlich traf sein Sputum einen Mann am Hinterteil, was er durchaus passend fand. Dennoch schienen sich die Betenden von seiner Anwesenheit nicht im Mindesten stören zu lassen. Das wiederum nervte Hyrtl nach einiger Zeit. Aber noch wollte er es nicht auf einen Eklat ankommen lassen, hier waren zu viele Zivilisten, wobei er bei diesen Männern nicht sagen konnte, wer tatsächlich Zivilist war, dazu kam noch, dass er die Mission nicht durch eine unbedachte Handlung gefährden durfte. Ungeduldig ging er herum, dann blieb er neuerlich stehen, zählte kurz durch, kam auf dreißig Mann und zu dem Schluss, sich hier keinen Spaß zu erlauben. Die Zeit drängte, aber er wollte versuchen, die Religionsbehörde und Nurculuk mit ins Spiel zu bringen, er brauchte eine weitere Partei, welcher er die Schuld an dem Anschlag, den er plante, geben konnte. Neben der Religionsbehörde gab es noch die normale Polizei, die offiziell für die Verkehrsüberwachung zuständig war, inoffiziell aber auch Verbrechensbekämpfung betrieb. Beide Behörden arbeiteten manchmal zusammen, die Verkehrspolizei befand sich aber auf einem subtilen Kriegsfuß mit der Religionsbehörde, da diese immer die bessere Ausrüstung bekam und mehr Handlungsspielraum hatte, dafür aber weniger wirkliche Verbrecher fasste. Nurculuk stand beinahe außerhalb des Gesetzes und war somit ein gefährlicher Gegner, auf die musste er aufpassen. Aber er hatte die Gruppe in Viyanna, wo sie Filialen betrieben, kennen gelernt und wusste wie er sich ihnen gegenüber zu benehmen hatte, um nicht aufzufallen. Neben diesen drei Gruppen gab es noch einige kleine religiöse Splittergruppen, die sich einen Vorteil erhofften und Geld, vor allem Geld und Immobilien, denn die waren momentan billig zu bekommen. Missionierung musste sich eben auch hier auszahlen.
Schließlich nahm er seinen Marsch wieder auf und ging vor der ersten Reihe der Betenden herum. Angestrengt überlegte er, wie er diesen Anachronismus für sich ausnutzen konnte. Vorrangig musste er herausbekommen, welcher der vielen Strömungen diese Gruppe hier angehörte, dann erst konnte er entscheiden, wen er darstellen wollte.

Der Singsang der Männer und die dazupassenden monotonen Bewegungen gingen Hyrtl gewaltig auf die Nerven, deshalb ging er zu dem Mann, den er für den Imam hielt und packte ihn an der Schulter.
„Aufstehen und mitkommen“, befahl er barsch. Noch bevor er den Mann in der Höhe hatte, standen schon zehn der anderen Männer um Hyrtl und bedrohten ihn mit Messern. Doch Hyrtl schüttelte stumm den Kopf und deutete zu seinem Fahrzeug. Dort zeigten die Mündungen von drei MGs in ihre Richtung, was die Männer dazu zwang, ihre Messer wegzustecken. „So ist es besser“, meinte Hyrtl mild. Der Imam zischte etwas, das Hyrtl als Beleidigung verstand, doch er überging es lächelnd. „Was bist du?“, fragte der Geistliche überheblich. Doch auch das überhörte Hyrtl geflissentlich, ebenso eine weitere Beleidigung. Mit sanftem Nachdruck führte er den Mann an den Eagle heran und wies auf seine Männer, dabei tat er so, als wäre der Wagen brechend voll mit Soldaten, die nur darauf warteten, herauszustürmen. „Imam, siehst du, das sind einige meiner Männer, die haben Schießbefehl, wenn ich hier nicht weiterkomme.“ Die imposante Gestalt des Imams richtete sich auf und Hyrtl erkannte, dass er es hier mit einem Veteranen des Glaubenskrieges zu tun hatte, einem Eiferer. Die Narben im Gesicht sprachen Bände, auch dass ihm ein Ohr fehlte, machte deutlich, dass er Erfahrung im Nahkampf hatte. Der Mann zwang ihn, sich eine Rolle auszudenken, die ihm gar nicht passen wollte. Die Religionsbehörde konnte er nicht repräsentieren, das wäre zu einfach zu überprüfen, denn die Männer waren alle registriert. Nurculuk kam als einzige noch in Frage, die war berühmt genug und hatte zahlreiche nicht registrierte Mitglieder in allen Staaten und Kalifaten dieser Erde. Dazu galten sie als außergewöhnlich militant und reich. Schweren Herzens entschied er sich dafür, ein Mitglied dieser Bewegung zu sein. Die Ausrüstung sprach auch eindeutig für eine finanziell starke Gruppierung, deshalb beugte er sich zu dem Mann und flüsterte ihm nur ein Wort ins Ohr: „Kardeş”, was Bruder bedeutete. Das saß, er sah wie dem Mann die Farbe aus dem Gesicht wich und wusste, er hatte ins Schwarze getroffen.
Diese Leute hier bildeten eine kleine Splittergruppe, entstanden aus Neid und Gier, die sich in diesem Viertel festgesetzt hatte und die Nachbarschaft terrorisierte und erpresste. Das gedachte er sofort in seine Pläne einzubauen. Also redete er rasch weiter, bevor er den gedanklichen Faden verlor: „Imam, ich weiß, meine Brüder sind nicht leicht zu ertragen, aber du wirst dich mit ihnen arrangieren müssen. Geh in die Moschee und bete dort mit deinen Leuten. Du wirst sehen, über kurz oder lang, kommt hier jemand her, der nicht so geduldig ist, wie ich. Du wirst ab heute jeden Freitag mit deiner Gemeinde das Gebet in der Moschee verrichten. Haben wir uns verstanden?“ Der Imam blickte auf die MGs und schluckte. Er wusste nur zu gut, was so ein Gewehr anrichten konnte und seine Männer hatten diesmal auf die Mitnahme von Schusswaffen verzichtet, weil sonst nie etwas passierte. Hyrtl sah, wie dem Mann der Schweiß ausbrach und sich Perlen auf der Stirn bildeten, die sich an der Nase sammelten und dort hinabtropften. „Du musst nicht nervös sein, Imam, Bruder.“ Sanft legte ihm Hyrtl eine Hand auf den Unterarm und drückte dann etwas zu. Der Imam schaute zuerst auf die Hand und dann in Hyrtls offenes, freundliches Gesicht. „Gegen Leute wie dich, habe ich gekämpft, Männer wie du, Soldat, sind es nicht wert, meinen Glauben zu teilen“, erklärte der Imam entschieden und wollte sich trotz seiner Angst vor der Behörde, wegdrehen. Daraufhin änderte Hyrtl den Ton von mild in scharf. „Dir gefällt mein Äußeres nicht und mir missfällt dein Ton, Imam. Falls du deine Feindseligkeit beibehältst, wird es hier ebenso zu Säuberungen wie in Viyanna kommen. Muss ich mir Sorgen um die Brüder hier machen?“ Er legte eine Arroganz in seine Haltung und Worte, die selbst den Ogeneral überrascht hätte, er hatte auch keinerlei Bedenken über die sogenannten Säuberungen in Viyanna zu lügen. Lügen hatte er schon früh gelernt und auch, sie zu durchschauen. Die Gegner machten es ebenso und nannten es Taqiyya. Also redete er dahin, mal mild, dann wieder scharf, immer das Gleiche in anderen Worten und ließ dem Imam keine Zeit mehr zum Antworten. Schließlich glaubte der Imam selbst, es wäre besser, in der Moschee zu beten und das fortan so zu halten. „Eine weise Entscheidung, Bruder. Ich wünsche dir und deinen Männern alles Gute, inshallah sehen wir uns nächsten Freitag beim Gebet, Bruder-Imam.“ Während des gesamten Gesprächs waren die MGs auf den Imam und dessen Glaubensbrüder gerichtet gewesen, was eine zusätzliche Entscheidungshilfe für den Imam bedeutet hatte. Hyrtl beobachtete, wie der Geistliche seine Kappe abnahm, sich den Schweiß von der Stirn wischte, um sich dann an seine Schar zu wenden. Eine Weile war nur ein wildes Durcheinander zu hören und zu sehen. Einige wollten die Teppiche aufrollen, andere hinderten sie daran. Es wurde heftig diskutiert und schließlich wirkten die Argumente des Imams, so wie sie es immer taten. Trotzdem vergingen noch einige Minuten, bis sich die Straße zu leeren begann und endlich, insgesamt hatte diese Aktion über eine Stunde gedauert, waren die Leute weg und Hyrtl stieg ein. Noch gab er nicht den Befehl zur Abfahrt.

Sein Zeitplan stand jetzt fest, er musste nur noch seine Zielperson dazu bringen, sich daran zu halten und genau das zu tun, was er wollte. Das würde das wirklich Schwierige werden.

Sigi wartete geduldig und räusperte sich schließlich auffallend laut. „Feldwebel, wo soll ich uns denn hinfahren?“ Das brachte Hyrtl aus seinen Grübeleien und er schaute auf. „Zur Garnison, wir müssen unsere Tarnung aufrecht halten. Alf, wie sieht es mit deinen Bekannten hier aus?“
„Hab einen, ist sogar bei den Bullen. Ich ruf ihn gleich an.“ Hyrtl griff in eine Tasche und zog ein Wertkartenhandy heraus, das warf er Alf zu, der es gekonnt auffing und sofort wählte.
Sigi wartete noch mit dem Start der Maschine, denn er wollte das Gespräch nicht stören. Währenddessen spähte Hans aus den Fenstern und beobachtete, wie sich die Fensterläden wieder öffneten und bleiche Gesichter hinter den Scheiben zu erkennen waren. Traurig schüttelte er den Kopf, dennoch ließ seine Aufmerksamkeit nicht nach. Nachlässigkeit konnte im Feindesland den Tod bedeuten und für die kleine Truppe war alles Feindesland.
„Attila, schön dich zu hören!“, rief Alf schließlich, dann war es eine Weile still und sie hörten nur das Schnaufen des Kameraden. „Klar doch, Attila, ich habe dich nicht vergessen und auch nicht …“ Er wurde unterbrochen und grinste breit. „Dann sind wir quitt, Alter. He, du willst doch diesen kleinen Bastarden auch mal wieder zeigen, was ein wahrer Hunne ist.“ Wieder eine kleine Pause, Alf wischte sich den Schweiß von der Stirn, im Wagen war es warm und das Gespräch anstrengend. „Warte, ich frag mal“, meinte er schließlich und wandte sich an Hyrtl. „Chef, haben wir nicht einen kleinen Anreiz für meinen zögerlichen Freund?“
Hyrtl stemmte die Hände in die Hüften und funkelte das Handy wütend an. „Gib mal her das Ding, ich möchte mit diesem Attila reden.“ Er wartete keine Antwort ab, sondern fasste sofort nach dem Telefon und sagte: „Ja oder nein. Es gibt nur diese zwei Optionen. Entweder du bist ein Freund oder ein Feind – mit letzterem kenne ich keine Gnade und ich weiß, wo deine Familie wohnt. Überlege schnell und gut. Alf ruft dich in fünf Minuten wieder an.“ Er drückte einen Knopf und gab Alf das Gerät zurück, dann blickte er auf die Uhr und nickte. „Anreiz genug? Ich bin diese Scheiße leid. Fahr los, Sigi.“ Der Eagle setzte sich in Bewegung, fuhr über die nun freie Straße auf den Heeresstützpunkt zu. Nach genau fünf Minuten ließ Hyrtl erneut halten und Alf wählte wieder die Nummer seines Freundes. Er gab Hyrtl das Telefon und dieser redete gar nicht lange um den heißen Brei herum, sondern fragte lediglich: „Ja oder nein?“
„Ja“, hörten sie es aus dem Handy schallen. „Was soll ich tun?“
„Wir brauchen ein ziviles Quartier und ein Zivilfahrzeug.“
„Ich organisier euch was. Gebt mir bis zum Abend Zeit.“
„Du hast genau zwei Stunden, bevor ich mich wieder bei dir melde.“
„Soll ich nicht euch anrufen, wenn ich …“
„Nein, kein Nummerntausch.“ Rasch legte er auf, manchmal tat es ihm Leid, so hart zu sein. Aber sein Auftrag duldete keine Sentimentalitäten. Weichheit hatte sie erst in diese Situation gebracht. Oft überlegte er was wohl aus Europa geworden wäre, wenn die Leute nicht so schwach gewesen wären und sich nicht von einem unnötigen Schuldkomplex knechten hätten lassen. Jedes Mal wenn er an diesem Punkt angelangt war, wurde sein Blick hart und er entschied für sich, es in seinem Leben nicht dazu kommen zu lassen. Er würde sich für nichts schuldig fühlen, was getan werden musste, musste getan werden und er wollte sich nicht von fremden Schulden belasten lassen. Lediglich für sich selbst und seine Männer stand er ein. Befehle befolgte er, wie es die Not gebot und manchmal formulierte er sie so um, dass sie in sein Konzept passten. Die Order des Ogenerals befolgte er dennoch meistens punktgenau, sie waren gut durchdacht und ausführbar. Celik wusste, was er an Hyrtl hatte und wie er seine Angaben formulieren musste, um von seinem Schwager das bestmögliche Ergebnis zu bekommen.

Es dauerte nicht lange und Sigi lenkte den Eagle in die Zufahrt des Stützpunkts. Vor dem Schlagbaum hielt er an. Der wachhabende Soldat näherte sich ihnen und fragte nach den Papieren. Hyrtl öffnete das Fenster und blickte den Mann scharf an, musterte ihn von Kopf bis Fuß, dann hielt er ihm vier Soldbücher vors Gesicht und setzte auf die Kraft seiner Autorität. „Herr Hauptmann, ich möchte die Papiere genauer ansehen.“ Hyrtl schnaubte zornig. Mit einem dienstbeflissenen Gefreiten hatte er nicht gerechnet. Herrisch wies er auf seine Abzeichen und brüllte in bester Offiziersmanier: „Sie öffnen jetzt den Schlagbaum, Onbaşı, und dann werde ich mich um Ihre Befehlsverweigerung kümmern! Und melden Sie mich dem Kommandanten dieser Einheit von Feiglingen. Korkalar!“ Das arrogante Auftreten und die Kennung am Fahrzeug wirkten schließlich und der Gefreite führte die Befehle aus.

Sigi fuhr sie zielsicher zur Kommandantur und parkte dann direkt vor dem Tor im Halteverbot. Der Fahrer hatte seine Lektion gut gelernt, dass Hyrtl immer vorne war, auch was Parkplätze betraf. Der vermeintliche Yüzbaşı Hürt ging vor seinen Männern, beinahe im Sturmschritt liefen sie auf die Tür zu und noch bevor sie ein weiterer Gefreiter aufhalten konnte, waren sie durch und standen vor dem Büro des Kommandanten. Energisch klopfte Hyrtl an, wartete nicht, sondern öffnete sogleich. Das Büro verschlug ihm fast die Sprache, die Einrichtung war gediegen, uralt und prächtig zu nennen, dazu kamen noch ein großer Monitor, der an der Wand hing und verschiedene andere technische Geräte, die Hyrtl stutzig machten. Diese Einheit schien Geld zu haben. ‚Nurculuk’, dachte er. ‚Wir sind direkt in die Höhle des Löwen gefahren.’ Er beglückwünschte sich zu seiner Weitsicht, die sehr teure Ausrüstung verlangt zu haben und auch den relativ modernen Eagle, ein Beutestück noch aus Bürgerkriegszeiten, den sie aufgerüstet hatten.

„Yüzbaşı Hürt“, stellte er sich vor und salutierte stramm. Seine Männer taten es ihm schweigend gleich. Verärgert betrachtete sie der Befehlshaber, ein schmaler Mann mit grünen Augen, die zu leuchten schienen. Hyrtl hielt den Mann vom ersten Blick an für gefährlich, gerade weil er so unscheinbar wirkte.
„Rühren und nun Ihre Papiere“, befahl der Kommandant wobei er mit dem Fingernagel des rechten Zeigefingers auf die Tischplatte klopfte. Hyrtl griff in die Jackentasche und nahm den fingierten Befehl heraus. Es stand nicht viel darin, nur dass sich der Kommandant des örtlichen Militärstützpunktes verpflichtete, den vier Männern Quartier zu geben und ansonsten zu vergessen, dass sie hier gewesen waren. „Ihre Mission“, verlangte der Kommandant zu wissen.
„Geheim“, antwortete Hyrtl knapp.
„Ohne Informationen kann ich nichts machen.“
„Wir unterstehen nur der Führung in Ankara und ich werde meine Befehle ausführen, Mann. Es ist mir gleich, welchen Rang Sie hier bekleiden, für Ankara zählt das nicht. Sie wissen, von wem die Rede ist, Kardeş.” Daraufhin herrschte eine Weile Stille. Hyrtl hatte sich erneut zu seinen Männern gestellt und wartete mit auf dem Rücken verschränkten Händen. Er sah aus wie jemand, der es nicht gewohnt ist zu warten, seine ganze Haltung zeigte Arroganz und einen starken Willen, seine Befehle auszuführen, koste es was es wolle. Dagegen wirkte der Kommandant nun immer unsicherer. Ständig wanderte sein Blick von Hyrtl zum Brief und nachdenklich betrachtete er die drei Begleiter des Hauptmanns, die sich nicht an das Verbot gehalten hatten und ihre Bewaffnung trugen. Ein wenig neidisch blickte er auf die MGs, es waren Präzisionsgewehre, leicht und zielsicher. Die Vier schienen ein gut eingespieltes Team zu sein, welches bereits mehr als einen erfolgreichen Einsatz hinter sich hatte. Schließlich meinte der Kommandant: „Na schön. Ich brauche dennoch einige Informationen.“
„Sie brauchen nichts weiter zu wissen“, antwortete Hyrtl arrogant. Er sah, wie die Gesichtsfarbe des Kommandanten zuerst rot und dann weiß wurde und er befürchtete bereits, den Bogen überspannt zu haben. Dann wirkte aber sein Auftreten. „Wir brauchen ein Quartier und Verpflegung für einige Tage, das ist alles und das werden Sie uns gewähren, oder ich melde Sie nach Ankara, Kardeş.“ Noch immer fürchtete er den Zorn des Kommandanten, aber er ließ es sich nicht anmerken. Seine Handinnenflächen waren schweißnass als er erneut einen Schritt auf den Kommandanten zu tat: „Ich warte. Én várok, Testvér!” Noch immer überlegte der Oberst und trommelte auf die Tischplatte. Immerzu fühlte er Hyrtls Blick auf sich ruhen, er schien sich regelrecht in ihn zu bohren. So gab er schließlich nach und sagte: „Geht zum Quartiermeister. Meinem Bruder werde ich natürlich helfen.”
„Ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung, Oberst Horvath. Ankara wird natürlich über Ihre Mitarbeit informiert.” Damit drehte sich Hyrtl um und ging gefolgt von seinen Leuten aus dem feinen Büro.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Nächster Teil ... noch immer: Pest 76 n. U.
Ein Leutnant erwartete sie bereits und führte sie zu einem leerstehenden Gebäude. Er stellte sich als Antal Kiss vor und schien eine regelrechte Plaudertasche zu sein. Er redete über die Garnison in Pest, erzählte über die Probleme, die es mit den Einheimischen gab und warum sich viele weigerten, der neuen Einheitspartei beizutreten. „Mutmaßungen, Herr Hauptmann. Wie sieht man in Ankara ...?”

„Ruhe! Ich habe Sie nicht um Ihre Meinung gebeten. Wenn ich was wissen will, dann frage ich Ihren Oberst und nun zeigen Sie uns das Quartier. Und verdammt noch mal, halten Sie die Klappe!” Das saß. Hyrtl wusste genau, dass der Leutnant ihn aus der Reserve hatte locken sollen, oder einen seiner Männer, aber die waren genau eingewiesen und schwiegen, außerdem wussten sie ohnehin nichts.

Es dauerte nicht lange und sie waren in einem allem Anschein nach schon längere Zeit unbewohntem Trakt eines langgezogenen Wohngebäudes untergebracht. Trotzdem wirkte es auf den ersten Blick modern und beinahe luxuriös.

„Danke, Sie können gehen Teğmen“, bellte Hyrtl, als sie endlich die ihnen zugewiesenen Räume erreicht hatten, sogleich schob er den verdutzten jungen Offizier vor die Tür und schloss sorgfältig ab. Sie staunten nicht schlecht, als sie das Quartier erkundeten. Die Männer waren aus der Kaserne in Poltern schlechteres gewöhnt, doch hier gab es fließendes Warm- und Kaltwasser und Duschen in den Schlafräumen. Das fanden sie bemerkenswert. Hans ließ sich als erster darüber aus, doch noch bevor er seine Freude darüber vollständig artikulieren konnte, gebot ihm Hyrtl mit einer energischen Geste, zu schweigen.

Er bedeutete den Dreien, die Taschen abzustellen und das Quartier zu durchsuchen. Tatsächlich fanden sie fünf Abhörgeräte und vier Minicams. Hyrtl grinste wie eine Katze vor dem Sahnetopf, hielt sich eine Kamera vor die Nase und sagte: „Ja, Freunde, so kann man es auch vergeigen, das sind gute Nachrichten für Ankara, wenn ihr euch hier gegenseitig ausspioniert. Danke für die Informationen. Und jetzt sagen Sie Ihrem Adjutanten, dass er uns Kaffee bringen soll und zwar bir defada.” Anschließend warf er das Gerät zu Boden und trat darauf, ebenso verfuhr er mit den anderen Wanzen. Befriedigt wandte er sich schließlich an die Kameraden und meinte, als diese nur betreten zu Boden blickten: „Was ist los? Probleme?”
„Nö, passt scho”, wagte schließlich Hans zu antworten. „Wir fragen uns nur ...”, vorsichtig geworden unterbrach er sich, machte eine vage Handbewegung, blickte auf die zertretenen Wanzen und fügte rasch hinzu: „Keine Probleme, Yüzbazi!” Hyrtl grinste, schaute kurz zu Boden und dann jedem einzelnen seiner Männer ins Gesicht. Er fand in den Blicken seiner Leute eine bittere Entschlossenheit, sie wussten anscheinend, dass es diesmal ein ernster Auftrag war und dass es nicht bei diesem einen bleiben würde, dafür sprach schon die gute Ausrüstung, die sie erhalten hatten.

„Ihr bekommt schon noch Antworten. Erst einmal Kaffee und Kuchen, da kommt ja schon unsere Ordonanz und dann haben wir einen Termin.“ Er schaute auf seine sündteure Uhr, sie war ein Geschenk eines guten Freundes aus der Schweiz, dem er einmal bei einer schief gelaufenen Protestaktion aus der Patsche geholfen hatte. Das war kurz vor seiner Zeit beim Militär gewesen und die Integration der Kuffar ins System erst am Anlaufen. Zu dieser Zeit gab es noch den einen oder anderen Widerstand gegen die Zivilbesatzer und deren Vorhaben der Homogenisierung Europas und einer Umbenennung in Eurabia. Zwingli hieß der Mann, er war Uhrmacher und besaß in Zürich eine kleine Goldschmiede.
Als Hyrtl nun das Ziffernblatt mit den ungewöhnlichen römischen Ziffern betrachtete, dachte er an den Mann, der ihm seit siebzehn Jahren jeden Dezember eine Karte mit Grüßen zum Christfest schickte. Hyrtl tat es ebenso. ‚Herr Zwingli, das waren noch Zeiten’, dachte er, ließ sich Kaffee einschenken und musterte noch einmal die Uhr. Sie war ein Unikat und unbezahlbar, hatte ein Federwerk, das nicht auf Batterien angewiesen war, sondern täglich aufgezogen werden musste. Für Hyrtl war das anfangs gewöhnungsbedürftig gewesen, doch jetzt war es ihm ein schönes Ritual geworden und mit dieser Tätigkeit hatte er schon den einen oder anderen Widersacher verunsichern und sich selbst ablenken können.

Während er den Kaffee trank und abwechselnd seine Männer und die Uhr ansah, überlegte er, wie es Zwingli wohl gehen mochte. ‚Norbert’, dachte er. ‚So hieß er. Mann, hab schon lang nichts mehr von ihm gehört.’ Dann sah er ihn vor seinem geistigen Auge, wie er vor einer christlichen Kirche gestanden hatte, ein Megaphon in der Hand und aus der Bibel vorlas, während auf der Straße gegenüber eine große Anzahl an Friedgläubigen vor ihrer Moschee knieten und beteten. Hyrtls Mutter hatte ihn damals nach Zürich geschickt, um die Welt außerhalb des Kalifats Viyanna kennen zu lerne. Doch gesehen hatte er nicht viel, denn er hatte sich sofort mit den Behörden angelegt, indem er Norbert Zwingli beigestanden war, als die Friedgläubigen vor Zorn über die Unterbrechung ihres Gebets die Straße überquert hatten und den einsamen Mann mit dem Megaphon bedroht hatten, doch der hatte unbeirrt weitergesprochen. Neben ihm war eine junge Frau gestanden, die leise gesungen hatte, das Haar provozierend blond und offen getragen. Auch sie hatte Hyrtl nun vor Augen, aber an ihren Namen konnte er sich nicht mehr erinnern, lediglich die Erinnerung an ihre Kurven trieb ihm noch den Schweiß auf die Stirn und das Blut in die Lenden. Doch jetzt sah er den schmalen Uhrmacher, der sich für seinen Glauben eingesetzt hatte.
Heftig blinzelte er die Erinnerung weg, denn ihre Gefangennahme war nicht gerade angenehm gewesen und er hoffte, so etwas nicht mehr erleben zu müssen. Es war sein Glück gewesen, dass niemand nach Viyanna gemailt hatte, sonst hätte er gar nicht erst den Dienst antreten dürfen. Nach drei Tagen Haft waren er und Zwingli entlassen worden. Dafür hatte Hyrtls Bruder Adolf gesorgt, ein hervorragender Rechtsanwalt.

Hyrtl blinzelte sich in die Gegenwart, trank den Kaffee in einem Zug, griff nach einem Stück trockenen Marmorkuchen, der auch schon bessere Zeiten erlebt hatte und winkte dann seinen Männern.
„Yüzbazi?“, wagte Sigi eine Frage zu beginnen, doch Hyrtl winkte neuerlich nur ab und deutete vielsagend in diverse Ecken des Zimmers. Er war sich nicht sicher, ob sie tatsächlich alle Abhöreinrichtungen erwischt hatten. Die Bruderschaft war gut, sonst wären sie nicht so mächtig geworden, und Vorsicht im Umgang mit ihnen war oberstes Gebot.

„Wir fahren aus“, befahl er nur, schnappte einen Rucksack, den er Hans in die Hand drückte und stapfte voraus. Schnurstracks ging er zum Eagle und stieg ein. Erst als der Motor brummte, kramte er das Handy hervor und wählte erneut die Nummer von Attila. Nach kurzer Zeit bellte er ins Handy: „In zehn Minuten an der Elisabethbrücke.“ Danach war es eine Weile fast ruhig, nur das Gedröhn des Motors und Hyrtls genervtes Schnauben waren zu hören, ehe er brüllte: „In zehn Minuten, alles andere später.“ Hyrtl war schon immer ein schwieriger Charakter und neigte zu cholerischen Wutanfällen, aber diesmal war es anders. Ständig wirkte er, als würde er unter Strom stehen, war angespannt und konzentriert, was seine Befehle äußert bedrohlich klingen ließ. Seit er die Order zur Beseitigung des Großmuftis erhalten hatte, war ihm nicht mehr wohl in seiner Haut. Einerseits sah er die Wichtigkeit des Auftrags ein, andererseits fühlte er sich dem noch immer nicht gewachsen. Für sich meinte er, nicht wirklich geeignet zu sein, zu wenig wichtige Leute zu kennen, die ihm helfen konnten, wenn er Unterstützung benötigte. Noch wusste er nicht, wie der den Mann beseitigen sollte. Dagegen wirkte die Sache in Pest beinahe wie ein Spaziergang. Aber auch hier durfte er nicht pfuschen, es war der erste wirklich große Auftrag, alles andere war dagegen Kinderkram gewesen. Er hatte vor, sich das alles sehr gut bezahlen zu lassen. Diese Gefahren wollte er nicht umsonst ausstehen.

Bevor sie ans Ziel kamen, verteilte Hyrtl Funkgeräte, die sich jeder ins Ohr steckte und die kaum zu sehen waren. Von diesen Teilen gab es nicht mehr sehr viele, sie waren ein Geschenk Celiks, so eine Art Zugeständnis, dass es sich eigentlich um eine nachrichtendienstliche Sache handelte. Die meisten dieser kleinen Dinger waren während der Bürgerkriege verloren gegangen und bislang war keiner auf die Idee gekommen, die Produktion wieder hochzufahren.
„Die Abwehrprogramme sind installiert, sind sogar besser als die im Luchs“, sagte Alf und gab nebenbei einige Daten in seinen Computer ein. „Sehr schnell dürften wir nicht gefunden werden, aber du weißt selbst, dass im Prinzip nichts sicher ist.“
„Gut gemacht, Alf, lassen wir es vorerst so.“ Er klopfte seinem Funker anerkennend auf die Schulter, dann meinte er: „Alf und ich gehen raus, Hans du gibst uns Rückendeckung und Sigi lässt den Motor laufen. Ich will im Notfall schnell weg von hier.“ Seit seinem letzten Gespräch mit Celik traute Hyrtl keinem mehr. Auch die vorhergehenden Verabredungen mit dem Schwager waren sonderbar und streng geheim gewesen, doch dieses letzte hatte alles übertroffen. Er wollte nicht mehr daran denken.

Am Brückenkopf hielten sie, durch die Markierung am Wagen sah alles amtlich aus und sie fielen nicht auf. Hans spähte die Umgebung aus, nach einer Weile sagte er: „Alles sauber. Ihr könnt raus. Merkt euch halt wo wir stehen, falls Nebel aufkommt.“
„Tja, der Nebel an der Donau. Ich hoffe, dein Freund ist pünktlich, Alf.“
Sie waren kaum ausgestiegen, da kam schon ein grüner Kombi auf sie zu und hielt auch gleich. Kurz darauf stieg ein Mann in graublauer Uniform aus, bis auf einen altertümlichen Schlagstock war er unbewaffnet, zumindest konnte Hyrtl auf den ersten Blick nichts entdecken, das gefährlich gewirkt hätte. Also ging er weiter, Alf dicht hinter sich wissend, auf den fremden Polizisten zu. Wartend stand der da und ließ sich von Hyrtl mustern. Er war nicht wesentlich kleiner als der vermeintliche Hauptmann, ebenso glatt rasiert und hatte sehr dunkle, nach hinten gekämmte Haare, die knapp unterhalb der Schulter geschnitten waren. Hyrtl beachtete jede Regung seines Gegenübers, erst als dieser die Hand zum Gruß ausstreckte und sich vorstellte, entspannte er sich ein wenig.
„Yüzbazi Hürt, es ist mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein“, sagte Attila im stockenden Türkisch, nachdem er seinen Namen genannt hatte.

„Ich danke Ihnen, Herr Szeged“, entgegnete Hyrtl ebenfalls in dieser Sprache und redete dann auf Deutsch weiter. „Also, Attila, lassen wir die Höflichkeiten, ich bin Hürt, mehr brauchst du nicht zu wissen.“ Dann wandte er sich an Alf und befahl: „Geh zum Wagen und kontrollier ihn, leuchte alles aus und vergiss nicht, die Waffe zu ziehen, bevor du die Nase reinsteckst, dein Freund hier, wird mir in der Zwischenzeit Gesellschaft leisten.“ Gehorsam machte sich der Funker an die Arbeit.

„Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, nicht wahr, Hürt? Ich würde es nicht anders machen, du kennst mich nicht, hast nur mein Wort und das eher unwillig.“ Zustimmend brummte Hyrtl, danach war es einige Zeit still, nur der Motor des Eagle war zu hören, Alf, der den Wagen durchsuchte und unter ihnen das Rauschen der Donau.
„Sauber!“, rief Alf schließlich. Hyrtl war erleichtert, nahm Attila am Ellbogen und ging mit ihm zum Wagen. „Du fährst.“ Danach sprach er kurz mit Hans und befahl ihnen, in die Kaserne zurückzukehren und auf weitere Befehle zu warten.

Im Wagen waren sie ruhig. Hyrtl hätte gerne gewusst, wo die Fahrt hinging, fragte aber nicht, hielt nur den Blick starr geradeaus und die Hand auf der MP. Eben diese Geste verursachte Attila eine Gänsehaut. Er konnte diesen fremden Mann nicht einschätzen, hatte aber trotzdem das Gefühl, von ihm Hilfe in einer bestimmten Sache zu bekommen. Sicherheit gab ihm auch seine familiäre Bande zu Alf, der ein Mensch war, auf den man sich verlassen konnte.
So fuhr Attila zuerst zu einem stadtbekannten Lokal, das rund um die Uhr und täglich geöffnet hatte.

„Was sollen wir hier? Das ist ja wohl kaum unser Quartier, das du uns beschaffen solltest? Wenn du allerdings meinst, uns mit ein paar Huren aus dem Weg zu schaffen, dann irrst du dich gewaltig“, sagte Hyrtl eisig, als sie angehalten hatten. Während er sprach, zog er bedächtig die Waffe und richtete sie auf Attila. Doch der zögerte nur kurz, er hatte mit so einer Reaktion gerechnet, ließ die Hände am Lenkrad und sagte dann mit fester Stimme: „Ich helfe dir, du hilfst mir.“ Hyrtl überlegte eine Weile, fühlte dabei den durchdringenden Blick des Mannes auf sich geheftet, als würde er sich in seine Gedanken bohren und ihn beeinflussen wollen. Die Mündung der Waffe zeigte dabei genau über die Nase des Fahrers, dem trotz der Kühle der Schweiß ausgebrochen war. Einige Sekunden nahm sich Hyrtl zum Überlegen, dann gab er Alf die MP und sagte: „Du erinnerst ihn daran, wem er verpflichtet ist“, und zu Attila gewandt: „Fahr uns zur Wohnung und während du steuerst erzählst du mir, was es mit diesem Puff auf sich hat. Gewöhnlich ist es ja nicht, so ein Etablissement würde man ja eher weiter im Südosten erwarten, nicht hier in Pest oder seid ihr auch schon so verdorben?“ Attilas Gesicht lief bei diesen Worten rot an, aber er schwieg dazu, startete erneut den Motor und fädelte sich in den abendlichen Verkehr ein, der hier erstaunlich dicht war für eine Stadt, die sich mitten im Wiederaufbau befand und in der es nur wenig reiche Menschen gab.
Eine Weile fuhr Attila auf dieser breiten Prachtstraße, die einmal von zahlreichen Linden gesäumt gewesen war, nun war sie holprig, voller Schlaglöcher, die sie säumenden Prachtbauten und Linden waren weg. Zurück geblieben waren nur einige kümmerliche Büsche und triste Neubauten, welche aus den Ruinen entstanden waren.

„Ich bin hinter einem Typen her, der stiehlt Kinder, vorzugsweise Knaben von Kuffar oder von Leuten, die sie damit erpressen können. Der ist aber so weit oben angesiedelt, dass ich nicht an ihn rankomme. Jedes Mal, wenn ich denke, ich hab den Kerl jetzt an den Eiern, dann flutscht er mir durch die Finger, diese aalglatte Sau.“ Attila Szeged klang so zornig und hilflos wie er sich fühlte. Schon seit mehreren Jahren war er hinter den Drahtziehern dieses großen Sklavenhändlerrings her. Die Regierung und die Religionsbehörde nannten es beschönigend: „Beschäftigung von Jugendlichen in Tanzlokalen“ und taten nichts, im Gegenteil sie hatten Attila sogar verboten, sich in dieser Angelegenheit weiter zu engagieren und ihm empfohlen, sich mit seinen eigentlichen Aufgaben zu befassen. Aber Attila war nicht der Typ Polizist, der so schnell aufgab. Er wusste, wenn er nur lange genug grub, dann würde er etwas finden, und dass er auf der richtigen Spur war, zeigte schon die Einmischung des Kalifats.
„Dazu kommen noch diese Roma, die auch immer wieder mal irgendwo eine kleine Messerstecherei veranstalten. Die sehen es nicht ein, dass sie plötzlich noch weniger gern gesehen sind als vorher. Manchmal mischt auch noch eine kleine Rockerbande mit, aber nur noch selten, ich fürchte, die sind des Kampfes müde geworden.“
„Ha!“, kam es von der Rückbank, aber nichts weiter entfuhr Alf, der sich noch rechtzeitig auf die Zunge gebissen hatte. Bei diesen Rockern war einer seiner Bekannten untergekommen, als er ihn eilig außer Landes schaffen musste. Alf kannte viele Leute und er hielt den Mund, wofür ihn Hyrtl außerordentlich schätzte. Danach schwiegen sie den Rest der Fahrt, Hyrtl überlegte, ob er in dieser Sache eingreifen konnte oder sollte. Sklavenhändler waren ihm ohnehin ein Dorn im Auge. Zufällig warf er einen Blick in den Rückspiegel und sog scharf die Luft ein. Er hatte das entdeckt, was er seit der Überschreitung der Grenze gefürchtet hatte, einen Wagen der Religionsbehörde.

Es dämmerte bereits als sie in der Nähe des Operaház hielten. „Hier lassen wir am besten den Wagen stehen und fahren mit der Metro“, meinte Attila. Verwundert blickte ihn Hyrtl an, dann nickte er und stieg aus. Auch Attila hatte den schwarzen Wagen bemerkt, der ihnen in auffälliger Weise gefolgt war. Also, waren ihnen noch andere auf den Fersen, aber wo sie waren und wie viel, konnten sie nicht sagen.
Sie bestiegen den nächsten Zug und fuhren zwei Stationen, dann stiegen sie wieder an die Oberfläche und gingen einige Häuserreihen weiter. Während der ganzen Zeit schwiegen sie. „Drei auf zwei Uhr, Alf, und zwei weiter hinten“, flüsterte er schließlich. Mit den Worten „Hier rein“, drängte sie Attila in einen Hauseingang und hielt an. Hyrtl zog seine MP, entsicherte sie und wartete gespannt. Doch lange Zeit tat sich nichts, die Sekunden zogen sich wie Kaugummi in die Länge. Die Dunkelheit nahm zu und der Lärm ab. Da hörten sie sich vorsichtig nähernde Schritte.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Pest, 76 n.U.
Hyrtl hielt den Atem an, Alf drückte sich fester an die Wand und entsicherte seine Waffe, während Attila versuchte, durch die Dämmerung etwas zu erkennen. Einige Augenblicke später hörten sie Klirren, ein leises Röcheln und dann nichts mehr. Alf hielt den Atem an und hob gleichzeitig seine Waffe, Hyrtl tat es ihm gleich.
Doch dann schreckte sie eine sanfte Stimme, die aus einer unerwarteten Richtung kam, auf: „Unokatestvér, ügyeljen. Ich würde in Zukunft auch auf die Rückendeckung achten, Cousin.“ Attila fuhr herum und starrte auf eine schwarz gekleidete Gestalt, die gerade die Falten eines weiten Mantels ordnete. Fast bekam man den Eindruck, dieses Wesen würde eine Burka tragen.
„Ronja!“, rief er empört, doch dann bremste er seinen Wutanfall und atmete tief durch. Er konnte hier nicht herumbrüllen, wenn ihnen womöglich irgendwelche Beobachter auf den Fersen waren. „Was machst du hier? Du solltest doch in Vilnius sein und dort, verdammt noch mal, auch bleiben“, zischte er und wollte sie schon am Handgelenk packen, doch sie entwand sich mit einer Bewegung und trat auf die Straße. „Kommt mit, ich zeige euch, wo ihr unterkommen könnt. Attilas Bleibe wird seit einer Stunde überwacht. Du hast einen Spion in deinen Reihen, sei also froh, dass ich zurückgekommen bin. Die Ausbildung in Vilnius war hervorragend“, redete sie im Plauderton. „Übrigens, ich habe eure Verfolger ausgeschaltet, und haltet euch bitte aus meinem Auftrag raus.“ Die drei Männer schauten sich kurz an, dann zuckte Hyrtl mit den Schultern und folgte der Frau. Er hatte schon Ungewöhnlicheres gesehen. Attila wollte eben zu einer Frage ansetzen, doch Hyrtl hielt ihn zurück. Er hatte die Stimme erkannt, aber nicht gewusst, dass sie Ungarin war. „Wir gehen“, befahl er stattdessen und schon war er auf der Straße und einen Schritt hinter und neben der Frau, welche zügig voranschritt.

Lange schon hatte Hyrtl nichts mehr von ihr gehört, doch ab und zu waren seine Kontakte über sie gelaufen. Soviel er wusste, war sie eine Agentin oder besser gesagt, eine Söldnerin, die für den Meistbietenden tötete, manchmal tat sie es auch ohne Bezahlung, wenn sich das Opfer als regelrechtes Scheusal erwiesen hatte, doch davon erfuhr man selten etwas und Ronja schwieg normalerweise über ihre Aufträge.

Einige Minuten liefen sie beinahe die Straße entlang, dann bog sie in eine Nebengasse und verschwand sofort zwischen zwei Häusern in einer Enge, die kaum Platz für einen Menschen bot. Noch bevor Hyrtl erkennen konnte, wohin sie verschwunden war, streckte sich ihm bereits eine Hand entgegen und er packte sie, ohne nachzudenken. Er zog sich hoch und schwang sich sogleich auf einen Balkon, dann half er die anderen beiden hineinzuziehen.

Erst als sie sicher in einem dunklen und sehr ungemütlichen Raum saßen, meinte Attila barsch: „Du solltest doch in Vilnius bleiben. Was machst du hier? Hier ist es für dich nicht sicher.“
„So sicher wie überall in Europa. Ich werde dir gegenüber nicht Rechenschaft über mein Tun ablegen. Aber ich habe einen Auftrag und ich will nicht, dass du oder die Bullen mir den versauen, verstanden?“ Ihre Stimme klang scharf und abgehackt, so wie sie Hyrtl kannte. „Wie geht es Dimitri?“, fragte er deshalb leichthin. Dimitri war ein gemeinsamer Bekannter, der oftmals kleine Aufträge erledigte, unter anderem brachte er Nachrichten und galt als sehr zuverlässiger Bote in der Branche. „Hab ihn schon einige Zeit nicht mehr gesehen, das letzte Mal war er für Celik in einer Sache nach Istanbul unterwegs. Wir trafen uns hier. Ich hoffe, sie haben ihn nicht erwischt.“
„Ihr kennt euch?“, fragte Attila erstaunt. Er konnte es nicht fassen, dass seine Cousine etwas mit Attentaten zutun haben sollte, die hier immer wieder stattfanden. Hyrtl nickte und meinte dann ganz kurz: „Über meinen Schwager, mehr musst du nicht wissen und Alf macht jetzt mal die Ohren zu.“ Er blickte scharf von einem zum anderen, dann packte er Ronja am Arm und zog sie in eine Ecke: „Dein Auftrag?“
„Wie lautet deiner?“, erwiderte sie bockig, doch Hyrtl schaute sie nur an, starr blickte er ihr ins Gesicht bis ihr die Augen tränten und sie den Blick senkte. „Na schön. Aber das geht auch Attila etwas an.“ Hyrtl winkte alle herbei und sie setzten sich auf einige Kisten. Ronja hatte unterdessen eine Kerze entzündet, damit sie etwas mehr Licht hatten. Schließlich befahl Hyrtl, dass sie reden sollte. Im Schein des Kerzenlichts erkannte er eine Frau in seinem Alter, etwas über Dreißig, das Haar dunkel und kurz gehalten, mit viel Gel glattgestrichen. Ihre Augen funkelten, ob vor Ärger oder ob sie nur den Kerzenschein spiegelten, ließ sich nicht ergründen, ebenso wenig Ronjas Beweggründe für ihre verbissene Aktivität gegen die Bruderschaft.
„Mann, Georg, du machst es mir nicht leicht, mit dir habe ich echt nicht gerechnet“, begann sie, doch Hyrtl reagierte nicht darauf, machte einfach eine Geste, dass sie zum Kern kommen sollte. Ronja seufzte tief auf, dann murmelte sie: „Ich bin auf ein Regierungsmitglied angesetzt. Mensch, ich denke, wir sind auf der gleichen Spur – keine Namen, keine Daten, am Freitag in der Moschee, das ist der beste Ort und der beste Zeitpunkt, da erwischen wir IHN und noch ein paar andere Wichtigmacher, Arschhochbeter und vielleicht auch noch den Imam, diesen Drecksack, der erst vorige Woche ein kleines Mädchen vernascht hat, wie er es großspurig nennt. Mich ekelt, wenn ich an den Kerl nur denke.“
„Ronja!“, fuhr Attila auf und nun war es an ihr, abzuwinken. Seufzend ließ er sich wieder auf die Kiste sinken. Erst jetzt hatte er gemerkt, dass er aufgesprungen war.
„Am Freitag in der Moschee“, wiederholte Hyrtl, sinnierend rieb er sich das Kinn, dann schaute er Alf an, ließ den Blick anschließend auf Ronja ruhen, sie war die gefährlichste Mitspielerin, nicht der unbekannte Faktor, aber mithin der unberechenbarste, und schließlich blieb er bei Attila hängen, der sich erst noch beweisen musste. Sein Team stand fest, sie hatten sich eben um zwei weitere Leute vergrößert, das konnte den Erfolg gefährden oder auch garantieren, es war alles eine Sache des Timings – ob mit vier oder sechs Mitspielern war dabei unerheblich. Hyrtls wusste, Ronja führte ihre Aktionen auf Teufel komm raus aus, ohne Rücksicht auf Verluste. Er fragte sich, was sie erlebt haben mochte, um so einen Hass zu rechtfertigen. Ronja schien diese Frage in seinem Gesicht zu lesen, denn sie beugte sich vor und flüsterte in sein Ohr: „Das, mein lieber Georg, wirst du hoffentlich nie erfahren müssen.“

Vor der Megastadt Istanbul, 76 n. U.

Von weitem sah er schon die Skyline der imposantesten und größten Stadt der Erde, zumindest seiner bekannten Welt. Er hatte sich sagen lassen, dass Shanghai und Bejing noch größer seien, aber er glaubte es nicht.

Insgesamt war Viktor drei Wochen unterwegs gewesen und zum Glück wieder etwas zu Verstand gekommen. Die meiste Zeit war er durch unwegsames Gelände marschiert, über Felsen geklettert, hatte Bäche durchwatet und langsam aber sicher Romslam nach Süden hin durchquert, Richtung Schwarzes Meer und nach Bulgarien hinein, dort war er dem Küstenverlauf gefolgt und jetzt sah er sie endlich, die Skyline dieser verhassten Stadt, dem Sündenpfuhl der gläubigen Welt, wie sie oft genannt wurde.

Während er noch auf die Lichter stierte, hörte er das Brummen eines sich nähernden Jeeps. Noch während er sich zum Fahrzeug drehte, hob er das Sturmgewehr und zielte dann auf den Fahrer. Der hielt jetzt an, hob automatisch die Hände über den Kopf, sagte aber nichts weiter. Das Gewehr im Anschlag ging Viktor vorsichtig um den Wagen herum, öffnete die Türen und hielt drohend umschau. Der Fahrer behielt die Hände über den Kopf und schaute angestrengt nach vorne.

Viyanna, 76 n. U.


Karol und Ole waren in die Stadt gegangen, um das Versteck der toten Kollegen aufzusuchen. Mehrmals hatten sie diese gefährliche Tour bereits gemacht und Biri stand jedes Mal Todesängste aus, wäre nicht Fi gewesen, sie wäre durchgedreht. Zu viele Regimegegner waren bereits verschwunden, entweder weggesperrt, für unzurechnungsfähig erklärt oder ermordet. Wie viele andere auch, wusste sie darüber Bescheid. Ihr Blick hing an der Tür, als Fi plötzlich die Nackenhaare sträubte und ein drohendes Knurren aus seiner Kehle drang.
„Pscht, braver Fi“, flüsterte sie, stand auf und griff dabei nach einem langen Messer, das sie seit Neuestem immer griffbereit liegen hatte, wohl wissend, dass es gegen eine Schusswaffe so gut wie nichts war. Sie schlich weiter und horchte angestrengt. Jetzt vernahm sie ein leises Kratzen an der Tür und angestrengtes Flüstern. Dann ging alles ganz schnell, die Tür flog auf und mehrere in sonderbaren Rüstungen steckende Personen stürmten den Raum. Fi ging auf den ersten los und verbiss sich in der Unterarmpanzerung des Mannes. „Lass los“, kam es unter dem Helm hervor, dann lachte jemand und ein anderer drängelte sich an Biri heran, entwaffnete sie mit der Schnelligkeit eines Lidschlags und brachte sie zum Tisch zurück.
„Bruder, schaff den Köter weg, sonst dreh ich ihm den Hals um!“, rief derjenige, der noch immer mit Fi rang, dann drosch er ihm mit einer behandschuhten Faust gegen die Stirn und der Hund sackte zusammen. Empört sprang Biri auf und rief: „Ihr Mörder! Was fällt euch nun schon wieder für eine Gemeinheit ein? Der arme Hund!“
„Halts Maul, wir suchen deinen Mann“, herrschte sie eine der fünf Gestalten an, doch Biri presst die Lippen fest aufeinander. So schnell konnte sie gar nicht reagieren, bekam sie eine Ohrfeige. Schmerzlich brannte ihre Wange, wo sie die fest getroffen wurde. Doch sie schwieg weiter beharrlich. „Widerliches Gesocks seid ihr, einfache Leute überfallen und ausrauben, was denn noch alles!“, machte sie ihrer Empörung Luft, dennoch behielt sie einen kühlen Kopf und erwähnte nicht das, was sie am meisten fürchtete, nämlich einen Besuch der Religionsbehörde. Diese Gestalten schienen ihr zu einem anderen Verein zu gehören, sie wollte etwas über sie herausfinden und meinte deshalb versöhnlicher: „Wer seid ihr? Ich habe noch nie Leute in solcher Aufmachung gesehen.“
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Endlich geht's weiter ...

(Der Antaghar)
stimmt - - -
Ich bin sicher, wer auch immer der Zensor war, hat diese Geschichte aus Versehen auf FSK18 gesetzt...

LG
Claudia

PS: Ent-FSKen können leider nur die Allerobersten, sonst hätte ich dies jetzt gerne getan...
Orange Session
*********katze Frau
8.077 Beiträge
FSK 18 war Quatsch
Liebe Herta, das muss wirklich ein Verklicker gewesen sein. Ich habe es korrigiert. Leider kann ich nicht nachvollziehen, wem aus dem JC der Verklicker passiert ist, bin aber sicher, es war keine böse Absicht.

Ich werde mir die Wahnsinnsstory ausdrucken und dann kommentieren. Mann, ich wünschte, ich könnte auch "länger", so wie Du.

Ganz liebe Grüße
Katzerl

PS: Auf Hertas Wunsch hin habe ich den unnötig von Ihr selbst "zensierten" Teil gelöscht.
Das ist gut
schönes Wochenende Katzerl
und viel Spaß beim Lesen - -
ich habe es auf meinen Rechner kopiert -
aber nicht als Normseiten, da sind es schon 20 Seiten *lol*

Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Fortsetzung Viyanna 76 n. U.
Einer, dessen Rüstung grüne und goldene Streifen aufwies, trat vor und gab ihr neuerlich eine Ohrfeige, doch Biri blieb beharrlich und rührte sich nicht, gab auch keinen weiteren Ton von sich. Sie setzte sich auf die Bank, legte die Hände gefaltet auf den Tisch und funkelte den Helmträger vor ihr hasserfüllt an.

Die anderen Vier durchsuchten die Wohnräume des Bunkers, viel gab es nicht zu sehen, denn sie hatten nicht viel, was man durchsuchen konnte. Abermals wiederholte der mit den grünen und goldenen Streifen seine Frage, doch Biri blieb stumm. Sie hatte Angst, war sich aber sicher, dass es sich bei den sonderbaren Leuten nicht um Mitglieder der Religionsbehörde handeln konnte. Die fragten nicht lange, sondern nahmen die Leute einfach mit, ganz gleich ob es sich dabei um Säuglinge oder Alte handelte – jeder war ihnen verdächtig.
Jetzt stand der mit den bunten Streifen vor ihr und schien sie durch das Visier zu mustern, geradezu angestarrt fühlte sie sich, dann rief einer, der die Schlafräume durchsucht hatte: „Bruder, hier ist alles sauber.“ Und ein anderer rief laut schnaufend etwas Ähnliches. Dann nahm der Gründgoldene den Helm ab und sie staunte nicht schlecht, als ein normales Gesicht zum Vorschein kam.

„So, gnä’ Frau, dann wollen wir mal ordentlich reden. Wanzen werden wir hier wohl keine finden. Ich denke, die hätte euer Köter schon aufgespürt.“ Biri nickte und konnte es nicht verhindern, dass ihr Mund nicht mehr zuklappen wollte. Der Mann vor ihr rückte sich einen Stuhl zurecht, setze sich, behielt allerdings den Helm in einer Hand, die andere ruhte auf der Tischplatte, bereit, ihr abermals ins Gesicht zu schlagen. Biri betrachtete die Handschuhe, die mit Nieten beschlagen waren und mit irgendeinem Material gefüllt zu sein schienen, denn kein normaler Mensch hatte solche Pranken. Ängstlich schluckte sie und fragte sich abermals, was das für Leute waren und was sie von Karol und ihr wollten. Sie zwang den Blick von dem Handschuh in das Gesicht des Mannes und sah in zwei grüne Augen, die sie seinerseits musterten. Der Mann trug keinen Bart, schien sogar noch recht jung zu sein, aber der Schein konnte trügen, viele bartlose Männer schauten jünger aus, als sie tatsächlich waren.
Nun scharten sich auch die restlichen Rüstungsträger um ihn und er befahl, ohne von ihr wegzusehen: „Tardi, geh raus und sieh zu, dass wir nicht überrascht werden.“ Ohne zu antworten drehte sich der Mensch, Biri nahm an, dass es sich um einen Mann handelte, um und ging.

„Du willst wohl nicht kooperieren, Frau Kreuzer?“, sagte er nun an sie gewandt. Seine Finger lagen noch immer ruhig, während Biri bereits der Schweiß ausbrach. Sie wusste nur eine Gelegenheit, bei der sie sich so bedroht gefühlt hatte und das lag schon Jahrzehnte zurück, sie trug die Narben noch.

„Wer seid ihr?“, fragte sie, wenn auch mit zitternder Stimme.

„Wir haben keinen Namen, aber wir suchen Kreuzer Karl.“

„Karol“, verbesserte sie ihn automatisch.

„Ja, von mir aus. Wo ist er?“

„Ich weiß es nicht.“ Eine Hand sauste vor und packte sie am Ausschnitt. „Wo ist er?“

„Ich weiß es wirklich nicht. Er hat es mir nicht gesagt. Es ist nicht gut, zuviel zu wissen.“ Jetzt weinte sie beinahe und ihr Blick bekam etwas Flehentliches. „Bitte, ich weiß es wirklich nicht.“

Sie blieb am Ausschnitt gepackt, halb erhoben und über den Tisch gebeugt schaute sie dem Fremden direkt ins Gesicht. ‚Nur nicht heulen, Biri’, sagte sie sich vor, aber alle guten Vorsätze halfen nichts. Der dauernde Stress, der tägliche Spießrutenlauf und der Kampf mit der Burka verlangten nun ihren Zoll und sie konnte die Tränen nicht mehr halten. „Ich weiß es nicht“, schluchzte sie hilflos. Da ließ er sie los und schickte die anderen weg.

Sie hatten nicht lange gebraucht, um das Versteck der beiden Ermordeten zu finden. Karol hatte ein beinahe photografisches Gedächtnis und Landschaften behielt er gut im Gedächtnis, dazu zählten auch Häuserschluchten in heruntergekommenen Stadtvierteln, der ehemalige vierte Wiener Gemeindebezirk, wo das Versteck lag, gehörte dazu. In einer alten U-Bahnstation, die sich Karlsplatz nannte, waren sie fündig geworden. Karol hatte das Versteck immer gut gewählt gefunden, denn es war sein erstes in Viyanna gewesen und es trug seinen Namen, hier hatte er sich während des Studiums verkrochen, wenn die Behörden wieder einmal auf der Suche nach Abtrünnigen oder Separatisten waren, wie Karol sich und seine Freunde in der Studienzeit genannt hatte. Das war auch der Grund, warum er nie fertig geworden und aufs Land geflohen war, dort hatte er sich freier gefühlt. Nun war das wieder weg.

Alles Mögliche hatten sie aus dem Gewölbe herausgezerrt, darunter einige alte Bücher, die sich bereits aufzulösen begannen und von der Geschichte eines Landes mit der Bezeichnung Österreich kündeten. Eines davon hielt Karol gerade in den Händen. In dem Dämmerlicht starrte er darauf und versuchte sich zu konzentrieren. Umsichtig wischte er den Staub vom Umschlag, darauf befand sich ein Doppelkopfadler, Karol hatte den schon immer bemerkenswert gefunden und nun freute er sich darauf, dieses Kleinod zu studieren.
„Komm Ole, lass den Rest liegen, das ist alles zu auffällig. Morgen besorgen wir uns etwas, womit wir das hier versperren können, versiegeln oder sprengen, irgendwie müssen wir das sichern.“ Ole war damit nicht ganz einverstanden, aber er sah schließlich ein, dass sie die Kunstgegenstände nicht mitnehmen konnten, sie wären viel zu auffällig. Also packten sie im Licht der Taschenlampen zusammen und kehrten um. „Wenigstens haben wir alles aufgeschrieben und katalogisiert. Hast du das Buch mit dem Wappen?“ Karol nickte ernst. „Dann lass uns vorsichtig von hier verschwinden, mein Freund.“ Abermals nickte er lediglich und ließ seinen Kameraden vorgehen. Gebannt starrte er auf den Rücken des Mannes, der ihm schon mehr als ein Freund war, aber so etwas hier auch nur zu denken, war schlicht unmöglich. Dennoch konnte er sich ein heimliches Grinsen nicht verkneifen, als er an den letzten Abend dachte, den sie zu dritt verbracht hatten. Nach dem Abend in Viyanna, als sie sich zum ersten Mal näher gekommen waren, hatten sie das öfter gemacht. Er wusste nicht, wie Biri dazu stand, aber sie schien sich nicht zu beschweren. Sein Gesicht wurde nachdenklicher und er wurde etwas wachsamer, richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Gegenwart. „Aufpassen“, flüsterte er. Ole nickte, tastete sich vor, schaute sich kurz um und verschwand durch eine Lücke in der Mauer. Karol erstarrte, als er eine leise Warnung hörte, ihr folgte ein kurzer Aufschrei und dann nichts mehr. Karols erster Impuls war gewesen, seinem Freund zu folgen, aber er wusste nicht, was dort auf ihn wartete, so blieb er an die Wand gedrückt und versuchte etwas zu erlauschen. Nach dem Schrei war Stille eingekehrt, nur sein Herzschlag und sein Atem verursachten Geräusche. Es war beängstigend ruhig draußen und er drückte sich noch eine Weile fest an die Wand. Erst nach endlos lang erscheinenden Minuten, zwängte er sich durch den Spalt und erstarrte. Der Platz war leer, ein warmer Wind wehte zwischen den Ruinen der alten U-Bahn-Station und ließ die Äste der Bäume knarren und das junge Laub rascheln. Von weither drangen Motorengeräusche zu ihm und verursachten ihm eine Gänsehaut. Es war alles so normal, so wie immer und dennoch blieb er wie versteinert stehen, fühlte eine eisige Hand sich um sein Herz krampfen. Übelkeit stieg in ihm auf und er kämpfte dagegen an, ebenso gegen das plötzlich auftretende Gefühl der Einsamkeit, das von unermesslichem Zorn abgelöst wurde, den er aber beherrschte und der sich in kalte Überlegenheit wandelte.

Inmitten des Platzes, lag sein Freund, an Händen und Füßen gefesselt, geknebelt und mit aufgeschnittener Kehle. Langsam ging er zu ihm, schaute ihn an. „Was hätte ich tun können? Ole, es tut mir so leid, so leid“, flüsterte er, senkte einen Moment andächtig den Kopf, dann gab er sich einen Ruck und rannte in sein Versteck, das Buch fest an sich gepresst. Es gab keinen sicheren Platz mehr. In ganz Viyanna wurden sie gejagt und ermordet. Alle, die keinen Glauben hatten waren Freiwild, alle, die für sich selbst entscheiden wollten und den Herrschern den Tribut verweigerten waren Freiwild und konnten jederzeit getötet werden. „So wie Ole. Meine Freunde, alle meine Freunde. Ich werde euch Mörder in eure Hölle blasen, zu eurem Gott bringen, hierher gehört ihr nicht!“ Und er lief weiter durch die Häuserschluchten, zum Fluss und noch ein Stück weiter, dann durch einen Tunnel und immer weiter geradeaus, einer weiteren Häuserschlucht folgend, kam er schließlich beim Bunker an. Schwer ging sein Atem und er schwitzte stark, entnervt wischte er sich über das Gesicht und erkannte, dass er geweint hatte. Nun beherrschte er sich. Das Buch war in Sicherheit, zumindest vorläufig und hier konnten sie ihn auch noch nicht entdeckt haben. Dennoch nahm er sich vor, sofort ein neues Versteck zu suchen, aber Viyanna wollte er nicht mehr verlassen, hier waren die Verbrecher zu finden, die Ole getötet hatten.

Vorsichtig öffnete er die Tür und erstarrte als er in ein maskiertes, besser gesagt, behelmtes Gesicht blickte. Noch ehe er reagieren konnte, traf ihn der helle Strahl einer Taschenlampe und er kniff geblendet die Augen zu. Tardi, der Wachposten, packte Karol grob am Oberarm und zog ihn ins Innere. Jemand verriegelte die Tür.
Zornig riss sich Karol los und rannte zu Fi, der in einer Ecke lag und leise winselte, zärtlich strich er ihm über den Kopf, dann ging er zur Bank und setzte sich neben Biri, die ihn ungläubig anstarrte. „Nichts“, brummte er auf ihre unausgesprochene Frage, dann wandte er sich an den Mann mit dem fremden Äußeren. „Warum überfallt ihr uns?“ Der Mann war aufgestanden und lächelte entschuldigend, dann sagte er feierlich, während er wieder auf dem Stuhl platz nahm: „Karol Kreuzer, wir haben Nachrichten für dich.“ Karol hob interessiert die Augenbrauchen, dann meinte er ernst: „So? Von wem und warum überfallt ihr mich?“

„Es ist ein Irrtum, das ist kein Überfall, wir mussten nur sichergehen, im richtigen Haus zu sein, deshalb auch unsere Aufmachung, damit uns keiner erkennt.“

„Aha.“ Sie schwiegen eine Weile. Biri betrachtete unterdessen ihren Gatten und konnte sich keinen Reim auf die Veränderung machen. Er war nicht viel anders, nur ein Ausdruck in seinem Gesicht, es wirkte eiskalt. Sie fröstelte plötzlich.

„Dein Bruder Viktor ist gefangengenommen worden. Wir haben es von Freunden in Pest erfahren. Er war auf einem Flug nach Istanbul und die Maschine wurde angeblich abgeschossen, dabei zwang man sie zur Notlandung und sprengte sie anschließend in die Luft. Viktor nahmen sie mit.“

„Wer?“

„Widerständler.“

„Macht mich auch nicht klüger. Was wollt ihr? Lösegeld? Ich hab keins. Geld für Informationen? Ich habe keinen Bruder der Viktor heißt.“

„Du leugnest also, Karol Kreuzer zu sein?“

„Nein.“ Er atmete einmal tief durch und schaute dann in das jugendliche Gesicht seines Gegenübers. „Wie heißt du?“

„A’den, mehr musst du für den Augenblick nicht wissen, es ist schon viel, dass ich dir das sage und dir mein Gesicht zeige.“

„Wie du meinst A’den, dann noch einmal, ich bin Karol Kreuzer, aber ich habe keinen Bruder.“

„Sei doch nicht so stur“, wagte Biri einzuwerfen und verwünschte sich sogleich dafür, noch nie in den Jahren ihres Zusammenlebens, hatte sie so ein eiskalter Blick getroffen, immer war er gut zu ihr gewesen. ‚Was ist da heute passiert?’, fragte sie sich und biss sich auf die Unterlippe. Am liebsten hätte sie ihn jetzt umarmt und die Kälte aus seinem Gesicht geküsst, aber seine ganze Haltung zeigte Ablehnung. In dem Moment fühlte sie sich ausgegrenzt wie noch nie im Leben, dieser Blick, sagte ihr mehr als sie jemals durch Worte erfahren würde und sie zog sich zurück. Niemals wieder wollte sie so angreifbar sein, wie in dem Moment, als sie zu erkennen glaubte, wie Karol fühlte.

„Ich bin ein Einzelkind“, fügte er knapp hinzu und fuhr dann herrisch fort: „Also A’den was willst du? Allein eines vermissten Bullen wegen, bist du sicher nicht gekommen und schon gar nicht mit diesem ganzen Aufwand.“ A’den lachte laut heraus.

„Na schön – ich brauche auch deine Unterstützung.“

„Ich höre.“

Leise stand Biri auf, ging zu Fi und führte den Hund aus dem Zimmer. Sie konnte Karol nicht mehr ansehen, auch nicht den Mann mit dem glatten Gesicht, der sich A’den nannte und auch nicht die anderen mit den sonderbaren Rüstungen.


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PS.: Liebe Mods! Danke!
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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223 n. U. Viyanna [Ulf, Emma, Harim Öztürk]
Ulf hatte tief geschlafen, so entspannt hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt, oder so sicher. Nun schreckte er allerdings hoch als er neben sich eine leichte Berührung fühlte. „Schlaf weiter, ich pass auf“, sagte Emma leise, drückte ihn zurück aufs Laken und deckte ihn wieder zu. „Ich habe noch zu tun, wecke dich aber, falls Harim kommt.“

„Mhm.“

Müde öffnete er einen Moment die Augen und drehte sich auf die andere Seite doch dann fuhr dann erneut hoch. „Was? Kommt der heute?“

„Ich habe keine Ahnung, Ulf. Ich glaube es nicht, er ist noch zu beschäftigt mit deinem kleinen Experiment. Schlaf weiter.“

„Wenn du es sagst. Ich bin echt müde.“

„Das sagst du nur so, weil das Bett weich und warm ist, wenn es darauf ankommt bist du hellwach. Schlaf.“

Sie wartete bis sich Ulf wieder umgedreht hatte, dann schloss sie die Fensterläden an der Ostseite des Zimmers und ging ins Bad. Sie musste sich unbedingt rasieren und ein Peeling machen, hatte aber auf beides keine rechte Lust. Alles erschien ihr als Lug und Trug an ihrer Person, sie fand, sie war mehr als das was ihr der Spiegel zeigte. Trotzdem machte sie pflichtbewusst ihr Schönheitsprogramm, das ihr ein Dasein in diesem Tempel der Lust bescherte.

Sie ließ Ulf noch mehrere Stunden schlafen und genoss es mit einem Menschen zusammen zu sein, bei dem sie sich nicht verstellen musste, auch wenn er jetzt nicht ansprechbar war. Manchmal, so wie jetzt als sie vor dem Spiegel des teuren Frisiertisches saß und sich herrichtete, bedauerte sie es, in den Geheimdienst eingetreten zu sein. Dann dachte sie an die Menschen, die sie schon außer Landes hatte schaffen können und verbot sich jedes Selbstmitleid. Den meisten Menschen, den Kuffar, ging es weitaus schlechter als ihr. Sie war dabei gewesen, als einem Mann die Hand abgeschnitten worden war. Vor Mitleid hatte sie das Gesicht abgewendet, aber die Schreie, die trotz des Knebels aus seiner Kehle gekommen waren, würde sie nie vergessen, auch nicht das viele Blut und den leeren Blick des Mannes nach der Tat. Er war gebrochen. Wütend über diese Gedanken, die gar nichts brachten, hieb sie mit dem Fingernagel des Zeigefingers auf die auf Hochglanz polierte Tischplatte ein. An Tagen wie diesen, wenn Harim sehr beschäftigt war und sie aufgrund der Tatsache eine Frau zu sein und noch dazu eine Haremsdame, wie sie schmeichelhaft sagten, aber Hure meinten, nicht aus ihren Räumlichkeiten durfte, wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie in einem goldenen Käfig festsaß, der sich ganz schnell in einen dunklen verwandeln konnte oder in einen Sarg. Trotzdem machte sie sich zurecht, wie sie es jeden Tag tat. Sie zwang sich zur Routine, blickte aber immer wieder zu Ulf und ihr Ausdruck wurde weicher, freundlicher und nicht so kosmetisch auf Perfektion gehalten, wie er es sonst war. Aber sie hatte auf das Neglige verzichtet, das ihre Pflicht war und sich einen bequemen und wärmeren, ihrem Empfinden nach anständigeren, Hausanzug angezogen.

Selbst David, der mit dem Frühstück kam, hatte an diesem Tag keine Neuigkeiten für sie. Auch er wirkte müde und in sich gekehrt. Die Ankunft und die Nachrichten von Ulf waren bedrückend. Alles schien schief zu laufen und wieder einmal sah es so aus, als würden die Anhänger der Friedensideologie gewinnen. Doch Emma hatte vor, genau das zu verhindern und wenn es mit ihrem Leben war, das sie teuer zu verkaufen gedachte.

Die Zeit zog sich hin, immer wieder war sie versucht, Ulf zu wecken, nur damit sie mit jemanden reden konnte, der nicht hier eingesperrt war und den sie noch von einem anderen Leben her kannte. Trotz ihrer Sehnsucht ließ sie ihn bis weit nach dem Mittag schlafen. Sein Schlaf war ohnedies unruhig genug. Immer wieder wälzte er sich herum und murmelte irgendetwas, das sie nicht verstand.
Minutenlang saß sie am Bett und betrachtete sein Gesicht, das entspannt und ebenmäßig wirkte, nicht so verbissen und konzentriert wie sonst. Sie würde es nie zugeben, aber sie mochte ihn mehr als ihr lieb war und sie würde ihn schützen, so weit es in ihrer Macht stand.

Das Läuten des Telefons riss sie aus ihren Gedanken an Zürich und die gemeinsamen Studien, die sie damals mit Ulf betrieben hatte. Sie seufzte leise, stand auf und ging zum Tisch. „Emma hier“, meldete sie sich müde. Als sie die Stimme am anderen Ende hörte, änderte sich ihre Haltung sofort, sie stand gerade, lächelte und ihre Stimme hatte an Liebenswürdigkeit zugenommen. „Aber gerne, erwarte ich dich, Harim. Du weißt doch, dass du dich nicht anmelden musst. Ich gehöre ganz dir.“ Sie hörte nicht mehr, was er noch sagte, sondern überlegte sogleich, was sie mit Ulf machen sollte. Harim war schon auf dem Weg und konnte jeden Moment zur Tür hereinkommen. So schnell es ging, packte sie alle verdächtigen Sachen weg, schloss sie in einem Schrank ein und weckte nebenbei Ulf. „Schnell, wach auf und dann unter das Bett“, befahl sie, etwas Besseres fiel ihr auf die Schnelle nicht ein, denn sie hörte bereits Harims Schritte am Flur vor ihrer Tür. Ulf hatte keine Zeit zu widersprechen oder zu überlegen, packte seine Hose und rollte damit unter das Bett. Er biss sich auf die Lippe, um nicht laut loszufluchen und Emma zu verwünschen, weil sie auf ihr Glück gehofft hatte. Doch andererseits hatte er so vielleicht Gelegenheit, etwas zu erfahren, was er anders nie mitbekommen würde.

Für das zerwühlte Laken musste sie sich noch etwas ausdenken, auch für ihr Erscheinungsbild würde er sie maßregeln, denn es entsprach nicht der üblichen Abmachung. Sie konnte es nicht mehr ändern, denn nun ging bereits die Tür auf und Harim trat, gefolgt von seinem Sekretär, ein. Emma hob eine fein geschwungene Augenbraue, dann setzte sie ein Lächeln auf und trat auf die Männer zu. „Sei gegrüßt Harim. Ich hoffte nicht, dich heute zu sehen“, log sie gekonnt. Doch der Minister wischte das zur Seite, packte sie an den Oberarmen und schob sie Richtung Bett.

„Wer ist für den feigen Anschlag verantwortlich?“, zischte er sie an. „Und wer hat dir erlaubt, dich so zu kleiden?“ Seinen Worten folgte eine Ohrfeige.

„Ich weiß es nicht“, antwortete sie.

„Ich glaube dir kein Wort, du verfluchte Hure. Ihr lügt alle, um nur am Leben zu bleiben. Nichts seid ihr wert, nicht einmal die Luft, die ihr atmet.“ Ein weiterer Schlag traf sie im Gesicht.

„Ich weiß es wirklich nicht Harim. Wie sollte ich auch etwas wissen?“ Sie versuchte es mit Charme, aber Harim war zu wütend, um darauf einzugehen.

„Ihr törichten Weiber! Du bist noch schlimmer als die anderen!“

Emma wollte am Bett zurückrutschen, damit er sie nicht noch einmal schlagen konnte, doch er packte sie am Fußgelenk und zog sie zu sich.

„Ich hab dir nichts getan, Harim.“

„Wem gegenüber bist du loyal, du Hure? Und lüg mich ja nicht an!“

Zornig kauerte Ulf unter dem Bett und musste sich schwer beherrschen, um nicht hervorzukommen und den Mann zu verprügeln. Ganz gleich was passierte, was immer Harim Emma auch antun würde, er musste unten bleiben, sonst würde alles noch schlimmer werden. Dann wären sie beide verloren.

„Du weißt es, Harim“, flüsterte sie.

„Was? Etwas lauter gefälligst oder stehst du neuerdings auf Schläge?“ Seine Stimme war gehässig und Emma fragte sich, wer von den Mädchen geplaudert hatte. Die langen Jahre, in denen sie sich erniedrigt hatte, um Harims Vertrauen zu gewinnen, schienen wie weggewischt zu sein. Grob zerrte er sie vom Bett und schlug ihr abermals ins Gesicht. Krampfhaft überlegte sie, was sie sagen konnte, um ihn zufrieden zu stellen. Sie kauerte sich auf den Boden und hielt die Hände schützend über den Kopf, wobei sie flehte: „Harim! Ich bitte dich! Wie könnte ich etwas gegen dich tun, wo ich dir doch alles verdanke?“ Mitten im Schlag hielt er inne. Sie hatte ihn bei seiner Eitelkeit erwischt. „Bitte, Harim“, bettelte sie weiter. „Ich habe nie etwas gegen dich gesagt oder auch nur einmal gegen deine Entscheidungen hier im Harem opponiert.“ Das stimmte, sie war immer vorsichtig gewesen, hatte sich stets zurückgehalten und nur wenige Menschen wussten über ihr Doppelleben, darunter war auch David, der Harim aus tiefster Seele hasste, hatte er es ihm doch zu verdanken, dass er als Eunuch sein Leben fristen musste. Sie fragte sich, wer geredet haben mochte.

Harim Öztürk packte sie an den Haaren und zog sie hoch, ganz nah an sich heran und drückte ihr einen harten Kuss auf den Mund, anschließend fauchte er: „Falls du etwas gegen mich oder die Regierung planst, du wertloses Stück Dreck, dann werde ich dir eigenhändig den Kopf abschneiden. Und zwar schön langsam.“ Sie wusste, dass das die reine Wahrheit war und schluckte schwer. Demütig senkte sie den Blick, wohl wissend, dass Ulf unter dem Bett alles hörte. „So sei es“, sagte sie schlicht. Dann drehte er sie herum, riss ihr die Hose herunter und nahm sich, weswegen er gekommen war.

Nach einer Stunde, die Ulf wie eine Ewigkeit erschienen war, ging der Minister wieder. Erst als er sicher war, dass er nicht wiederkommen würde, kroch er, bleich und zitternd vor unterdrücktem Hass und Zorn, hervor.

Er fand Emma zusammengekrümmt auf dem Bett liegend. Noch nie hatte sie Harim so brutal benutzt oder von Untergebenen nehmen lassen. Damit hatte er ihr seine Geringschätzung gezeigt und auch deutlich gemacht, wo ihr Platz war.

„Hey, soll ich jemanden für dich rufen?“, fragte Ulf besorgt, als sie sich nicht rührte. Lediglich ein Kopfschütteln antwortete ihm. Nach einer Weile, Ulf wusste nicht, was er machen sollte und saß einfach da und schaute, drehte sie ihm weiter den Rücken zu und zog die Decke fester um sich. Ulf seufzte, er wusste nicht was er machen sollte oder konnte, denn das was ihm so vorschwebte war allenthalben Wunschdenken und würde als Selbstmord enden.
„Es tut mir Leid“, sagte er schließlich. „Es ist meine Schuld, wenn ich den Tunnel nicht gesprengt …“

„Lass es. So oder so … Harim ist ein Trampel, irgendwann wäre so etwas ohnehin geschehen.“

„Oh, Em …“

„Lass es, Ulf.“ Sie drehte sich wieder herum, hielt die Decke aber fest um sich gewickelt, so als würde sie Schutz bieten. „Das ist Berufsrisiko. Ich wusste, worauf ich mich einlasse. Jetzt werden die Dinge eben ein wenig unangenehmer.“

„Hör auf damit, Em.“

„Dafür ist es zu spät, Ulf. Ich bin zu tief drinnen und sie würden mich überall finden. Auf der ganzen Welt gibt es kein Versteck, wo ich vor ihnen sicher wäre.“ Darauf wusste Ulf auch nichts zu sagen. Unsicher, was er machen sollte, nahm er sie schließlich in den Arm und stocksteif blieb sie einen Moment liegen, bis sie sich entspannte.

„Tut mir Leid, dass du das erleben musstest“, meinte sie nach einer Weile, schob ihn zur Seite und stand auf.

„Dir hat überhaupt nichts Leid zu tun. Jetzt weiß ich endlich, wie das hier so abläuft, was du immer so als „nichts“ bezeichnest. Verdammt, Emma!“

„Hör auf, Ulf. Hör ja auf damit, jetzt den Moralapostel zu spielen. Ich wusste von Anfang an worauf ich mich einlasse. Dass es manchmal unangenehm werden wird, damit habe ich gerechnet.“ Nur nicht wie sehr es ihr gegen den Strich gehen würde und wie sehr er ihr Schmerzen bereiten würde, das hätte sie sich nie träumen lassen. Die Erniedrigungen waren fast wohltuend dagegen.

„Emma“, begann Ulf erneut, doch sie unterbrach ihn.

„Es ist besser, wenn wir deine Abreise vorbereiten, Ulf. Ich werde David Bescheid geben, dass er deinem Begleiter Nahrung und frische Kleidung bringt, die nicht so auffällt und dann werden wir einen Fluchtplan ausdenken. Wer weiß, ob nicht schon der eine Ausgang gefunden worden ist.“

Ulf musste gegen seinen Willen ihren Worten beipflichten. Wenn er für die Organisation etwas leisten wollte, dann war er außerhalb dieser Mauern nützlicher und Emma würde schon wissen, wie sie sich hier verhalten musste, um über die Runden zu kommen, sie hatte das schließlich die letzten Jahre auch geschafft. Dennoch war er von ihrem sachlichen Ton beeindruckt und wie sie das Kommando übernommen hatte und das nach der Tortur, die sie hinter sich hatte. Er fragte sich, was das für eine Führungspersönlichkeit geworden wäre, wenn sie als Mann zur Welt gekommen wäre. Doch so wie die Dinge lagen, würde sie ihre Fähigkeiten wohl nie voll entfalten können. Ulf fand das bedauerlich.

Harim Öztürk war keineswegs befriedigt von Emma gegangen, er war mehr denn je davon überzeugt, dass sie ihn belog und hinterging. Aber beweisen ließ sich nichts. Bald schon, sagte er sich, würde er auf ihre Dienste für immer verzichten, denn er vertraute ihr nicht mehr und schließlich gab es weitaus attraktivere und jüngere Mädchen, die ihm zu Diensten standen. Doch jetzt musste er ein Treffen mit dem Großmufti von ganz Germanistan vorbereiten, dem obersten Rechts- und Glaubensgelehrten der beiden vorwiegend deutschsprechenden Kalifate Viyanna und Germania, das auch Islamstadt mit einschloss, welches ein eigenständiges Kalifat im Kalifat war, früher nannte man es die Enklave Berlin.
hab leider wenig zeit gehabt
deshalb hab ich die Geschichte(n) auch nur überflogen...
aber mir ist trotzdem aufgefallen, daß wenn ich an die Tage nach dem Ereignis X denke, ähnliche Vorstellungen habe...
es ist eine faszinierende, bedrückende aber bunte Erzählung, deren visionäre Elemente vor allem beeindrucken.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Es geht weiter
Sie fuhren bis zum breiten Rand aus Elendsvierteln, die rund um die Megastadt wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Hier hausten die gefallenen und hoffnungslosen Existenzen, die sich vom Müll des Wohlstands ernährten, als Tagelöhner Beschäftigung für wenig Geld suchten und kaum fanden. Gerade in den Elendsvierteln nahm die Gläubigkeit der Menschen noch mehr zu, je mehr sie unterdrückt und unterversorgt waren, desto mehr liefen sie zum Glauben des Friedens über, gaben ihr Leben vollends auf und suchten ihr Heil in den Gebetshäusern. Ob sie es bekommen würden, war dabei nicht wichtig, wichtig war einzig, dass ihnen ein Sinn im Leben und eine Wichtigkeit ihrer erbärmlichen Existenz vermittelt wurde.

Hosni hielt an einer halbverfallenen Hütte, befahl ihnen auszusteigen und deckte dann den Wagen mit einem Tarnnetz ab, während Tulla einige Wellbleche und Bretter ans Fahrzeug anlehnte. Als sie fertig waren, folgte ihnen Viktor in die Hütte.

„Was willst du überhaupt in Istanbul?“, fragte Hosni, bot Viktor einen Platz am Tisch an, wobei er in dem winzigen Raum herumfuhrwerkte, dass man meinen konnte, die Hütte breche zusammen. Tulla war nirgends zu sehen, Viktor nahm an, sie würde ihr „Werkzeug“ holen, damit sie ihm den Sender entfernen konnte.
„Meinen Auftrag ausführen“, antwortete er ausweichend, was Hosni ein lautes Lachen entlockte. „Du hast dort ebenso wenig einen offiziellen Auftrag wie ich, Dhimmi“, brachte er zwischen den Lachern hervor.
„Halt die Klappe, ich bin kein Dhimmi und du weißt das.“ Erneut spielte er den Rechtgläubigen, dabei war er seit vielen Jahren innerlich distanziert und im Grunde Atheist. Doch Bequemlichkeit und die Angst vor Repressalien hatten ihn schweigen lassen. Jede Feierlichkeit hatte er mitgemacht und sich dazu seinen Teil gedacht. Schon lange war er sich nicht mehr der Lüge bewusst geworden, mit der er lebte oder anders ausgedrückt, von der er lebte. Sie hatte ihm einen Beruf ermöglicht, der ihm die meiste Zeit Freude brachte. Er war gern bei der Polizei gewesen und wenn ihn Podorski und seine Leute nicht entführt hätten, wäre er jetzt in Istanbul und hätte seinen neuen Posten antreten können. Alles hatte sich für ihn zum Schlechten gewendet, als er seinen Bruder gewarnt hatte. Es war gerade noch in letzter Minute gewesen, was es ihn selbst gekostet hatte, das wollte er sich lieber nicht ausdenken. Auf jeden Fall war er nicht dort, wo er sein sollte, sein wollte und überhaupt passte ihm gar nichts mehr. Er war zornig, auf sich, auf Hosni, auf Jan, auf Tulla, die sich als falsch erwiesen hatte und am meisten auf seinen Bruder, der keine Ruhe geben konnte und auf sich selbst, weil er sich eingemischt hatte und den starken Mann spielen wollte. Mit diesen vielen Rollen, in denen er sich wiederfand, ließ sich dieses Spiel nicht spielen. Während Hosni in der Hütte kramte, irgendwelche Empfänger suchte, die bereits mehr als hundert Jahre alt waren, zumindest schätzte sie Viktor auf dieses Alter, aber noch funktionstüchtig schienen, kam er zu dem Schluss, dass er diese Farce der geheuchelten Religiosität nun beenden musste. Es hatte keinen Sinn, sich weiter als etwas zu bezeichnen das er noch nie gewesen war. Er sah in jeder Religion ein Manipulationswerkzeug und zwar nicht erst, seit er eines der zahlreichen verbotenen Bücher gelesen hatte, es hatte ein sonderbarer Kauz mit dem Namen Kant geschrieben, vom Titel wusste er nur noch, dass es um Vernunft ging und mit dem Inhalt war er völlig einverstanden. Als er das Buch zweimal gelesen hatte, hatte er es schweren Herzens verbrannt, niemand sollte verdächtige Literatur bei ihm finden.

„Was ist los? Du siehst so sonderbar aus“, fragte Tulla, die eben ins Haus gekommen war. So aus seinen Erinnerungen gerissen, antwortete er beinahe automatisch: „Nichts, ist alles in bester Ordnung.“
„Na schön, großer Krieger, dann gib mal her deinen Arm.“
„Soll ich ihn abmachen? Du musst schon herkommen, denn ich bewege mich heute nicht mehr als nötig.“
„Mann, bist du blöd und stur.“ Aber sie kam zum Tisch, breitete eine grüne Decke aus, darauf legte sie einen Handscanner, mit dem sie den Sender finden wollte, dann noch ein Skalpell, eine aufgezogene Spritze, die wohl ein Sedativum enthielt und mehrere Tupfer sowie Verbandszeug. Die Spritze nahm sie nun in die Hand und wollte sie in Viktors Arm stechen. Der entzog sich ihrem Griff und meinte bissig: „Was ist da drin? Drogen? Willst du mich ruhigstellen?“
„Nein, nur ein kleines Schmerzmittel.“
„Klar doch. Es wird auch ohne gehen, du wirst mir kein Sedativ geben.“ Tulla rollte mit den Augen, denn Viktor war wirklich stur und nichts schien ihn davon abhalten zu können, seinen Willen durchzusetzen. Also gab sie nach, seufzte einmal gewaltig und übertrieben auf, bevor sie ihn belehrte: „Heul nur nicht, wenn es weh tut, denn das wird es.“ Danach nahm sie das Lesegerät, justierte es und anschließend fuhr sie damit über Viktors Arm. Endlich piepte es und Tulla markierte den Bereich großzügig. Ihr Grinsen war fast teuflisch zu nennen, als sie das Skalpell in den Hand nahm, ansetzte und den ersten Schnitt setzte. Viktor dachte, er müsste gleich laut aufschreien. Aber noch ging es, sie hatte bis jetzt nur die Haut geritzt, doch schon quoll Blut hervor. „Hosni, halt ihn, dieser Idiot will sich nicht betäuben lassen.“ Sofort eilte der Angesprochene herbei, griff hart um Viktor herum, wobei er ihm noch einen Knebel in den Mund stopfte. „Beiß drauf, Dhimmitrottel, damit du nicht zu schreien brauchst wie ein Baby.“ Viktor wollte etwas sagen, aber nun schnitt Tulla tiefer und er biss heftig zu. Der Schrei, der ihm nun entfuhr, wurde so ein wenig erstickt. Hosni lächelte, kämpfte aber damit, Viktor zu halten. Für Viktor schien es ewig zu dauern, doch nach nur wenigen Minuten war Tulla fertig, klebte einige Strips über die Wunde und legte danach einen dicken Verband an. „So, das war’s.“ Ihr Lächeln war süffisant, als sie sein schweißbedecktes, bleiches Gesicht betrachtete. Den Minisender gab sie Hosni, der ihn sofort unschädlich machte. Gewissenhaft kontrollierte sie Viktors Puls, nickte befriedigt, dann meinte sie: „Leg dich hin, bevor du umkippst.“
Viktor sagte nichts mehr, er konzentrierte sich aufs Atmen, dann verschwamm die Welt vor seinen Augen und er wusste nichts mehr.

Zusammen legten sie Viktor in das einzige Bett, das in einem Schrank verborgen war. „Hast du gut gemacht, Süße. Wir haben jetzt so gut wie alle abgehängt und können …“
„Halt die Klappe, Hosni. Gerade hier haben die Wände Ohren.“ Betreten hielt er inne, dann gab er ihr einen festen Klaps auf den Hintern und lachte: „Du hast deine Rolle echt gut gespielt. Dass du mich nicht magst, hab ich dir fast abgenommen.“
„Ja, schon gut.“ Schweigend bauten sie ein altertümliches Funkgerät auf und gaben einen Morsecode durch. Nach einer Weile antwortete ein leises Piepen und sie empfingen eine Nachricht. Hosni las und sein Gesichtsausdruck wurde dabei immer verkniffener. Endlich sagte er: „Wir sind auf uns allein gestellt. Diyanet hat die Gruppe aufgerieben. Es war die letzte Nachricht. Schalten wir ab.“ Tulla begann damit die Technik in alle Einzelteile zu zerlegen, damit nicht sofort offensichtlich war, worum es sich handelte. Dann verstaute Hosni die Teile in einer alten, verstaubten Kiste, legte noch zahlreiche Lumpen darüber, alles wurde schweigend vorgenommen. Sie wussten, was mit den Mittelsmännern passiert war und es stimmte sie traurig und ängstlich zugleich.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Tulla. Sie hatte sich an den Tisch gesetzt und frustriert den Kopf auf die Hände gestützt. Durch einen Vorhang wirren Haares blickte sie zu Hosni, runzelte nachdenklich die Stirn und für den Moment half ihr auch ihre Intelligenz nicht weiter.
„Essen“, antwortete Hosni prompt. Er werkte bereits wieder herum, öffnete Packungen mit gefriergetrockneten Nudeln mit Soße, füllte es in einen Topf, vermischte alles mit Wasser und stellte es dann auf einen Campingkocher. „Dazu gibt’s Tee. Wir hatten jetzt schon einige Tage nichts Warmes mehr.“ Dann war es wieder einige Zeit ruhig. Nur die Geräusche des Alltags störten die Ruhe. Aus der Nachbarhütte drangen Geschrei und lautes Weinen, wahrscheinlich verprügelte einer gerade seine Frau oder die Kinder, auf jeden Fall war es sehr laut, dann heulte irgendwo ein Motor auf, wurde gedrosselt und Reifen quietschten. Das Geschrei brach nicht ab und nach etlichen Minuten wurde es Hosni zu bunt. Zornig stapfte er nach draußen, nahm einen dicken Knüppel mit und ging damit nach nebenan. Ohne anzuklopfen öffnete er, stellte sich breitbeinig in die Tür und brüllte nun seinerseits: „Mann, wenn du nicht sofort mit dem Mist aufhörst, dann zeige ich dich wegen mutwilliger Ruhestörung an, Bastard.“ Wütend funkelte er in die Runde, die ihn mit offenen Mündern anstarrte. Es standen dort, ein fetter Mann in Turnhosen und nacktem Oberkörper, eine magere Frau, die verzweifelt versuchte, ihr zerschlagenes Gesicht zu verbergen und zwei Jugendliche, die nur dämlich grinsten und sich hinter dem dicken Mann zu verstecken versuchten. „Wartet mit der Prügelei bis ich morgen wieder in der Arbeit bin, dann muss ich das nicht anhören. Und zur Hölle, Mann“, er schritt auf den Fetten zu, tippte ihm an die Brust und fuhr dann eisig fort: „lies die Schriften etwas genauer. Wenn du deine Frau maßregeln willst, dann soll man davon nichts sehen. Arschloch. Such dir Arbeit.“ Er schnüffelte, schüttelte den Kopf und sagte bereits wieder an der Tür, die jetzt schief in den Angeln hing, so heftig hatte er sie geöffnet: „Dass mir ja keiner auf blöde Ideen kommt und mir einen Besuch abstattet, sonst fackle ich eure Bude hier ab, verstanden?“ Er schaute sich nicht mehr um, hörte nur noch ein halblautes „Ja“ dann war er wieder in seiner eigenen Hütte. „War das klug?“, fragte Tulla, die ihm leise gefolgt war und alles mitbekommen hatte. „Keine Ahnung, aber das hätte noch stundenlang so dahin gehen können und ich hab keinen Bock auf Geschrei während ich zu Abend essen will.“ Dazu sagte sie jetzt nichts mehr, es stimmte, ihr hatte es auch zugesetzt, wenn auch aus anderen Gründen. Zu gut kannte sie solche Schreie noch aus ihrer Kinder- und Jugendzeit, bevor sie zu Jan Podorski geflohen war, studiert hatte und auch im Ausland gelernt hatte. Diese Zeiten hatten sie geprägt und aus ihr eine verschlossene und vorsichtige Frau gemacht. Hosni vertraute sie bis zu einem gewissen Punkt, mehr noch als Jan, den sie hintergehen musste, weil er sich ihrer Meinung nach zu sehr mit den cigany eingelassen hatte. Auch die Entführung und den Mord an den Flugzeuginsassen hatte sie nicht gutgeheißen. Das waren ihre Gründe, warum sie sich schließlich doch mit Hosni zusammengetan hatte und mit ihm gemeinsame Sache machte. „Morgen sind wir hier weg. Iss“, befahl Hosni streng, stellte zwei mit Nudeln und Soße gefüllte Teller auf den Tisch, schenkte Tee in zwei Tassen und setzte sich dann Tulla gegenüber, die wieder ihren Platz eingenommen hatte. Schweigend verbrachten sie den restlichen Abend.

Erst gegen Morgen erwachte Viktor mit Kopfschmerzen, auch sein rechter Oberarm schmerzte höllisch. Im ersten Moment wusste er nicht, was geschehen war, doch dann kehrte die Erinnerung zurück. Er öffnete die Augen und sah nur Dunkelheit. Dann merkte er, dass er sich in einem Verschlag befand. Neben ihm lag noch jemand. „Na, ausgeschlafen, Dhimmi? Schmerzen?“, fragte Hosni nachdem er herzhaft gegähnt hatte. „Nein und ja“, antwortete Viktor knapp. Er mochte die Art nicht, wie ihn Hosni durchschaut hatte und darauf herumritt. „Hör endlich auf, mich Dhimmi zu nennen, das stimmt nicht, ich glaube nichts und seit jetzt ist es amtlich. Du kannst mich also jederzeit abschlachten, am besten nimmst du ein stumpfes Küchenmesser, dann dauert es länger.“ Verblüfftest Schweigen antwortete ihm, dann lachte Hosni schallend. „Willkommen im Club. Nicht jeder ist so ein verkappter Depp wie die meisten meiner Landsleute. Ich muss ja gut gewesen sein, mindestens genauso gut wie Tulla. Na schön, bist du hungrig?“
Nun war es an Viktor, überrascht zu sein. Nie hätte er gedacht, dass Hosni ein Atheist sein könnte oder dies, wenn auch durch die Blume, zugeben würde.
„Ja, ich bin hungrig und kann ich was gegen die Schmerzen haben?“
Ohne Antwort zu geben stand Hosni auf und suchte Tulla. Sie hatte die letzte Wache über und trat gerade ein. Ihr Haar war zerzaust, denn es war wieder stürmisch, wie sooft in dieser Gegend. „Schade, dass es hier keine Fische mehr gibt, das Meer ist ganz nahe, ich kann es sogar durch den Gestank hier riechen“, sagte sie gerade. „Es wäre mal eine Abwechslung gewesen zu dem Instantfraß.“ Entschuldigend blickte sie Hosni an, der die Rationen zusammengestellt hatte. „Schon gut, mir wäre was Frisches auch recht. Unser Gast ist wach geworden.“
„Oh gut. Ich seh dann nach ihm.“ Sie fuhr sich durchs Haar, versuchte es ein wenig in Form zu bringen, was aber das Ergebnis eher verschlechterte und sie nicht weiter zu stören schien, dann trat sie an das Schrankbett, besah sich den Verband, fühlte Viktors Puls und Stirn, dann erst lächelte sie freundlich, wie in Podorskis Lager. „Nach dem Frühstück wechsle ich dir den Verband. Kann ich dir jetzt etwas gegen die Schmerzen geben? Ein Aspirin vielleicht, das kennst sogar du.“
Diesmal nahm er das Angebot an, schluckte die Tablette mit warmem Wasser hinunter bevor er aufstand.

Die beiden saßen schon am Tisch, aßen Zwieback und Trockenfleisch, dazu tranken sie kalten Tee vom Vorabend. Hosni belud ein Teller, das er Viktor hinschob. „Nach dem Essen gehen wir weiter“, entschied er barsch. Es war zu gefährlich, lange an einem Ort zu bleiben. „Wir lassen den Wagen hier, in der Stadt kommen wir zu Fuß schneller voran.“ Darin stimmten sie alle überein.

In der dichten Menschenmenge fielen sie nicht weiter auf. Zu viele Menschen zog es zur Brücke, es waren Tagelöhner, die im Zentrum eine Arbeit für ein paar Stunden und ein wenig Geld suchten. Wahrscheinlich würden sie am Abend ohne Geld und mit erhöhter Gewaltbereitschaft zurückkehren. Die Gewalt in den Elendsvierteln war mehr als hoch und die Zahl der kriminellen Handlungen war erheblich gestiegen.

Eine Welle an Menschen trug sie zur und über die Brücke. In dieser Stadt war es ständig laut, es stank nach Abgasen, Abfällen, Gewalt und Hoffnungslosigkeit. Das Logo der Diyanet war überall präsent, Kameras waren an den Brückenköpfen postiert, an Hauswänden hingen sie - diese unsichtbaren Augen kontrollierten die ganze Stadt. Über dem ganzen Chaos Scholl fünf Mal am Tag der Ruf des Muezzins. Kaum zum Aushalten für einen normalen Menschen war dieses Gemisch. Es machte aggressiv und ungeduldig. Vor den Moscheen und den diversen kleineren Gebetshäusern tummelten sich Bettler, die hier um ein Almosen fochten, das ihnen nur selten gewährt wurde, denn hier herrschte das Recht des Stärkeren.

Die einstige Größe und Macht dieser Stadt war verkommen in einer gigantischen Masse aus Unwissen, Aberglauben und Furcht. Nur ganz im Zentrum war eine kleine Elite zu finden, die in hohen Türmen aus Glas und Stahl residierten und auf die Ruinen von Hagia Sofia blickten. Überheblich und machtbesessen war daneben die neue Moschee errichtet worden, um ein Vielfaches größer und imposanter als der alte Bau, die einst von den Christen dort gebaut worden war.

„Wo gehen wir hin?“, fragte Viktor endlich. Die Brücke hatten sie schon vor Stunden überquert, danach hatten sie sich vor einem Arbeitshaus eingereiht und waren wieder gegangen, als die Tore nach nur wenigen Minuten wieder geschlossen worden waren. Zehn Männer aus einer Reihe von mehreren hundert hatten eine Arbeit als Taglöhner gefunden. Die Enttäuschung der Anderen war fast greifbar gewesen. Doch nun gingen sie ins Zentrum, schlenderten durch die Straßen und versuchten nicht weiter aufzufallen. Hosni suchte etwas.

Manchmal hatte es für Viktor den Anschein als gingen sie im Kreis herum, doch sie entfernten sich zunehmend vom Zentrum und marschierten in die wahre Machtzentrale dieses Monstrums. Sie sahen um ein Vielfaches mehr Polizeistreifen, es gab zahlreiche Kontrollen und viele Menschen wurden dabei einfach abgeführt. Die Drei kostete es erhebliche Mühe, sich nicht einzumischen und weiterzugehen, wenn sie sahen, wie jemand brutal in ein Auto geschoben oder niedergeschlagen wurde. Noch war die Zeit für einen Aufstand nicht reif, vielleicht war er es nie. Viktor kamen Zweifel an seiner eigenen Aufrichtigkeit. Er wusste nicht, ob er das durchziehen wollte oder konnte, was er glaubte, das Tulla und Hosni vorhatten.

Zweimal entgingen sie knapp einer Personenkontrolle, weil hinter ihnen jemand panisch davonlief. Es war immer schlecht, wenn man die Nerven verlor, das gab Diyanet alle Handlungsmöglichkeiten, man lieferte sich quasi selbst ans Messer, denn ein Entkommen gab es nur in den allerseltensten Fällen. Organisationen, die sich um Gefangene kümmerten waren selten und arbeiteten nur noch dem Anschein nach, denn sie waren auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht.

„Wo gehen wir hin?“, fragte er abermals, bekam aber wieder keine Antwort, also drehte Viktor kurzerhand um und ging zurück. Sofort war Tulla bei ihm, nahm ihn am Ellbogen und flüsterte auf ihn ein. Knurrend gab er schließlich nach, es stimmte, hier würde er sich verlaufen und früher oder später im Gefängnis landen. Es würde ihm auch nicht helfen, Polizist zu sein, denn laut Tulla galt er als tot was ihn noch mehr frustrierte.
ja
so siehts dann aus...genauso...
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Weiter geht es in Pest 76 n.U.
76 n. U. Pest

Die Diskussion hatte noch lange bis in die Nacht hinein gedauert. Hyrtl war dabei nicht gerade diplomatisch vorgegangen und die Beleidigungen die er Ronja und Attila an den Kopf geworfen hatten, waren nicht gerade zweckdienlich gewesen. Aber ihn drängte die Zeit und beide hatten sich als außerordentlich stur erwiesen. Ronja hatte auf ihren Geheimnissen beharrt und kein Sterbenswörtchen über ihren eigentlichen Auftrag verraten. Schließlich gegen Morgen war ihm der Kragen vollends geplatzt und er wäre gegangen, wenn nicht Ronja und Alf eingelenkt hätten. Ronja hatte sich für die Beleidigungen entschuldigt, ansonst aber geschwiegen. Attila war weiterhin renitent und weigerte sich, bei diesem Spiel mitzumachen, wenn für ihn dabei keine Hilfe bei seinem eigenen Problem, im nicht vorhandenen Rotlichtbezirk, heraussprang. Erst, als auch dieses Problem geklärt war, hatten sie ihren Plan besprechen können.

Nun war Freitagmorgen, es dämmerte und Nebel lag über der Kaserne in Pest. Hyrtl marschierte bereits zur Kommandantur, seine Kameraden im Schlepptau. Ohne anzuklopfen polterte er beim Oberst ins Büro und verlangte vom Diensthabenden sofort den Oberst zu wecken. Der eilte rasch davon, weil er merkte, hier drohte ein gewaltiges Donnerwetter und nur kurze Zeit später erschien ein nachlässig gekleideter Oberst, dem man ansah, dass er vor wenigen Minuten noch im Bett gewesen war. Hyrtl verzichtete auf einen Gruß oder sonstige Höflichkeiten und bellte gleich los: „Herr Oberst, ziehen Sie Ihre Truppen zusammen, wir haben eine Warnung erhalten.“ Er machte auf wichtig und mächtig. Als der Oberst das hörte, wich ihm alle Farbe aus dem Gesicht und er nickte eifrig. Schon lange waren seine Truppen eher zur Beschönigung der Landschaft anwesend, weil es hier eher ruhig war, nachdem das Zigeunerproblem gelöst war und die sich auf der anderen Seite der Donau ihr Refugium gesichert hatten. Auch Grenzstreitigkeiten gab es keine mehr, denn die Kalifate waren streng aufgeteilt worden und wurden von Arabia und Ankara aus, gelenkt. Das Militär sollte nicht vor ausländischen Ausfällen schützen, sondern die Inländer ruhig halten. Im Kalifat Pest war es ruhig.
„Wer soll das Ziel sein? Woher haben Sie Ihre Informationen? Ich habe keine darüber erhalten.“ Angewidert schnaubte Hyrtl und erwiderte barsch: „Natürlich haben Sie das nicht, Herr Oberst. Darum informiere ich Sie jetzt. Wir brauchen Ihre Unterstützung, damit keine Panik ausbricht, wenn wir eingreifen müssen.“
Eine Weile dachte der Oberst darüber nach, dann nickte er und rief seinen Untergebenen herein, der die Befehle weitergeben sollte. „Wie viel Männer Sie einsetzen wollen, ist Ihre Sache, aber lassen Sie sie heute durch Pest marschieren oder fahren. Sie sollen Präsenz zeigen. Vielleicht schreckt das den Attentäter ab und wir können uns den ganzen Ärger sparen. Widerliches Pack.“ Damit drehte er sich um, seine Männer folgten ihm auf dem Fuß. Es sah bedrohlich aus, wie sie in perfekt sitzenden Uniformen und mit den modernsten Waffen ausgestattet, aufmarschiert waren und nun wieder abrückten.
Draußen atmete Hyrtl erleichtert auf, das hätte auch schiefgehen können, doch harsches und bestimmtes Auftreten tat meistens seine Wirkung. „Jetzt werden wir erst einmal frühstücken“, entschied Hyrtl, was begeistert aufgenommen wurde. So stürmten sie die Offiziersmesse und scheuchten dort die Ordonanzen herum.

„So gut hab ich schon lange nicht mehr gegessen“, entschied Hans, der sich den Bauch mit Eiern und Putenfleisch vollgeschlagen hatte. „Pass nur auf, dass du nicht zu fett wirst, sonst passt du nicht mehr in unseren alten Wagen“, lästerte Alf, der sich noch ein Brot richtete. „Wird schon nicht. Zuhause läuft eh wieder Sparflamme, da ist nichts mehr mit …“, rasch brach er ab, denn Hyrtl hatte ihm heftig gegen das Schienbein getreten. „Jetzt hätte ich mich beinahe verschluckt, Chef. Tritt das nächste Mal nicht ganz so fest, okay?“ Hyrtl grinste, dann trank er seinen Kaffee aus. „Schluss mit dem Scheiß. Los jetzt, es wartet Arbeit auf uns. Hans, mach den Eagle fertig, Sigi und Alf, ihr holt das Material.“ Sofort sprangen die Männer auf und machten sich an ihre Aufgaben, da drehte sich der vorlaute Hans noch einmal um und fragte: „Was machst du Chef?“
„Denken“, antwortete Hyrtl mit einem zynischen Lächeln im Gesicht. Dann bestellte er für sich noch Kaffee.
„Mann!“
„An die Arbeit, je schneller ihr anfangt, desto eher seid ihr fertig. Muss ich euch Beine machen?“ Hyrtl war ein umgänglicher Typ, aber wenn er drohte, jemanden Beine zu machen, dann war das eine sehr ernste Angelegenheit und endete zumeist mit Schmerzen.

Rasch zogen die Männer ab und erledigten die letzten notwendigen Handgriffe. C14-Pakete und die nötigen Zündvorrichtungen wurden eingepackt, Waffen kontrolliert und noch einiges andere, was sie benötigen würden.

Etwa zwei Stunden später saßen sie im Eagle und fuhren zum Treffpunkt am Operaház. Dort wartete ein sichtlich aufgelöster Attila mit einem Zivilfahrzeug auf sie. Hyrtl und Alf stiegen aus, während Sigi und Hans im Eagle blieben und ihnen etwas später folgten.

Ohne ein Wort zu wechseln stiegen beide Männer in den roten BMW mit getönten Scheiben, der auch schon viel bessere Zeiten erlebt hatte und Attila fuhr los. Im Fond des Wagens befanden sich Kleidungsstücke, die Hyrtl und Alf nun überstreiften. Jetzt gab es kein Zurück mehr, die Tat musste vollbracht werden, am besten gleich, wenn es nach Hyrtl ging. Er hasste es, wenn er warten musste. Die Dinge hatten sich als etwas komplizierter gestaltet, als er am Anfang gedacht hatte, denn die Zielperson, dieser Bauingenieur Yilmaz war ein zurückhaltender Mensch und deshalb sehr schwer auszuspionieren gewesen. Dennoch hatten sie alles erfahren was notwendig war. Lieber noch wäre Hyrtl eine einfach Lösung gewesen: ein Scharfschützengewehr und freie Schussbahn. Aber es musste so aussehen, als hätte der Anschlag niemand besonderem gegolten, wenn sie keine unnötigen Fragen wollten.

Nach mehreren Minuten Fahrt, kam die große Moschee in Sicht. In einer Seitenstraße hielten sie und Alf trennte sich dort von ihnen, er würde einen anderen Eingang nehmen und von Süden her alles beobachten. Hyrtl fand sich in dieser Verkleidung mehr als auffällig, doch dann bemerkte er die anderen Männer, die zur Moschee strömten, um sich dort erst einmal zu treffen und zu reden, bevor das eigentliche Gebet begann. Frauen sah er noch keine, legte jetzt aber auch keinen Wert darauf, irgendwelche verschleierten Personen zu entdecken, denn das hieße, dass Ronja zu früh wäre. Ronja war der Faktor, der noch alles gefährden konnte, sie war viel zu unbeherrscht. Hyrtl nahm an, dass das der Grund war, warum sie meistens allein arbeitete.

„Meine Männer sind instruiert, sie werden die Typen von denen du mir erzählt hast, befragen und mit falschen Informationen füttern, damit sie in etwas aufgelöstem Zustand und aufgeregter als normal hierher kommen. Einige andere kontrollieren die Zugänge und machen Personenkontrollen“, erklärte Attila während sie sich gemächlich dem Eingang näherten. Hyrtl hatte ihm geraten, seinen Männern etwas Bewegung zu verschaffen und zwar genau dort, wo er die betenden Männer zuerst getroffen hatte. Jetzt sah er auch die fünf Polizisten, die in schwerer Bewaffnung am Tor zum Vorplatz standen und für Diskussionen sorgten. Ab und zu wurde einer herausgepickt und weggebracht. Die Polizisten wussten selbst nicht genau, wonach sie suchten, denn ihre Anweisungen waren sehr dürftig. Es hieß nur, sie suchten einen Schwerverbrecher, der sich hier angeblich einschleichen wollte. Das hielt die Menschen im Zaum und es wurde kaum dagegen protestiert.

Die Gläubigen, die schon am Vorplatz standen, diskutierten wild durcheinander, heftige Gesten unterstrichen dabei die Gefühle, für die anscheinend Worte fehlten. Es war ein Schauspiel, das seinesgleichen suchte und womöglich nur von einem sehr orientalischen Basar übertroffen werden konnte. Ganz genau beobachtete Hyrtl die Leute, mischte sich immer wieder in die verschiedenen Debatten ein, streute Gerüchte, dass die Bewegung „Freiheit der Rechtgläubigen“ gegen die Vorbeter in Moscheen hetzt und sie abschaffen will. Dann wiederum erzählte er anderen, dass die Rechtgläubigen nur für sich das Seelenheil beanspruchten und nur sie das Recht hätten, in der Moschee zu sein und niemand sonst, denn einzig sie verstünden das Buch. Hyrtl musste ständig unbeteiligt oder überrascht schauen, um sich nicht zu verraten, aber am liebsten hätte er gegrinst, als er die empörten Gesichter sah.
„Wenn das so weitergeht, fürchte ich das schlimmste“, flüsterte einer der Gläubigen, worauf Hyrtl ängstlich meinte: „Hier in der Moschee brauchen wir doch keine Angst zu haben? Hier sind wir doch sicher vor Anschlägen? Es wird doch zu keinem Anschlag kommen? Du weißt schon, wie damals in Viyanna.“ Nun schaute sich der Angesprochene vorsichtig um. Die verheerenden Anschläge in Viyanna waren überall in den Metropolen bekannt und die Erwähnung verursachte bei vielen Leuten eine Gänsehaut und unbestimmte Furcht. Rasch entfernte sich der Mann, nicht ohne den Großen Gott zu erwähnen und ernst hinzuzufügen: „Die Ungläubigen werden vom Schwert des Glaubens erschlagen werden, wenn sie nicht konvertieren.“ Hyrtl war froh, als der Mann gegangen war. Gerüchte hatte er nun genug verbreitet. Er wollte eben weitergehen und sich umsehen, da hörte er in seinem Ohr eine Stimme. Es war Alf. „Yilmaz auf 14 Uhr.“ Selbstbeherrscht blieb er wo er war und drehte sich erst eine Minute später um. Ja, dort war der Chefverhandler. Den hätte er überall wiedererkannt. Theo Yilmaz zeichnete sich durch eine überaus stramme Haltung aus, seine zur Schau getragene Religiosität war legendär. Über seinem Anzug trug er immer einen weißen Kaftan und ein Häkelkäppi thronte auf seinem eiförmigen, beinahe kahlen Kopf. Die strenge Gläubigkeit machte Verhandlungen mit diesem Mann zu einem Spießrutenlauf durch das Buch der Bücher, Vernunft war ihm fremd. Hyrtl verstand, warum Celik den aus dem Weg geräumt haben wollte. Mit so jemandem wie Yilmaz zu reden, war eine Tortur, zermürbte und brachte nie das Ergebnis, das man sich erhoffte. Es war unumgänglich, den Mann auszuschalten, der einen Fortschritt verhinderte. General Talas Celik wollte aus dem Kalifat Viyanna wieder ein Vorzeigeland machen, es sollte wirtschaftlich erneut erblühen und somit auch die Steuereinnahmen erhöhen. Doch religiöse Eiferer wie dieser Yilmaz standen dem im Weg. Celik wusste erheblich mehr und war sich der Bedeutung des Landstrichs, den er aus der zweiten Reihe heraus beherrschte, sehr wohl bewusst.

‚Showtime’, dachte Hyrtl, marschierte langsam los, wobei er sich unauffällig der Zielperson näherte, die nichtsahnend in der Menge stand und mit irgendwelchen Leuten redete. Er schaute sich um, sah aber niemanden den er kannte und war sich gewiss, dass zumindest Alf und Attila die Befehle ausführen würden, die er ihnen vor etwas mehr als zwei Stunden gegeben hatte. Die Panzermannschaft bildete die Rückendeckung, die Reserve, falls etwas schiefgehen sollte. Sie hatten ebenfalls genaue Anweisungen erhalten, was im Notfall zu geschehen habe. Der Auftrag hatte allerdings Priorität.

Langsam folgte er Yilmaz in den Vorraum der Moschee, zog sich ebenso die Schuhe für die rituelle Fußwaschung aus. Das Gedränge war sehr groß. Bald schon wurde er weitergeschoben, fast hätte er dabei Yilmaz aus den Augen verloren. Doch dessen Schädelform war so markant, dass er ihn bald erneut entdeckte. Ein Seufzen der Erleichterung konnte er eben noch unterdrücken, als er sich hinter Yilmaz auf einen Teppich setzte.

Die Gelegenheit war günstig, denn noch herrschte ein Kommen und Gehen und niemand achtete auf ihn. Viele würden auch draußen beten, wie es immer wieder vorkam. Unbemerkt in dem ganzen Wirbel fummelte er unter dem Kaftan an seiner Hose herum bis er endlich das in der Hand hatte, was er wollte. Er beugte sich vor und wollte schon sein Werk ausführen, da wurde er von hinten angestoßen und rempelte Yilmaz unabsichtlich an. Dieser drehte sich freundlich lächelnd zu ihm um: „Hast du ein Problem? Ist dir nicht gut?“ Hyrtl lächelte seinerseits, musste allerdings einmal schlucken bevor er leise erwiderte: „Elnézést, testvér. Entschuldige, Bruder.“ Nach einer Weile, es strömten immer mehr Menschen in das Gebäude, wagte er einen erneuten Versuch. Niemand beachtete ihn, als er nahe an sein Opfer herrückte und ihn leicht an der Schulter berührte. Dann packte er fest zu, zog die Schnur stramm und ohne große Anstrengung, strangulierte er Yilmaz. Es gab nur einen kurzen Kampf, den Hyrtl mit einer Kopfnuss beendete, die ihm Kopfschmerzen bescherte. Dann setzte er den Toten in gebückter Haltung hin, klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter und sagte: „Viszlát. Wir sehen uns später.“ Jetzt kam es auf jede Minute an. So rasch es ging, marschierte er zu einer der tragenden Säulen, hielt sich unauffällig daran fest, um unbemerkt den Sprengstoff anzubringen. An zwei weiteren Säulen machte er es ebenso. „Es geht los“, flüsterte er in das kleine Kommunikationsgerät, das an ihm verborgen war, nachdem er mit seiner Arbeit fertig war. „Ronja und Alf seid ihr auf Position? Attila, halte deine Männer bereit. Hans, wo seid ihr?“
„Bereit“, tönte es in seinem Ohr, sodass er das Gefühl hatte, jeder in seiner Umgebung müsste es hören. Es herrschte noch eine große Unruhe. Leute wurden herumgeschoben und unterhielten sich. Doch langsam wurde es ruhiger in den vorderen Bereichen der Moschee und Hyrtl musste zusehen, dass er hinauskam. Jemand in seiner Hörweite erwähnte einen neuen Vorbeter, den alle sehen wollten und der überraschend in Pest angekommen war. Hyrtl zog eine Augenbraue hoch, das war interessant, da konnten sie vielleicht noch mehr anrichten als geplant. Vorsichtig schaute er sich um, niemand beachtete ihn.

Er bahnte sich zwischen den stehenden, sitzenden und knienden Leibern seinen Weg nach ganz hinten, dann hinaus. Auch der Vorplatz war gerammelt voll. Es dauerte eine Weile bis er sich zum Eingangstor durchgeschlängelt hatte und er befürchtete schon, zu spät zu sein und ein unrühmliches Ende zu nehmen. Doch schließlich gelangte er zum Tor hinaus und fand sich auf der breiten Hauptstraße wieder. Dort sah er, wie die Polizisten bereits die anderen Gläubigen eskortierten, die nicht gerade freundlich oder friedlich dreinschauten. Sie füllten das Gebetshaus weiter und das Gedränge dort wuchs beständig.

Eine Weile beobachtete er nur und lauschte. Dann ging er zum Treffpunkt. Dort fand er bereits Attila wartend vor, der seine Anspannung nur mühevoll beherrschen konnte. Hyrtl nahm grinsend zur Kenntnis, dass der nun seine schwarze Uniform trug, die ihn größer erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Rasch zog er selbst den Kaftan aus, griff nach dem Funkgerät und gab die weiteren Befehle durch. Danach fragte er: „Wo ist Ronja? Sie müsste schon hier sein.“
„Ich weiß es nicht“, kam die zögerliche Antwort. Hyrtl schnaubte, packte abermals das Funkgerät und rief beinahe hinein: „Ronja! Wo bist du?“ Nach einer Weile hörte er es knacken und rauschen und aus dem Funkgerät tönte es blechern: „Ich komme hier nicht mehr raus. Die haben den Frauenteil abgeschlossen. Zu viele Leute.“ Sie machte eine kurze Pause. Hyrtl hörte sie deutlich schlucken. „Wir halten am Plan fest, Georg. Keine Sentimentalitäten. Machs gut.“ Dann herrschte Stille. Sie hatte den Knopf aus dem Ohr genommen. Hyrtl konnte sie nicht mehr erreichen. „Na, schön“, murmelte er nach einer Weile. „Alf, bist du da?“ Als er eine bestätigende Meldung erhielt, nickte er Attila zu, hob den rechten Daumen und kurz darauf gab es eine erste Explosion, der nur einen Lidschlag später drei weitere folgten. Die Druckwelle ließ sie sich ducken und die Köpfe bedecken. Sie waren nicht weit genug entfernt und rannten nun los, damit sie von den herum fliegenden Trümmerteilen nicht getroffen wurden. Für Hyrtl schien sich die Zeit zu verlangsamen. Er hatte das Gefühl durch Sirup gelaufen zu sein, als er sich hinter einen Hauseingang warf. Nur wenigen Minuten nach der Explosion tönten Sirenen und vermischten sich mit dem Geschrei der Überlebenden und in Panik davonlaufenden Menschen. Dazu kam noch das Brüllen des Feuers, das kurz nach der Explosion ausgebrochen war. All das füllte den Himmel, wurde nur noch überlagert vom Staub, der die Sicht auf das Grauen nahm, das sie veranstaltet hatten.

Hyrtl fühlte Staub zwischen den Zähnen was ihn spucken ließ. Ärgerlich auf sich, weil er Ronja verloren hatte, lief er zum Eagle, der eben die Kreuzung passierte und beinahe mit einem Feuerwehrauto zusammengestoßen wäre. Er sah das Durcheinander aus Menschen und Fahrzeugen, die nicht wussten, was geschehen war und was sie jetzt tun sollten. Zur allgemeinen Verwirrung kamen auch noch die Soldaten aus der Garnison, die er den ganzen Tag sinnlos durch die Stadt hatte jagen lassen. Hier würden sie nur noch Trümmer bergen können.

Auf dem Weg zum Panzer scheuchte er Leute herum, verwies sie an die heranrasenden Ambulanzwagen und die Polizei. Er half mit, ein Absperrband anzubringen, denn auch Schaulustige waren bereits eingetroffen und trugen zu dem allgemeinen Chaos bei. Dann ging er zu Attila, der so tat als wäre er eben erst mit seiner Einheit hier eingetroffen und redete mit ihm. „Ronja - sie hat es nicht geschafft, nicht wahr?“, fragte er. Hyrtl schüttelte den Kopf. Sehr laut redete er im Befehlston: „Sind genug Krankenwagen vor Ort? Sagen Sie Ihrem Vorgesetzten, dass er sich bei dem diensthabenden Offizier der Militäreinheit melden soll. Ich habe sie vorhin hier ankommen sehen.“
„Jawohl, Herr Hauptmann“, antwortete Attila reflexartig. Kommandostrukturen erleichterten vieles, man konnte sich dahinter verstecken. Schon wollte er sich auf den Weg machen, da hielt ihn Hyrtl noch einmal zurück: „Warten Sie.“ Als sich der andere wieder umgedreht hatte, flüsterte Hyrtl: „Es tut mir Leid.“ Dann atmete er tief durch und fuhr anschließend fort: „Wir treffen uns in fünf Stunden vor der Spelunke, dann zeigen wir diesen Typen mal, wie man mit Kinderschändern umgeht, in Ordnung?“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Sie dürfen ruhig sagen, dass Nurculuk vor Ort ist und die Sache prüfen wird.“
„Igen, kapitány, wird sofort erledigt.” Damit rannte er beinahe davon. Hyrtl machte kehrt, marschierte jetzt schnurstraks zum Eagle und kletterte hinein. Dabei ignorierte er die Leute, die ihn angsterfüllt anstarrten, denn die Behörde hatte er absichtlich in voller Lautstärke erwähnt, das würde hier für ein wenig mehr Ruhe sorgen und brachte ihnen etwas Respekt ein, denn er konnte ungehindert passieren.
„Sigi! Hans! Ist Alf da?”, fragte er. Es war heiß im Panzer und er nahm die Kappe ab. „Alf ist schon da”, antwortete Alf. „Es hat gut geklappt. Mal sehen, was die heute Abend in den Medien berichten werden. Wieviele von den Typen haben wir erwischt? Mehrere Hundert? Verluste auf unserer Seite: wieder mal keine.” Er grinste zufrieden, doch das Lachen gefror ihm, als Hyrtl antworetete: „Halt die Klappe, Alf. Wir haben einen Verlust zu verzeichnen. Der Frauenbereich war abgeschlossen, Ronja hat es nicht geschafft.”
„Verdammt”, war alles, was Alf dazu sagte. Danach war es sehr still im Panzer. Sigi startete den Motor und sie fuhren für’s Erste noch einmal durch die Stadt und dann zurück in die Kaserne.

Die Stunden vergingen mit Reinigen und Packen der restlichen Ausrüstung, die sie noch in ihrem Quartier belassen hatten. Sie waren ungewöhnlich schweigsam, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Noch nie war bei einer ihrer Aktionen einer der Kameraden umgekommen. Ronja war zwar mit keinem von ihnen näher bekannt gewesen, doch sie hatten sich ab und zu bei den diversen inoffiziellen Aktionen getroffen und mehr oder weniger locker zusammen gearbeitet. Ihr Tod machte ihnen die eigene Sterblichkeit bewusster, und dass nicht jedes Detail planbar war.

Hyrtl hatte sich sofort nach Ankunft in der Kaserne in der Kommandantur gemeldet und auf den Oberst eingebrüllt. „Sie Idiot! Warum haben Sie meine Befehle nicht befolgt? In Pest ist die Hölle los! Sie werden noch anderen Besuch bekommen, wenn wir wieder weg sind und Sie können froh sein, wenn Sie danach tot sind!”
laß blos
den "Alf" nicht sterben....*lol*
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Themenersteller 
Wir werden sehen, wer am Schluss noch übrig bleibt - aber bis dahin kann es noch ein wenig dauern *fiesgrins* Es sind noch alle Fäden lose und die Verbindung werde ich jetzt langsam zu gestalten anfangen. Es ist hoch an der Zeit, die Fäden 76 n.U. und 223 n.U. zusammen zu bringen.
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