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Die Kreuzer (Teil 1)

nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Die Kreuzer (Teil 1)
Ausgrabungsstätte im ehem. Rom, Sommer 223 nach Unterwerfung.

Einige unverbesserliche Neugierige hatten sich im Jahre 221 n. U. auf den Weg zu den Ruinen von Rom gemacht.Eifrig gruben sie nach Schätzen und versuchten die Vergangenheit zu rekonstruieren. Unschätzbare Kunstwerke hatten sie zu Tage befördert und katalogisiert. Doch der Administration in Ankora, wo die Weltregierung saß, war dieses Unterfangen ein Dorn im Auge. Die Forscher wurden streng kontrolliert und bewacht. So kam es, dass sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihre Arbeit fortführten. „Europa ist groß“, schrieb die inoffizielle Leiterin der Expedition in ihr Tagebuch. Dann wurde einer ihrer Assistenten von der Polizei erwischt, wie er mit einem Ausgrabungsstück zu ihr fahren wollte. Sie hatten ihn sofort exekutiert. Den Grund für diese unnötige Eile erfuhren sie nie. Jusef war weg und niemals er fuhr jemand etwas von seinem grausamen Schicksal.
Bereits am nächsten Tagen kam die erste Aufforderung, dass sie die Stätte zu verlassen hatten, denn es wäre jetzt militärisches Sperrgebiet. Sie ließen sich nicht beirren und machten weiter. Doch als sie wenige Tage später große Lastwagen und Panzer anrollen sahen, räumten sie das Gebiet.

Die Ausgrabungsstätten wurde es zerstört. Kein Stein, so tief er auch vergraben gewesen sein mochte, blieb auf dem anderen. Alles hatte die unterirdisch gezündete Atombombe zerstört.

Nicht ganz, doch das wusste die Administration in Ankora noch nicht. Durch Europa war ein Erdbeben gefahren, das sogar noch in Hammburk zu spüren gewesen war und die Mess-Station in Nordphol hatte Ausschläge registriert. Doch das wurde verheimlicht.
Die Forscher waren mit knapper Not entkommen und in den Norden geflohen, sie schnell es mit den Artefakten ging. Es waren eine kleine Silberdose, eine Flasche, Teile einer Orgel und ein Kruzifix, die sie in einem Wagen versteckt hielten. Bei jeder Kontrolle schwitzten sie Blut und Wasser und fragten sich, wann sie entdeckt würden. Doch sie kamen Heil über die Berge in ihre Heimatstadt. Schon von weitem grüßten sie die hohen, schlanken Gebetstürme, die elegant wirken mochten, doch meistens nur bedrohlich aussahen.

Es dauerte weitere zwei Jahre bis sie die Fundstücke in sicheren Verstecken verwahrt hatten und sicher sein konnten, nicht mehr überwacht zu werden. Jeder hatte sich wieder eine unverdächtige Arbeit gesucht und benahm sich so, wie es die Administration für sie vorsah.

Viyanna, ehem. Wien, später Herbst 223 n. U.

„Sehr verehrte Gläubige, Brüder und Schwestern, grüßen und ehren wir zuallererst den Göttlichen, der uns mit seinem Strahl beschwingt in dieses Jahrtausend des Friedens und der Freude gebracht hat“, verkündete der Mann im weißen Anzug feierlich.
Stumm standen zehn Männer und zwei verhüllte Gestalten, es mochten Frauen sein, in der Halle des Friedens. Dann wurden die Verhüllten zurückgelassen und die Männer wanderten nach vor ins ehemalige Presbyterium. Der Mann im weißen Anzug redete derweil ohne Unterlass weiter. Es schien eine Art Mantra zu sein, denn er wiederholte es ohne Unterlass, so als versuchte er einen Schutzschild aufrecht zu halten oder eine Meldung weiterzugeben.

Als die Männer weg waren, wurden die Frauen geschäftig. Es war keine Unterhaltung zu hören, doch eine Gestalt nickte und schob eine Hand aus dem Umhang. Rasch machte sie ein Zeichen und es kamen noch zwei Gestalten aus verborgenen Nischen. Kein Geräusch war zu hören, als sie sich in einer Nische begegneten. Dann drückte die Erste der Vier auf einen Stein, der versenkte sich und gab geräuschlos eine Treppe nach unten frei. Als Alle sicher die unebenen, von zahlreichen Füßen glatt polierten Steinstufen hinabgestiegen waren, wurde abermals ein Mechanismus in Gang gesetzt, der das Tor wieder sicher verschloss. Erst jetzt machte sie Licht, zog den Umhang vom Kopf und alle atmeten hörbar auf. „Ulf, Thamira, Brec, ich freue mich, euch zu sehen“, sagte sie. „Wir freuen uns auch, Livia. Es ist lange her, dass einer unserer Brüder oder eine Schwester hier war“, flüsterte Brec. „Ja, Leute, es ist wahrlich lang her. Doch nun nähert sich unsere Zeit – eine Zeit der freien Gedanken wird wieder anbrechen, Leute. Wir habe den Schlüssel gefunden …“ Sie redete nicht weiter, sondern drehte sich um und ging aufrecht den dunklen Gang entlang. Wo immer sie auch ging, wurde es hell. Keiner vermochte zu sagen, wie das Licht hier unten funktionierte und wer vor vielen tausend Jahren diesen Automatismus eingebaut hatte. An einigen Steinen waren Fische eingraviert, an anderen verblassende Zeichen, die nicht mehr mit Sicherheit gedeutet werden konnten. Livia ging zielstrebig weiter, bog einmal rechts ab, dann wieder links und immer dort, wo sie ging, breitete sich samtiges Licht aus. Hinter Brec, der als letzter ging, wurde es wieder dunkel.

Endlich, der Marsch hatte mehrere Minuten in Anspruch genommen und sie waren schon lange nicht mehr unter den Hallen des Friedens, öffnete sich ein vor ihnen ein Saal mit hoher Decke, die von mehreren Säulen im dorischen Stil getragen wurde. Hier waren schon zahlreiche Menschen versammelt. Alle trugen einfache Tuniken und Hosen, doch darüber hatten sie alle eine Art Wappenrock. Es war ein weißes viereckiges Stück Stoff, das über den Kopf gestülpt wurde, das um die Mitte mit einer Kordel gehalten wurde. Vorne und hinten zierte es ein großes schwarzes Kreuz. Thamira und Livia entfernten ihre Schleier und zu viert gingen sie zu so etwas, das einen Altar darstellen mochte.

„Simineon“, sagte Livia, als sie vor dem großen aber leeren Tisch standen. Ein eindrucksvoller Mann wendete sich ihnen zu und lächelte, als er sie erkannte. „Tochter, wie schön, dich wieder einmal hier in den Heiligen Hallen des Grals zu sehen. Was führt dich hierher aus der Welt der Unsicherheiten und des Gleichschritts?“
„Vater, wir haben etwas entdeckt, das wahrscheinlich unentdeckt hätte bleiben sollen. Thamira hat es gefunden, Brec und Ulf haben es geborgen und zu mir gebracht. Leider ist es so groß, dass ich es nicht gefahrlos in die Hallen bringen konnte. Nur das hier.“ Sie zog eine Flasche aus dem Umhang hervor und ein kleines silbernes Etui. „Was soll ich damit, sieht sehr antik aus, das Zeug, Livia? Es scheint nicht religiös zu sein“, er klang zweifelnd und blickte von einem Gesicht zum anderen. In allen las er Furcht und Entschlossenheit. Dann lächelte er und nahm zuerst das Etui. Es war etwas beschlagen und der Glanz war schon lange verloren. Mit einem Zipfel seiner Robe polierte er es und zum Vorschein kamen verschiedene ineinander geschlungene Ornamente, die sich um eine Pyramide rankten über der ein Auge schwebte. „Hm“, machte er. „Diese Symbole habe ich schon einmal gesehen.“ Entschlossen zwang er das Behältnis auf und blickte ins Innere. Krümel eines trockenen Krautes waren zu sehen und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein. Es war einmal ein wertvolles Stück, das wusste er. Lange Jahre im Verborgenen hatten ihn gelehrt, Gerümpel von Wertvollem zu trennen, das Wertvollste, was er je gefunden hatte, war ein Wasserspeicher, den sie noch immer nutzten. „Das könnte auf dem Schwarzmarkt einiges bringen, aber wozu es gut sein soll, kann ich nicht sagen. Das Etui werde ich behalten. Ich möchte die Schriftzeichen darauf analysieren. Dann sehen wir uns mal die Flasche an.“ Die Flasche und das Etui wechselten ihren Platz und nun hielt der Mann die Flasche ins Licht. Auf ihr war nichts zu erkennen, keine Reste irgendwelcher Malereien, keine Muster, gar nichts. Langsam löste er den Schraubverschluss und hielt sich den Flaschenhals unter die Nase. Vorsichtig schnupperte er. Es tat sich nichts. Die Flasche war leer, nicht einmal Gas, denn die Luft, die darin eingeschlossen gewesen war, war mit dem Öffnen der Flasche entwichen. „Hm … Wo habt ihr das gefunden, Kinder? Und was habt ihr noch entdeckt?“
Endlich kam die Frage. Es war die wichtigste und alle vier waren sie aufgeregt. Doch es war Ulf der dann endlich den Mut aufbrachte und von dem Kruzifix berichtete.
„Wo, Bruder, wo habt ihr es gefunden und wie um des Herrgottwillens ist es zu euch gekommen?“, Simineon brüllte diese Frage beinahe und es wurde mucksmäuschenstill in der Halle. Ulf räusperte sich und setzte zum Sprechen an, doch Livia sprach schließlich weiter: „Vater Simon, lange hat es gedauert, bis wir die Überreste von Rom durchforstet hatten und wir mussten oft nachts arbeiten, denn die Gedanken- und Religionspolizei sollte uns nicht erwischen. Du kennst das Spiel.“ Er nickte stumm, dann setzte er sich auf den Tisch und wartete auf die Fortführung des Berichts. „Ja, es war gefährlich, Vater“, stimmte nun Thamira mit ein. „Aber wir sind schließlich auf etwas Großes gestoßen, es ist so groß und so schön, das kannst du dir nicht vorstellen. Doch vorher fanden wir die Reliquie. Es ist ein einfaches Holzkreuz, Vater, auf dem man noch deutlich das Abbild eines Menschen erkennen kann. Es muss uralt sein, denn seit es die Friedensbewegung gibt, ist jedes menschliche Bildnis verboten. Viel ist nicht mehr zu erkennen, aber die Figur scheint männlich zu sein. Vom Gesicht kann man nicht mehr als die Augenhöhlen erkennen. Du wirst staunen, wenn du es siehst. Er sieht trotz der brutalen Machart so sanft aus. Das andere ist ein Musikinstrument, zumindest war es einmal eines. Wir haben nur den hölzernen Körper gerettet. Leider mussten wir die Metallteile zurücklassen. Du weißt ja, wie die Behörden auf Metalle reagieren.“ Sie seufzte und dieses Geräusch setzte sich fort, bis die Menschen im gesamten Saal seufzten. Jeder wusste, wie die Ämter auf Metall reagierten – und die Kreuzer trugen zumeist viel Metall mit sich herum, zumeist waren es gut versteckte Messer und Äxte, die gut unter dem Wappenrock getragen werden konnten oder auch leicht in der Hose oder den Hemdsärmeln verschwanden. Auch und besonders unter den Körperschleiern der Frauen konnte man viele Waffen mitnehmen. Einige Männer waren bereits dazu übergegangen, sich diese Schleier zu besorgen und manchmal wagte sich einer von ihnen in Frauenkleidern in die Stadt und richtete irgendwo ein kleines Blutbad an, bevor er sicher wieder in der Menge verschwand.

„Ich bin sprachlos, Kinder“, murmelte der alte Mann. „Niemals dachte ich, ich würde ein Kruzifix sehen. Bring mich hin, Livia. Lass mich es berühren, wenn ich danach sterben muss, ist es mir einerlei, denn meine Gedanken wurden erhört.“ Die junge Frau sah Tränen in den Augen des alten Anführers, aber er schien es nicht zu bemerken, zu bewegt war er von den Nachrichten. „Vor über zweihundert Jahren, Kinder, war Rom das Zentrum unseres Glaubens. Ich denke, der Fisch wird sich wieder auf die Wanderung machen und die Kreuzer, werden ihm sicheres Geleit geben.“ Er schlug mit der rechten Hand auf seine Brust ein und etwa hundert Menschen taten es ihm gleich. „Ja! Wir machen uns auf den Weg, Kameraden, Brüder und Schwestern! Der Weg ist bereitet, wir haben ein Ziel!“, brüllte er und dann wurde es mit einem Mal totenstill.

Unheilschwanger breitete sich die Stille aus, wie Sirup schien sie von der Decke zu tropfen. „Gas“, flüsterte Simineon. „Lauf, Tochter und rette alle, die du retten kannst. Lauf.“ Entschlossen drückte er noch einen Knopf und ein Kasten sprang auf. Er sank zu Boden und zog eine Maske hervor, die drückte er sich einen Moment vor das Gesicht und atmete tief ein und wieder aus. Danach drückte er sie Livia in die Hand, eine zweite gab er Ulf. „Ihr … geht … schnell …“ Ulf drückte sich die Maske vor Mund und Nase und schob sich die Halterung über den Kopf, dann machte er das bei Livia, welche die Augen nicht von ihrem Vater und den sterbenden Freunden wenden konnte. „Schnell“, drängte er und hörte seine Stimme selbst nur gedämpft und fremd. Er packte Livia am Handgelenk und zog sie fort. Am Ausgang des Saals, griff er nach Körperschleiern und bedeckte sich und Livia damit. Mit den Masken war es nicht perfekt aber auf den ersten Blick waren sie so nicht zu erkennen.

Vorsichtig pirschten sie sich voran. Das Licht funktionierte nicht mehr, das hatte Simineon noch erledigt. In den Katakomben war es so dunkel, dass sie vorsichtig mit den Füßen über den unebenen Boden tasten mussten, um nicht zu straucheln. Minutenlang schlichen sie so dahin, Schweiß bedeckte ihre Körper, denn es war heiß und unter den Schleiern staute sich die Hitze noch mehr.
„Feuer“, murmelte Ulf.
„Laufen, schneller“, keuchte Livia. „Zu mir heim, Zugang …“
„Nein … nicht da lang.“
Ulf nahm eine andere Abzweigung und langsam wurde die Luft etwas kühler. Einen Moment blieben sie stehen, um zu Atem zu kommen und schauten sich in der Dunkelheit um. Hinter sich konnten sie einen fahlen Lichtschein erkennen.
„Feuer …“, flüsterte Ulf, dann schüttelte es ihn. „Weiter, Liebes, den nächsten Ausgang hoch, dann zu dir … Artefakt und losrennen, wie die Dyms von früher.“ Schweigend gingen sie weiter, kletterten eine Leiter hoch und kamen in ein weiteres verzweigtes unterirdisches Wegenetz. „Ah, jetzt weiß ich wo wir sind“, flüsterte Livia, die sich am Geruch orientiert hatte. Sie schloss die Augen und schnupperte. „Es ist der alte Abwasserkanal, es gibt einen Aufgang zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt.“
„Gut zu wissen. Wir holen jetzt das Ding und dann tauchen wir für einige Zeit ab … ich will nicht, dass uns die Roten zu bald erwischen.“
„Ich weiß. Ich dachte nicht, dass sie uns auf den Fersen sind, oder zumindest nicht, dass sie schon so nahe sind. Vater …“ Ulf nahm ihre Hand und drückte sie fest, dabei schaute er sie unentwegt an, bis sie den Druck erwiderte. Es war etwas, was die Roten schon vor langer Zeit verboten hatten. Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Sie wussten, dass alle ihre Freunde in den Katakomben verbrannt waren und sie trauerten um sie, doch noch hatten sie keine Zeit, die notwendigen Rituale zu machen oder für sich Worte des Trostes zu finden. Das Überwesen würde es verstehen, davon gingen sie aus, denn für sie war es ein freundlicher Geist, der den Menschen nur Gutes wollte.

„Hier sind wir“, flüsterte Livia als sie über sich Licht erkannten.
„Jetzt aber schnell, bevor sie uns kriegen, diese Friedgläubigen“, murmelte Ulf mit grimmigem Blick. „Ich hab zwar noch einige kleine Schätze, aber die heben wir für den Notfall auf, nicht in der Stadt.“ Livia nickte, auch sie hatte einige dieser Dinger an sich versteckt und sie konnte damit gut umgehen. Dann stieg sie die Leiter hoch, die an einem Kanaldeckel endete. Mit den Schultern stemmte sie ihn hoch, dann schepperte es gewaltig und sie sprang hinaus, dicht gefolgt von Ulf. Sofort liefen sie in den Schatten des nächsten Hauses. Von überall her hörten sie die neuesten Meldungen des Tages, die besagten, dass ein Terrornetzwerk ausgehoben worden sei. „Wir wollen doch nur in Ruhe gelassen werden von diesen gottverlassenen Menschen“, zischte Livia zornig. Ulf schüttelte den Kopf, als er merkte, wie sie unter dem Umhang nach etwas tastete. Er nahm an, sie suchte nach einer kleinen Sprengladung für die Lautsprecher, aber es wäre taktisch mehr als unklug, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. „Die bekommen noch ihre Heimsuchung, Liebes, jetzt erst einmal das Artefakt.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da stürmte eine laut rufende Menschenmenge an ihnen vorbei: „Bringt sie an den Galgen! Das Lumpenpack soll hängen! Wofür zahlen wir denn Steuern, wenn wir diese Verbrecher noch durchfüttern müssen! Weg mit denen! An den nächsten Laternenpfahl! Knüpft auf das Gesindel!“ So waren die Rufe der Demonstranten, die für den Frieden und die Freiheit auf die Straße gingen. Es war die gewohnte Freitagsdemo vor dem Gebet. Die meisten trafen sich vor dem Hauptgebeteshaus in der 1. Straße.
Livia und Ulf drückten sich in einen Hauseingang.

[Fortsetzung folgt …]
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Die Kreuzer (Teil 2)
Als die brüllende Menge an ihnen vorübergezogen war, warteten sie noch einige Minuten, erst dann gingen sie mit heftig klopfenden Herzen weiter. Beide hatten Angst, nicht einmal in den Ruinen Roms war ihnen die Situation so bedrohlich vorgekommen. Wie schon dort, summte Ulf leise eine Melodie, die Livia durch Mark und Bein ging. „Was ist das für ein Lied?“, fragte sie flüsternd, erntete jedoch nur leises Gelächter. Nach einer Weile, die sie schweigend voranschritten, hörte sie ihn singen: „Sound the horn and call the cry,
How many of them can we make die!“ Er lachte leise, als er merkte, dass sie den Text verstanden hatte. „Nun, wie viele, denkst du, werden wir am Ende mitnehmen, bevor wir ins Gras beißen, Liebste?“, meinte er munter.
„Du bist verrückt“, zischte sie. Dann schwiegen sie erneut und erst als sie an ihrem Häuserblock angelangt waren, wurden sie wieder lebendiger. Vorhin waren sie wie ferngesteuert gegangen. Nur nicht auffallen, lautete die Devise. Sie mussten das eine Artefakt in Sicherheit bringen. Livia drückte die Tür auf und rasch liefen sie in den sechsten Stock hoch.

Schwer atmend kamen sie bei ihrer Tür an und bemerkten, dass sie bereits geöffnet worden war, denn das Schloss fehlte. „Mist“, murmelte sie, ging aber trotzdem hinein. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Sich rasch nach allen Seiten umblickend, folgte ihr Ulf. Ohne sich dessen bewusst zu sein, sicherte er den Eingang. Mit einer Hand tastete er nach dem Griff eines Jagdmessers, das ihm am besten in der Hand lag. Gegen Schusswaffen würde er damit nichts ausrichten und viele der Polizisten, vornehmlich die bei der Ideologieüberwachung, waren allesamt Feiglinge. Trotzdem gab ihm der harte Griff ein Gefühl der Sicherheit und Macht, ganz so harmlos wie er wirkte, war er nicht.

Im Wohnschlafzimmer, das direkt an den kleinen Flur anschloss, schauten sie sich verblüfft um. Das Bett war umgeworfen, die Matratze aufgeschlitzt, ebenso waren alle Bilder von den Wänden genommen und vernichtet worden. Zahlreiche Fotografien, die sie mit ihren Eltern oder später mit Kollegen zeigte, waren zerschnitten worden. Auf keinem der Bilder war auch nur eine Frau verhüllt und die Männer waren glatt rasiert und trugen das Haar kurz.
„Deine Familie einen etwas auffälligen Lebensstil“, murmelte Ulf, der die Reste eines Bildes in Händen hielt. „Bei deiner Familiengeschichte sollte man meinen, die hätten dich schon viel früher auf ihren Monitoren gehabt. Du hast Glück, Livia.“ Er gab ihr das Foto, das sie mit ihrem Vater zeigte, doch beiden waren die Köpfe abgeschnitten worden. „Denkst du, sie haben es gefunden?“
„Nein. Machst du Kaffee?“
„Klar. Wo hast du das Gift?“
Sie beschrieb ihm alles und schlich dann ins Badezimmer. Ihr Herz fühlte sich an, als wäre es versteinert oder vereist und in der Magengegend hatte sie ein Gefühl, als wäre sie heftig geschlagen worden. Wehmütig dachte sie an ihren Vater, den berühmten Anführer der Kreuzer des Nordens. Sie wusste, dass es anderswo auch noch welche gab, die wie sie dachten und die Diktatur des Friedens ablehnten. Aber wo diese Leute waren und wie sie zu ihnen gelangen sollten, das wusste sie nicht. Es war eine Herausforderung, der sie sich jetzt in ihrer zerstörten Wohnung nicht gewachsen fühlte. Dennoch machte sie beinahe trotzig weiter. Das Artefakt musste in Sicherheit gebracht werden. Es war mehr als ein Zeugnis der Vergangenheit, es war die Bestätigung all dessen, an das ihr Vater geglaubt hatte. Energisch verbot sie sich jeden Gedanken an ihre Familie und ging heftig blinzelnd die zwei Schritte zur Wand. Mit wenig Energieaufwand entfernte sie den Spülkasten über der Klomuschel und griff in das entstandene Loch. Heraus zog sie ein mittelgroßes Bündel, das sie sofort unter ihren Umhang schob und dort in eine der zahlreichen Taschen verschwinden ließ. Rasch schloss sie den Tresor und drehte sich um. Genau gegenüber war ein kleiner Wandspiegel und daraus starrten sie jetzt zwei blaue Augen traurig an. Sie war groß, größer als der Durchschnitt und es war ihr nicht möglich, sich in einer Menschenmenge zu verbergen, zu auffällig war ihre Ähnlichkeit mit der verlorenen Rasse, die hier vor der Unterwerfung gelebt haben sollte. Doch von denen wusste sie nichts anderes, als dass sie groß und blond gewesen waren und viel auf Bildung hielten. Angeblich waren aus ihrer Mitte zahlreiche Geistesgrößen hervorgegangen, aber davon gab es nur hinter der Hand vorgetragene Vermutungen, keine Beweise, keine Fakten. Etwas musste aber dran sein. Und dann stand ihr die Frage nach dem „Warum“ ins Gesicht geschrieben. Sie verstand die Gleichmachung der Völker nicht, den Austausch der Gene, wie sie es nannte, der vor fünfhundert Jahren begonnen hatte und schleichend von statten gegangen war. Erst als die Umstrukturierung Europas eigentlich der ganzen Welt nicht mehr aufzuhalten gewesen war, kam die Friedensbewegung und machte alle gleich mit ihrer Ideologie. Livia hasste sie, auch wenn ihr Glaube dieses Gefühl verbot. Noch mehr Grund das Regime abzulehnen, hatte sie jetzt, nachdem all ihre Freunde ermordet worden waren. Das schrie nach Vergeltung. Die ebenmäßigen Gesichtszüge verhärteten sich und es hatte den Anschein als würde eine Walküre aus dem Spiegel starren.
„Liv, sag mal, … verdammt, hast du keine Filter?“, diese Frage riss sie aus ihren Gedanken. Natürlich besaß sie Kaffeefilter, sie mochte den türkischen Kaffee nicht, den konnte man nicht ordentlich trinken, wegen des Kaffeesuds.
„Nein!“, brüllte sie trotzdem und ging in die Küche zu Ulf.
„Mist. Dann will ich meinen Kaffee woanders trinken. Du weißt doch, wie ich das bröselige Zeug verabscheue. Komm und hilf mir suchen.“ Seufzend wandte sie sich ihm zu und noch bevor sie etwas sagen konnte, packte er sie und schob sie aus der Tür. Ihre Proteste ignorierte er, zischte lediglich: „Raus hier.“
Während Livia das Artefakt geholt hatte, hatte er die Zeit genutzt und sich gründlicher umgesehen. Seine Ausbildung als Polizist kam ihm jetzt zugute. Nur mit den Blicken und von seinem Standpunkt in der Mitte des Wohnzimmers, betrachtete er die Verwüstungen, dann ging er in die Küche. Auch dort sah es kaum besser aus. Die Schranktüren hingen schief in den Angeln, die Schubladen lagen am Boden. Dennoch tat er so, als würde er Kaffee kochen wollen. Nie war er als Polizist registriert worden, weil er vor der Abschlussprüfung und der Vereidigung auf das Regime auf Befehl von ganz oben abgelehnt worden war. ‚Ihr Vollidioten, das kann euch jetzt teuer zu stehen kommen. Aber vielleicht ist es auch besser so. Ich hätte nicht auf meine Freunde schießen können, oder Bücher verbrennen oder schlimmeres’, dachte er oft, wenn ihm die Ungerechtigkeit bewusst wurde. Nach diesem Rückschlag hatte er das Sanitätshandwerk gelernt, da hatte er mehr als genug zu tun, denn Messerstechereien unter den Bewohnern dieser Satellitensiedlungen waren an der Tagesordnung. Nun stand er einem Problem gegenüber, das sich Staat nannte und ihn zu fassen kriegen wollte, weil er sich nicht an die Spielregeln hielt.
Er fand einige bedenklich anmutende Dinge in der Wohnung, die hier nichts zu suchen hatten, eines davon war ein Abhörgerät, das aus seinem Versteck gefallen sein musste und dann wurde ihm mit einem Mal die Stille in der Wohnung, nein im ganzen Haus bewusst und es zog ihm eine Gänsehaut über den Rücken.

Hastig zog er Livia die Treppe hinab und hielt erst an, als sie zwei Straßen weiter an eine Absperrung kamen. „Was hast du?“, fragte sie zornig. „Da drin war niemand.“
„Bis auf ist niemand in dieser Siedlung. In Deckung!“ Noch während er sprach warf er sich zu Boden und zog Livia mit sich. Schon bedeckte sie grauer Staub und der Lärm der Detonation machte sie beinahe Taub. Livia schrie und brüllte hysterisch als ihr bewusst wurde, dass sie noch vor wenigen Minuten in dem Haus gewesen war, das jetzt nur noch ein Haufen Beton und verbogenes Eisen war.
Die Ruhe war jetzt umso tiefer und Livias Rufe waren weithin zu hören. „Still, Livia! Wir müssen weiter, weg hier, denn die Aufräumarbeiter werden bald eintreffen.“
„Mich wundert, dass die das heute gemacht haben, am Bet-Tag“, meinte sie schließlich schniefend. „Mich auch, wahrscheinlich mussten sie rasch handeln. Weg hier.“ Schon wollte er sie weiterzerren, da sank vor ihnen ein Foto zu Boden. Es war bei der Explosion nicht vernichtet worden und hatte alles unbeschadet überstanden. Ulf bückte sich und hob es auf. Schmunzelnd reichte er es Livia.
„Sound the horn and call the cry, how many of them can we make die”, sang er abermals. „Wir lehren sie das Fürchten. Diese Diktatur besteht schon zu lange.“

[Fortsetzung folgt ...]
*wow* Herta!
Faszinierend, atemraubend.
Da hast du dir wieder was ausgedacht!
Bilder. Und Fragmente von Erinnerungen...
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Jetzt geht's aber los, liebe Herta!

Das wird ja wieder was ...

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Vielen Dank euch beiden.

Ich hoffe doch, dass es etwas wird *zwinker*

Das Thema gibt ja viel her.

*blume*

Herta
Mein lieber Schwan - - -

*top* Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Teil 3
„Wie sollen wir jetzt hier wegkommen und wohin gehen wir?“ Livia fühlte sich nach der Explosion nur noch müde. Ulf hatte vorgehabt, zuerst in sein Versteck zu gehen und die Reserven aufzufüllen. Das war notwendig, wenn sie irgendetwas gegen das Friedensregime ausrichten wollten.
„Kennst du den alten Flak-Turm?“ Er schaute sie forschend an, als sie nickte, meinte er weiter: „Dorthin gehen wir. Der Kaifa wollte die Ruine zwar schon schleifen lassen aber die Kosten dafür sind zu hoch. Seit Jahren habe ich dort ein kleines Lager eingerichtet. Du bist die erste Person, der ich das zeigen werde.“ Erstaunt blickte sie ihn an. Dann rieb sie sich mit den Händen über das Gesicht, eine für sie typische Bewegung, wenn sie nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Es erstaunte sie, dass ihr ehemaliger Partner, ein einfacher Sanitätshelfer, so vorausschauend planen konnte, wo sie es nicht fertigbrachte, weiter als bis zu ihrer Nasenspitze zu denken. Besonders jetzt fiel es ihr zunehmend schwer, sich auf etwas zu konzentrieren. Der Tod so vieler Freunde und des Vaters, den sie erst vor wenigen Jahren kennen gelernt hatte, machten ihr schwer zu schaffen. Am liebsten hätte sie sich in eine Ecke gesetzt und geweint. Aber da war der Auftrag. Eine Weile gönnte er ihr noch, um zu Atem zu kommen, dann zeigte er auf das Bild und fragte: „Wer ist das?“
„Das war einer meiner Vorfahren, du weißt ja, Teile meiner Familie haben immer im Untergrund gelebt. Von diesen Verwandten wusste ich nichts, bis eines Tages Vater vor der Tür stand und ich auf einmal dazugehörte. Der Mann auf dem Bild war so etwas wie ein geistiger Führer, glaube ich. Er sieht brutal aus, die vielen Waffen, die an seinem Gürtel hängen, daran kann auch sein Kreuzerumhang nichts ändern. Die Glaubenspolizei hat ihn schließlich doch erwischt. Karol Kreuzer nannte er sich, so viel ich weiß.“
„Ja, er ist gut bestückt, der Mann, aber du bist auch nicht ganz ohne Waffen. Komm, wir müssen jetzt weg, hinein in die Innenstadt. Verdammt noch eins. Mir wäre es lieber, mein Kasten stünde etwas weniger zentral.“

Vorsichtig gingen sie weiter, bis sie zu einem Kanaldeckel kamen, der nicht mit dem Rand verschweißt war und sich leicht öffnen ließ. Ulf blickte sich rasch um, noch immer war es ruhig in der 35. Straße. Doch jetzt näherten sich Schritte. Rasch kletterten sie die Leiter hinab. Den Deckel bekamen sie nicht mehr zu fassen, denn nun waren die Schritte bereits in unmittelbarer Nähe. So rannten sie einfach los, was gefährlich war, denn sie konnten nichts erkennen und der Boden war nass und schlüpfrig. Ihre Schritte hallten weithin durch das uralte Gewölbe. Plötzlich hielt Ulf an und Livia rannte ihn beinahe um. „Pass auf“, zischte er ärgerlich. „Was ist los?“
„Wir brauchen Licht, so ist das sinnlos.“
„Das geht nicht, Ulf, sie sehen uns.“
„Sie sehen uns nicht. Wir sind unter der Erde und für so schlau halte ich den Bautrupp nicht, dass sie hier herabschauen, nur weil ein Kanaldeckel auf der Seite liegt. Diese Dummköpfe werden ihn an Ort und Stelle rücken, damit sie keine Probleme bekommen. Manchmal bist du richtig realitätsfremd, Liv.“ Dieser Ausspruch schockierte und verletzte sie nicht mehr so viel wie noch vor einem Jahr als er das zum ersten Mal gesagt hatte. Damals war sie beinahe vor Wut explodiert und hätte am liebsten geheult, so ungerecht empfand sie diese Bemerkung. Aber er hatte recht behalten. Die Glaubenspolizei hatte sie nicht erwischt nachdem ihr Assistent eingesackt worden war. Damals hatte sie wirklich gedacht, sie würden jetzt alle in den Beutel kommen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Ulf hatte sie wachgerüttelt und ihr noch einige andere Gemeinheiten an den Kopf geworfen. Sie waren mit heiler Haut davon gekommen, wenn auch nur knapp und sie hatten viele Dinge retten können. Doch jetzt ging es um mehr. Vater Simineon hatte ihr einen Auftrag erteilt, sie sollte so viele retten wie sie konnte, das hieß, sie musste Glaubensbrüder finden, Widerstandsnester ausfindig machen. Das war schwierig, denn es gab keinerlei Kontakte untereinander. Jede Zelle operierte von sich aus und versuchte so viel Schaden anzurichten, wie sie konnte. Doch leider wurden die Anschläge weniger und die Friedensschaffungen unter der Bevölkerung nahmen zu. Das Denunziantentum erlebte eine Hochblüte. Sie wussten das und trotzdem würden sie weiter versuchen, den Nagel tiefer zu treiben, um vielleicht einmal wirklichen Schaden anzurichten und die Bevölkerung wachzurütteln. Noch waren sie nur kleine Zecken im Fell des Monsters, das sich Friedensbewegung nannte.
„Gut, wenn du meinst. Ich hab keine Taschenlampe“, meinte sie schließlich kurz angebunden. Er antwortete nicht, sondern kramte in den Taschen seines Umhangs, schließlich zog er eine Taschenlampe hervor. Rasch drehte er einige Zeit an der kleinen Kurbel und kurz danach hatten sie Licht. „Ich verlasse mich nie auf Strom von außen. Handarbeit bleibt Handarbeit“, erklärte er.

Auf Umwegen und langsam näherten sie sich dem Stadtkern. Über sich hörten sie ab und zu Leute gehen. Gerüche drangen zu ihnen und sie begannen nach einem Aufgang zu suchen. An jeder Leiter stiegen sie hoch und blickten sich durch das Gitter um. Einmal waren zu viele Menschen in der Nähe, der nächste Kanaldeckel war zugeschweißt und wieder einer befand sich direkt vor der GPS, der Glaubenspolizeistation. „So ein Mist, wenn wir nicht gleich hinaufkommen, dann müssen wir von der anderen Seite zu meinem Palast und das ist noch blöder, weil dort das Hauptquartier der JFH ist. Die warten nur darauf, dass jemand nicht ganz ordnungsgemäß herumläuft.“
„Ich hasse diese Leute.“ Livias Blick wurde steinhart, als sie an ihre Zeit dort dachte. Die Jungfriedensheimer waren ein Verein, der sich zum Ziel setzte, Jugendliche zu motivieren, sich für den Frieden einzusetzen, und er war straff paramilitärisch organisiert. Alle Jugendlichen mussten dort ihre Freizeit verbringen. Die Kinder wurden in die Glaubensschulen geschickt, dort lernten sie friedliches Verhalten durch singen, auswendig lernen von Friedenstexten und sportlichen Veranstaltungen, die streng nach Geschlechtern getrennt gehalten wurden. Dann beim JFH musste sie mit den anderen Mädchen nächtelange Fackelmärsche für den Frieden absolvieren, singen, beten, Transparente für den Frieden malen und wieder singen und beten. Nach der Schule trafen sich alle im Hauptgebäude der JFH und die Arbeiten wurden eingeteilt. Es gab verschiedene Einheiten, die jeweils streng hierarchisch gegliedert waren. Was die Jungs so anstellten, das wussten die Mädchen nicht, es hatte sie auch nicht zu interessieren. Die Teilnahme war für alle Minderjährigen Pflicht und wer nicht kam, dessen Name wurde in eine Liste eingetragen. Am nächsten Tag folgte eine strenge Befragung. Fielen die Antworten unbefriedigend aus, musste man mit schweren Strafen rechnen. So lernten sie schnell den Gehorsam und keiner weigerte sich, an irgendwelchen Aktionen teilzunehmen.
„Denk nicht daran“, flüsterte Ulf, der ihre Gedanken erraten hatte. „Das sind lauter Hirnakrobaten, die haben genug Platz dort drin“, lässig tippte er sich mit der Taschenlampe gegen die Stirn, „die eine Gehirnzelle kann dort locker an einem Trapez turnen und hat noch genug Platz für diverse Luftsprünge.“
„Ist schon gut, Ulf. Irgendwann werde ich dir davon erzählen, wenn du magst.“
„Immer doch. Nun denn, lass uns einen Platz zum Aufsteigen suchen. Langsam wird es dunkel draußen und noch gefährlicher.“
„Ich weiß, dann hoch mit unseren Hintern.“ Dieser Ausspruch brachte ihr einen verblüfften Blick ein. „Ungewohnte Töne, Chefin“, war alles, was er dazu sagte.
„Chefin wovon, Ulf? Es ist alles weg, bis auf das Artefakt ist meine ganze Arbeit zerstört.“ Wie sie so im Lichtkegel der Taschenlampe stand, knöcheltief im Schlamm der Jahrhunderte, wurde ihr bewusst, dass sie bis auf Ulf alles verloren hatte. Sie besaß nicht mehr als die Sachen, die sie am Leib trug. Auf Gedeih und Verderb war sie auf die Hilfe ihres Freundes angewiesen. Der Kloß, den sie ihm Hals fühlte, schnürte ihr beinahe die Luft ab und sie zwang sich einige Male heftig zu schlucken. Dann fühlte sie seine Hand auf ihrem Arm. „Ist schon gut, Livia. Wenn wir bei mir sind, dann kannst du deine Trauer rauslassen. Aber nicht hier, bitte.“

Auf einem Umweg, der sie erneut in einen Außenbezirk führte, kamen sie schließlich zum Turm. Inzwischen war es stockfinster geworden und Ulf tastete leise fluchend in einer seiner zahlreichen Taschen, bis er den Schlüssel gefunden hatte.

Vorsichtig öffnete er und spähte ins Innere. Zaghaft ließ er den Strahl der Taschenlampe über die Wände, den Boden und die Decke gleiten. Alles schien so, wie er es verlassen hatte. Rasch durchlief er anschließend den langen schmalen Gang, an dessen Ende befand sich eine schmale Metalltür. Routiniert kontrollierte er sein spezielles Warnsystem, das zwar einfach aber idiotensicher war. Die feinen Drähte oben an der Tür waren intakt und das Transparentpap am Schloss war noch genauso, wie er es hinterlassen hatte. Es war zwar mühsam, diese Sachen immer wieder aufzubauen, aber die Arbeit lohnte sich und das Muster änderte er jedes Mal, wenn er das Versteck verließ. Er öffnete und gab Livia ein Zeichen, ihm zu folgen. Müde kam sie hinterdrein und erst als sich diese zweite Tür hinter ihr geschlossen hatte, wagte er, auszuatmen. Bis hierher waren sie der Säuberungsaktion entkommen.

„Endlich, geschafft. Leg dich hin, du bist weiß wie die Wand, Livia.“ Er führte sie mit sanftem Nachdruck zu einer harten Pritsche und drückte sie darauf nieder. „Ich mach mal Kaffee, das haben wir nötig und wir brauchen einen vernünftigen Plan. Noch einmal so kopflos davonrennen möchte ich nicht. Das ist unser Untergang.“
Ulf fühlte sich besser, nachdem sie das Versteck erreicht hatten. Hier war er all die Jahre in Sicherheit gewesen und niemand hatte ihn zu finden vermocht, nicht einmal die Glaubenspolizei, die überall ihre Spürhunde hatte.
Er warf den Umhang ab und legte alle seine Waffen, von denen die meisten auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen waren, auf den Tisch. Da fanden sich einige Rollen feiner Draht, eine Paketschnur und Klebebänder, die sich hervorragend unter anderem auch zum Befestigen von Dingen eigneten. Dann hatte er verschiedene Messer in den diversen Taschen seiner Hose verstaunt, darunter auch ein Chirurgenskalpell, Feuerzeuge und seinen größten Schatz. Den zog er aus einer mehrfach reparierten Lederscheide, die verborgen unter der Hose ruhte und an einem ebenso zerschlissenen Gürtel befestigt war. Es war ein antikes Kurzschwert, mehr ein langes Messer, das nach einem viel älteren Vorbild repliziert worden war. „Feuer und Schwert“, murmelte Livia. „Wir bekämpften sie nie mit Feuer oder Schwert – nur mit dem Wort.“
„Livia, die Zeit der Worte ist vorbei. Die Friedensbewegung will nicht zuhören, die sind überzeugt, dass wir nur Unfrieden stiften und werden uns einsacken wenn sie uns erwischen. Weißt du was, diesmal haben sie recht.“ Zärtlich strich er über das Metall des Schwertes, bevor er es wieder in die Scheide steckte. Für ihn schien es eine passende Waffe zu sein, wenn auch weniger wirkungsvoll wie die Schusswaffen der GP. Aber auch er hatte eine Pistole, die in seinem Hosenbund verborgen war, vorsichtig legte er sie zu den Messern. Auf sie war er noch stolzer als auf das Schwert, wenn man das sein konnte. Aus seinen Stiefeln zog er ebenfalls Messer. „Ich weiß, dass wir kein Metall mit uns führen sollen, aber ich steh einfach auf die Dinger.“ Er seufzte übertrieben.
„Es macht dich an, das auf der Haut zu spüren.“
„Aber sicher doch. Was bist du heute scharfsichtig. Kein Wunder, dass die dich überwacht haben, wenn du deinen hübschen Mund nicht züchtig halten kannst, Frau. Leer deine Taschen, ich will sehen, was du so alles mit dir schleppst, Chefin. Dann überlegen wir, was wir damit anstellen.“
„Mach dich nicht lustig darüber, das ist nicht zum Lachen.“
„Ich lache nicht, Livia.“ Sehr ernst blickte er sie an.
„Schon gut. Ich habe etwas dabei, wenn auch nicht so viel wie du.“
Sie zog den Umhang aus und befreite die zahlreichen Innentaschen von ihrem Ballast. Ein Küchenmesser, ein Abwehrspray, ein Halstuch und ihr größter Schatz, welchen sie noch aus den Katakomben mitgenommen hatte, ein wenig Plastiksprengstoff mit Zündvorrichtung.
„Ich dachte mir schon, dass du so etwas hast. Aber pass auf mit dem Zeug, dass du uns nicht in die Luft jagst. Damit kenne ich mich nämlich nicht gut aus. Ich bin noch zu jung zum Sterben“, sagte er. Misstrauisch betrachtete er das kleine Päckchen, dann entspannte er sich ein wenig.
„Ich mache jetzt den Kaffee und du legst dich hin. Es passiert nicht jeden Tag, dass man dabei ist, wenn die Freunde sterben und man selbst nur zweimal mit knapper Not entkommt. Schade eigentlich um die Gasmasken, aber sie wären wirklich zu auffällig gewesen.“ Er redete dahin als wäre nichts passiert, schilderte die vergangenen Stunden in einem Ton, so als hätten sie lediglich einen Einkaufsbummel erledigt und etwas Ärger wegen des Preises gehabt.
„Ich weiß, du magst den Kaffee lieber ungesüßt – heute nicht. Du hast einen Schock. Trink.“ Energisch drückte er ihr den Becher mit der heißen Flüssigkeit in die Hand und zwang sie zu trinken. Livia spürte, wie die Starre von ihr abfiel. Sie hatte nicht bemerkt, wie sie immer ruhiger geworden war. Ihr Blick war nur mehr nach innen gewandert und sie hatte schon gefürchtet, sich in einem Strudel dunkler Gedanken zu verlieren. Die Wand vor ihr, schien auf sie einstürzen zu wollen, dann beruhigte sich das Bild und ihre wirren Gedanken klärten sich. Bevor sie sich an die Planung ihres weiteren Vorgehens machten, ruhten sie sich aus. Sie waren müde und geschockt von den Ereignissen, die sie überrollt hatten.

Livia fand in dem bunkerartigen Gebäude zahlreiche Hinweise auf seine bewegte Vergangenheit. In einem Kellerabteil entdeckte sie alte Bücher, die der Verbrennung im Jahre 75 n. U. entgangen waren. Sie war stolz darauf, die lateinischen Buchstaben lesen zu können, denn das wurde heute nicht mehr gelehrt. Es war sogar verboten, sie zu benutzen, ebenso wie einige andere Symbole, dazu gehörten verschiedene Kreuze oder auch Spiralenmuster. Abbildungen von Menschen waren ebenso verpönt wie Geschichtenbücher. Erlaubt war nur das, was vom Ministerium für Bildung genehmigt wurde und das war nicht viel.

Als sich der dritte Tag nach der Explosion seinem Ende zuneigte, kam Ulf aufgeregt von einem Rundgang zurück. Livia war beim Lesen eingeschlafen und schreckte hoch als er in den kleinen abgeschotteten Wohnraum polterte. „Es wird Zeit“, war alles was er sagte. Über einen kleinen Satellitenempfänger hatte er die neuesten Meldungen empfangen können. Die Verfolger waren ihnen auf den Fersen, zwar wussten die noch nicht, wo genau sie sich versteckt hielten, aber dass sie noch in Viyanna waren, war ihnen bekannt. Verdutzt schaute ihn Livia an, sie hatte gehofft, hier noch einige Tage bleiben zu können. Nun stand sie auf, legte das Buch zur Seite, wobei sie fragte: „Wann müssen wir weg? Haben wir genug Vorräte und Waffen? Wohin gehen wir?“ Ulf holte bereits seinen Rucksack, der fertig gepackt in einer Ecke stand. Einsilbig antwortete er: „Jetzt. Nein und nein. Wir haben von allem zu wenig, Liv. Komm.“ Er presste die Lippen so stark zusammen, dass sie nur noch ein schmaler Strich waren.

Über einen zweiten Ausgang gelangten sie in einen kleinen öffentlichen Park. Ihre Tarnung war beinahe perfekt und auf den ersten Blick gingen sie in der Masse gleich gekleideter Menschen unter. Aber einem genauen Beobachter fielen die Unterschiede zum Rest der Bevölkerung sehr wohl auf. Ihr Gang war zu vorsichtig und sie waren zu groß für die Durchschnittsbevölkerung.
Sie zwangen sich, langsam zu gehen. Zum Glück würdigten die Leute, die hier noch spazierten oder von der Arbeit nachhause gingen, sie keines Blickes.
„Wir müssen es bis über die Stadtgrenze hinaus schaffen“, murmelte Ulf.
„Noch vor Dunkelwerden“, setzte Livia den Gedanken fort. Als sie den Park durchwandert hatten, steigerten sie das Tempo etwas und rannten beinahe durch die Häuserschluchten. Langsam leerten sich die Straßen, doch noch waren vereinzelt Menschen unterwegs, die eilends von einer Imbissbude mit dem Abendessen in ihre Wohnungen liefen. In einigen Bezirken war es aufgrund des Mangels an Strom oder Gas nicht möglich selbst zu kochen, deshalb wucherten die Garküchen, Imbissbuden und kleine Cafehäuser wir Pilze aus allen Ecken und Enden der Stadt. Als sie wieder an so einer Schenke vorbeikamen, merkten sie, dass sie beschattet wurden. Jemand huschte gerade noch in einen Hauseingang, als sich Ulf unvermittelt umdrehte.
„Sie müssen uns schon länger beobachtet haben, als ich dachte“, murmelte Ulf auf sich selbst ärgerlich, weil er sich so einfach aus dem Versteck hatte treiben lassen.
Nun waren sie ein leichtes Ziel.
„Denkst du, sie haben uns irgendwie einen Marker verpasst?“, fragte Livia ängstlich. Ulf zuckte ärgerlich mit den Schultern, er wusste es nicht. Sie hatten nicht viel, nur das, was sie mit sich führten. Dann fiel ihm etwas ein und er hätte am liebsten laut gebrüllt vor Zorn.

[Fortsetzung folgt …]
Dann fiel ihm etwas ein und er hätte am liebsten laut gebrüllt vor Zorn.

Weil sie aus dem Nebenausgang in den Park gelangten?
Oder weil sie mit dem Rucksack zu bepackt aussahen?

*nixweiss* *gruebel* Ev
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Keins von beiden, Ev ... zuerst noch etwas anderes *fiesgrins*
****ra Frau
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ich seh schon, das wird wieder ein echter "Herta"! *top*


bin gespannt, wie es weitergeht.

*g*

Lys
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Teil 4
Ruinenstadt Rom, Frühjahr 221 n. U.

Zerlumpte Gestalten hausten zwischen den Trümmern und lebten mehr schlecht als recht von dem was der karge, verseuchte Boden hergab. Fast vergessen war ihre Existenz, nur wenige wussten von ihnen und den Ruinen, die einstmals eine große und stolze Stadt gewesen war. Jemand, der sich auskannte, sah schnell, dass diese Stadt und seine Bewohner eine lange Kultur gehabt hatten und nicht arm gewesen sein konnten. Ab und zu besuchte ein Prediger die Dörfer in den Ruinen. Er kam mit Neuigkeiten und Lebensmitteln zum Tauschen. Die Fundstücke der Latins, wie sie sich nannten, waren begehrte Objekte, aber der Prediger hätte sich eher die Zunge abgebissen, bevor er das auch nur erwähnt hätte.

„Mutter, schau mal“, sagte ein kleiner Junge, dem ein Arm fehlte.
„Was ist Micha?“ Ohne eine Antwort zu geben, hielt er etwas in die Höhe, das der Mutter einen Schreckenslaut entlockte. „Gib das weg, das ist unrein. Sind wir nicht schon genug gestraft, weil wir gezwungen sind, hier zu leben?“
„Es ist doch ein schönes Stück, wie kann das unrein sein? Sieh mal, wie schön es glitzert, wenn ich es in die Sonne halte.“ Er hielt das Kreuz ins Licht. Das Gold funkelte und das Licht brach sich in den Edelsteinen. Bewundernd betrachtete er die Lichtflecke, die auf dem Boden tanzten. „Ich denke, der Prediger wird uns dafür einen Sack voll Mehl geben.“
Brutal schlug ihm die Mutter ins Gesicht und riss ihm anschließend das Objekt aus der Hand. Angewidert warf sie es in eine Grube.
„Es ist unrein! Hast du schon vergessen, was der Ortsvorsteher gesagt hat? Wir sind alle des Todes, wenn wir uns mit diesen unheiligen Dingen abgeben.“
„Wieso wissen wir, wann etwas unrein ist, Mutter?“
„Das wissen die Prediger und die Vorbeter. Du weißt, dass es in der Schrift steht.“ Die Schrift, war das Buch schlechthin. Kein anderes Schriftstück hatte es zu solcher Verbreitung geschafft wie die Aufzählungen über das Leben und Handeln der Menschen, auch wenn selten jemand lesen konnte. Die Schrift war das Gesetz des Friedens, des Lebens und des Todes.
„Mutter?“
„Nein! Kein Aber und keine Fragen, Junge. Geh!“ Mit einer Handbewegung verscheuchte sie ihn und trieb ihn ins Dorf zurück. „Wir sind hier zuhause und ich will nicht, dass du das mit deiner unseligen Neugier gefährdest, Micha.“
Der Junge senkte ergeben den Kopf und murmelte: „Ja Mutter.“ Sehnsüchtig wandte er den Kopf immer wieder zurück aber er wagte es nicht, zur Grube zu gehen.

Viele Tage später kam ein Prediger und durchforschte die Ruinen.
„Meister“, sagte Micha, der ihn beobachtet hatte und den sein schönes Fundstück nicht mehr aus dem Kopf gegangen war. „Darf ich Sie etwas fragen?“
Der Prediger drehte sich um und schaute den Jungen von oben bis unten abschätzend an. Seufzend breitete er die Arme aus, dabei nickte er zustimmend. „Meister. Ich habe etwas Schönes gefunden, doch Mutter meint, es ist böse. Darf ich es Ihnen zeigen?“ Eifrig schaute Micha in das gerötete Gesicht des Predigers, der seinen Kopf mit einer Kappe bedeckt hatte. Anders als die Dorfbewohner, hatte er nicht die einfachen braunen Hosen und Tuniken an, sondern einen teuren dunklen Anzug und darüber einen Umhang mit schöner Verzierung an den Säumen. Eine Weile studierte der Mann das Gesicht des Knaben, dann sagte er kaum hörbar: „Bring mich hin.“ Nun doch zögernd schritt Micha voran zu der Grube, in die seine Mutter das Kreuz geworfen hatte. Ohne hinzusehen, zeigte er hinein. „Herr, da unten ist es.“
„Steig hinab und hole es.“ Der Prediger konnte nur schwer seine Gier nach dem Artefakt beherrschen. Dennoch schaffte er es, seine Stimme unbeteiligt klingen zu lassen.
„Herr, wird es mir auch nichts tun? Mutter hat gesagt …“
„Schweig und tu, was ich dir aufgetragen habe“, befahl ihm der Mann. Als würde er geschoben, kletterte Micha ungeschickt hinab. Am Boden angelangt, fand er den glänzenden Gegenstand. Es war ein Kreuz, das es eigentlich gar nicht geben durfte. Nicht einmal wenn es irgendwo natürlich auftrat, wurde es als solches bezeichnet. Dafür gab es nur eine Bezeichnung: Shit. Aber Micha hatte das Gefühl, das hier wäre mehr als nur Scheiße, er wollte es beschützen. Doch über ihm starrte der Prediger mit scharfem Blick herab und wartete, dass er zurückkam. Da sah er noch einen blitzenden Gegenstand. Er tat als würde er stolpern und fiel neben dem anderen Kreuz zu Boden. Es war nur halb so schön wie das andere, aber er nahm es an sich. Das wollte er dem Mann geben und das andere würde er behalten. Mit hochrotem Kopf gelangte er schließlich wieder hinauf. Seine Knie waren zerschunden und seine Hand blutete. Bei dem fingierten Sturz hatte er sich die Handfläche aufgeschürfte. „Du kleine Drecksau hast es besudelt. Geh! Verschwinde und bete, dass dich die sieben verfluchten Teufel nicht holen!“ Erschrocken rannte Micha weg. Das fand er ungerecht und er fragte sich, warum er etwas Unheiliges besudeln konnte. Etwas musste an diesen Shiten sein, etwas, das er noch nicht durchschaut hatte.

Drei Wochen später hatte er es erkannt, aber er würde niemandem von seinen Erkenntnissen berichten können.
Man fand den Jungen mit aufgeschlitzter Kehler unweit der Überreste eines alten Doms. In seiner Brust steckte ein Holzkreuz. Die untröstliche Mutter schrie bei diesem Anblick und konnte sich kaum mehr beruhigen. Erst als der Ortsvorsteher brutal sagte: „Wer sich mit den Waffen des Unfriedens abgibt braucht sich nicht zu wundern, wenn er mit diesen Waffen geschlagen wird.“

Niemand in den umliegenden Siedlungen hatte dann noch Interesse, in den Ruinen nach Tauschobjekten zu suchen.

Ein Waldstück nördlich der Donau, Schneeschmelze 76 n. U.

Missmutig stapfte ein großer, breitschultriger Mann durch den Schneematsch. Dreck war überall an seiner Kleidung und er fluchte lautstark über die miserable Qualität, welche die Fahrzeugbauer seit Erschaffung der H2O-Motoren ablieferten.
„Es ist lächerlich und saudämlich. Diese Halunken bringen einfach kein zuverlässiges, geländegängiges Modell fertig.“ Von einer Schulter baumelte ein Rucksack, den er sich ärgerlich zurückschob und mit der anderen Hand versuchte er den Riemen zu fassen zu kriegen. „Verdammt noch eins! Ich hasse es, zu Fuß zu gehen.“ Vor ihm rannte ein Hund spritzend durch den Matsch, was die Laune des Mannes nicht wesentlich besserte. Jaulend hielt er schließlich an und der Mann hörte es aus dem Funkgerät knacken. Er ließ den Riemen wo er war und fasste an seine Seite nach dem kleinen schwarzen Kommunikationsgerät. Während er den Schalter betätigte, schrie er bereits: „Was?“
„Karol, ist alles in Ordnung?“, ließ sich eine Frauenstimme vernehmen.
„Bin gleich da, musste gehen.“
„Soll ich dir Ole mit dem anderen Wagen schicken?“
„Nein – zahlt sich nicht aus. Aber mach Tee, mir ist saukalt.“
„In Ordnung. Over and out.“
Warum sie die Verbindung so beendete, verstand er nicht, aber er fand es witzig. Biri war seine rechtmäßige Gefährtin, auch vor dem Gesetz der Friedensbewegung. Er hasste diese Leute. Nicht weil sie Frieden geschaffen hatten, das hätte jeder andere auch fertiggebracht, wenn er sie einfach überrannt, entwaffnet und ihnen den eigenen Willen aufgezwungen hätte, sondern weil sie nicht von seiner Art waren. Sie nahmen einfach und verlangten, dass sich die anderen anpassten. Er war Karol Kreuzer und er würde seinen Namen nicht ändern, nicht in hundert Jahren! Das hatte er sich fest vorgenommen und so sollte es bleiben. Sein Name war schon Grund genug, ihn zu verfolgen, und insgeheim genoss er diesen Umstand.
„Lauf voraus, Fi“, sagte er und gab dem Hund ein Zeichen. Dieser schoss davon, sodass der Schlamm in alle Richtungen spritzte.

Der letzte Teil des Weges war durch den geschmolzenen Schnee ein einziger Morast, weswegen er nur schwer vorankam. Immer wieder sank er tief mit den Stiefeln ein bis er nicht mehr weiterkonnte. Lauthals fluchend bekam er einen dünnen Baumstamm zu fassen. Er schwitzte und keuchte, während er versuchte sich aus der Schlammfalle zu befreien. Mit einem schmatzenden Geräusch konnte er schließlich die Stiefel daraus befreien. Schwankend und schwer atmend stand er auf einer Wurzel und blickte auf das Schlammloch, das ihn festgehalten hatte. „Verdammte Viehtreiber, dass die ihre Schafe um diese Zeit durch den Wald führen müssen! Es ist noch viel zu kalt.“ So vor sich hin brummelnd wanderte er nun dichter an den Bäumen, um nicht wieder im Matsch einzusinken.

Endlich kam das Bauernhaus in Sicht. Es war sein Haus. Nach dem verheerenden Feuer vor 20 Jahren, bei dem seine Eltern umgekommen waren, hatte er es mit eigenen Händen wiederaufgebaut. Nun es ihn nicht nur freundlich sogar war zu empfangen.

Ole war dabei, die Ställe abzuschließen, denn seit die Glaubenspolizei dem Denunzianten- und Spitzeltum Vorschub geleistet hatte, waren sie nicht mehr sicher.
Vor fünf Jahren war er aus dem Norden zu ihnen gekommen, geflohen vor den Auswirkungen einer Überflutung, die alles Land das er kannte, verschlungen hatte. Ausgehungert und verloren hatte er vor ihrer Tür gestanden und um Obdach gebeten. Sie hatten ihn aufgenommen und noch keinen Tag Grund gehabt, diese Entscheidung zu bedauern. Jetzt war er ein Kreuzer und gehörte somit zur Familie.

Alles hatten die Vorfahren verloren, als die Friedenspartei und ihre Wächter die Herrschaft übernommen hatten. Staat für Staat hatte dran glauben müssen, die Kontinente folgten. Leise und unauffällig hatten die Parteisoldaten die Geschäfte übernommen und als sie etabliert waren, war es zu spät gewesen. Die Bewaffnung der Friedensarmee war besser gewesen, denn die Bevölkerung war bereits lange vorher entwaffnet worden. Das war alles im Sinne eines weltweiten Friedens geschehen, der dann auch gekommen war. Zuerst zeigte er sich in einem wahnsinnig scheinenden Kampf, in dem mehrere Städte platt gemacht worden waren und die großen Weltreligionen ihren Untergang gefunden hatten. Die Friedenspartei wurde zur einzigen Weltreligion erhoben. Auch der Wortschatz änderte sich und aus Krieg wurde zuerst der Friedenseinsatz, der ja schon bekannt war und änderte sich schließlich in Unfrieden. Demokratie stand dann für die Knechtschaft des Volkes und Freiheit hieß nichts anderes als viele Entscheidungen zu treffen, die man nie treffen müsste, wenn man wirklich frei wäre und in Frieden mit sich und der Welt lebte.

Alle hofften auf einen großen Sturm, auf eine Konterrevolution. Doch der Atombombenabwurf im Jahre 30 v. U. über Rom, Bangkok und Washington erstickte jeden Widerstand im Keim. Danach war es ein leichtes Unterfangen, sämtliche Regierungssitze in den Besitz einiger weniger Menschen zu bekommen und die Welt vom einzig wahren Glauben zu überzeugen. Niemand stellte sich ihnen mehr offen in den Weg.

Karol Kreuzers Urgroßvater hatte davon berichtet, er hatte alles miterlebt, war aber noch ein Kind gewesen damals. Plötzlich hieß es, es gäbe keine Völker mehr nur noch Männer, Frauen und Kinder, die ihren Beitrag zum Leben leisten mussten. Manche waren eben weniger wert als andere und wurden zu niederen Tätigkeiten zwangsrekrutiert, andere wiederum durften Berufe lernen oder gar studieren. Alles wurde genauestens registriert, kontrolliert und reglementiert.
Jetzt beobachtete jeder den anderen, mit dem Ziel, den Frieden zu wahren. Die Schlichtungsstellen hatten regen Zulauf, denn Gerichte gab es nicht mehr, seit die Regierung beschlossen hatte, die Kriminalitätsrate sei auf Null gesunken. Dafür gab es nun die Glaubenspolizei, die für die Einhaltung des Friedens zuständig war – wer zuwider handelte, wurde eingesackt, das heißt: mundtot gemacht, in die Wüste geschickt, von seinen Leiden befreit – exekutiert.

Karol nahm an, dass es nach der großen Buchverbrennung vor einem halben Jahr noch schlimmer werden würde und er hatte damit begonnen, in seinem Keller ein Arsenal anzulegen – aber nicht nur Waffen sammelte er dort, auch und vor allen Dingen hortete er Bücher und Artefakte der früheren Glaubensgemeinschaften. Alles, was er auftreiben konnte, schleppte er nachhause. Es war gefährlich und wahrscheinlich auch nutzlos, aber es gab ihm ein Gefühl für Identität, genauso wie sein Name ihm das Recht gab, zu leben. Biri sah alles etwas pragmatischer. Mit den Waffen war sie einverstanden, denn eine Axt konnte man für alles mögliche gebrauchen und die Sense leistete von der ersten Mahd bis zur letzten außerordentlich gute Dienste und war auf jeden Fall besser als diese motorbetriebenen Dinger, die alle naselang kaputtgingen und für teures Geld ersetzt werden mussten.

Im großen Eingangsbereich trafen Ole und Karol aufeinander und umarmten sich freudig. „Schön, dich heil wiederzusehen, Bruder“, lachte Ole. Fest klopfte er Karol auf die Schulter. Beide waren fast gleich groß, zwei Meter maß Karol und etwas kleiner war Ole, dazwischen wirkte Biri winzig, wie ein kleiner Vogel schwirrte sie herum und zwitscherte ohne Unterlass ihre Willkommensfreude heraus. „Oh Karol, mein Lieber, ich bin so froh, dich wieder hier zu haben. Bitte, bleib jetzt wenigstens bis der Sommer weit fortgeschritten ist. Die GP ist unterwegs und ihre Flieger suchen alles ab. Ich weiß nicht, was die für Gerätschaften haben. Wie viel von der angeblichen Kriegs-, ähm, Unfriedenstechnik sie behalten haben, weiß doch keine Sau. Doch zuerst komm herein und leg die schweren Sachen ab. Soll ich dir helfen? Oh! Kommt beide mit in die Stube, dort ist es warm. Karol, du siehst ganz verfroren aus … aber die Stiefel, ziehst du hier aus.“ Mit gespieltem Entsetzen hob Karol die Arme und drohte ihr in übertriebenen Gesten. „Weib, lass mich! Nimm die Tasche und dann sieh zu, dass ich was Heißes für meinen kalten Körper bekomme.“ Er warf ihr einen anzüglichen Blick zu, den sie nicht erwiderte. „Du bist ein Frechdachs, Kreuzer. Komm mir du nur in mein Bett, dann wirst du schon sehn, wie kalt dein Körper ist.“
Ich habe mehrmals hin und her gelesen -
wegen der anderen Zeiten - -
erst 221 n U
dann 76 n U

und leider ein paar Flüchtigkeitsfehler *fiesgrins*


und wann geht es weiter?
ich kann nur noch morgen lesen - dann bin ich ein paar Tage weg *ja*


Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Das mit den Zeiten, das ist kein Fehler, das ist Absicht, ein Rückblick. Kommt das so schlecht raus *gruebel* Ich dachte, das wäre mit der Erwähnung des Namens Karol Kreuzer geklärt *gruebel*

Die anderen Fehler werde ich erst in einem Jahr gefunden habe, bis dahin haben sich andere eingeschlichen - so ist es immer, wenn ich längere Geschichten schreibe - hundert Mal korrigiert ... und eh scho wissn.

*ggg*

Herta
Ich denke, dass es an mir liegt - - -
ich habe es nicht so mit Namen - die sind immer schnell vergessen -

und dann behalte ich eben meist nur die Vornamen - -

aber ich denke, es wird wohl so gut sein - -

Flüchtigkeitsfehler ? *gruebel* so schlimm auch nicht - mal ein "m" vergessen und so, tut der Geschichte aber keinen Abbruch - - -

Ev
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Ich dachte schon, es wäre jetzt was echt Schlimmes, das ich überlesen habe *schwitz*

Mal sehen, ob noch jemand das mit der Zeit so sieht wie du - sonst muss ich doch etwas zur Erklärung einfügen, was ich eigentlich nicht möchte.

*nixweiss*

Herta
Mach dir mal keinen Kopf - - -

*baeh* Ev
*****ine Mann
909 Beiträge
Donnerwetter, eine sehr düstere Anti-Utopie im Stile von "Caliphate" oder "The War after Armageddon".
Da ist dir wieder mal ein Husarenstück gelungen, Herta.
Mir gefällt die Art, wie du die schleichende Machtübernahme der Gutmenschen-PaziNazi-Diktatur und deren doppelzüngige Verschleierungstaktik beschreibst.
Das kommt mir irgendwoher bekannt vor... wenn ich nur wüsste, woher... *nixweiss*
*zugabe*
*****har Paar
41.020 Beiträge
Gruppen-Mod 
Trotz vieler Tipp- und Flüchtigkeitsfehler weiterhin einfach nur: GUT!

(Der Antaghar)
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
12.347 Beiträge
Themenersteller 
Weiter geht's
Vielen Dank, für eure aufmunternden Kommentare und einen speziellen an Bedouine, der mir die Inspiration für die Fortsetzung geliefert hat *danke*

Viel Spaß beim Lesen
Herta

***********************************************

„Sei still, Biri und hilf mir aus den Stiefeln. Ich habe diesmal etwas zurücklassen müssen, aber ich habe es gezeichnet.“ Ein leichter Schauder ließ erahnen, dass er mehr als verängstigt wegen des Gegenstands war. Rasch unterdrückte er den Impuls, sich umzusehen und drückte Ole den schweren Rucksack in die Hände, anschließend ließ sich seufzend auf eine schmale Bank nieder.
„Na dann, Meister Kreuzer, raus aus den Schuhen“, schnaubte Biri fröhlich. Nichts konnte ihre gute Laune trüben, weder verdreckte Stiefel noch mieses Wetter waren dazu in der Lage, auch kein verängstigter Kreuzer. Höchstens die GP war dazu fähig oder diese Endschiohs, die ständig nach dem Unguten suchten, konnten sie ein wenig aus der Fassung bringen.
Die Schnürsenkel waren nass und die Knoten ließen sich nur schwer lösen, aber schlussendlich war Karol von dem schweren Schuhwerk befreit und ging in warmen und leichten Hausschuhen in die Stube. Dort bereitete Biri bereits einen köstlichen Kräutertee. Sie war eine Expertin, wenn es darum ging, Nahrungsmittel aus der Natur zu gewinnen. Nichts davon hatte sie irgendwo gelernt, es hatte ihr auch niemand gezeigt. Sie hatte das durch Versuch und Irrtum herausgefunden und manchmal hieß der Irrtum einige Tage Bettruhe und eine Schüssel daneben, damit man das Bett nicht beschmutzte.

„Setz dich Karol und dann erzähl was es mit dem Ding auf sich hat, das du nicht mitgenommen hast“, meinte Ole. Sorgfältig stellte er den Rucksack neben dem Kachelofen ab und wartete auf Antwort, die lange auf sich warten ließ. Karol faltete die Hände, nachdenklich betrachtete er die Fingernägel, die vor Schmutz starrten. Es war sehr ruhig in der Stube, fast konnte man den eigenen Atem hören. Endlich rührte er sich und die anderen schreckten auf, als hätte er einen lauten Schrei getan. Doch was er sagte, schien zuerst keinen Sinn zu ergeben: „Hast du Fi reingelassen? Der dumme Köter ist vorausgelaufen, er müsste schon hier sein.“
„Hab ihn nicht reingelassen, hab ihn auch nicht gesehen.“ Ole wurde blass und lief schnell vors Haus. Schon im Laufen pfiff er laut und durchdringend. Jeder wusste, dass Fi diesen Laut mit Futter gleichsetzte. Mehrmals wiederholte er es und brüllte den Namen des Hundes. Doch der kam nicht. Draußen war es still, nur das leise Knacken der Bäume im Wind war zu hören. Dann noch etwas anders. Rasch drehte sich Ole um und schloss hastig die Tür ab.
„Licht aus!“, war alles was er zu sagen brauchte. Das war in letzter Zeit immer öfter der Fall gewesen. Sie würden wieder Besuch bekommen, wie so oft in den vergangenen Jahren.
Biri reagierte, noch bevor Ole ausgesprochen hatte und sie saßen im Dunkeln. „Mist, Mist, Mist! Die müssen den Wagen gesehen haben und wissen nun, dass ich zuhause bin. Aber die sind noch weit weg und bei dem Morast kommen die auch nicht schneller voran als ich.“ Karol war wütend, hungrig und wütend, eine schlechte Kombination, denn das eine steigerte meistens das andere und keines von beiden konnte er lange Zeit unterdrücken.
Seine Gedanken wurden durch wütendes Hundegebell unterbrochen. „Fi“, meinte er erleichtert und rannte zur Tür. Der Hund war ihm alles und er wollte ihn in Sicherheit bringen, er durfte nicht der GP in die Hände fallen, denn die würden ihn auf der Stelle einschläfern, ohne viel Aufwand würden die ihm betäuben und dann den Hals aufschlitzen.
Aus einem kleinen Seitenfenster spähte er in den Hinterhof. Er konnte nichts Ungewöhnliches erkennen, nur das Bellen wurde lauter, dazwischen knurrte der Hund auf seine spezielle bösartige Weise. Karol tastete nach dem Messer am Gürtel und öffnete die Tür einen Spalt breit. Leise pfiff er und Fi rannte geduckt in den Hof, ein Handschuh baumelte aus seinem Maul. Mit Erleichterung stellte er fest, dass diesmal keine Hand mehr darin steckte. Das war immer das Problem mit Fi, wenn er sein Maul nicht voll kriegen konnte, packte er alles und sein Kiefer konnte Knochen zerbrechen wie Glas. Er liebte es zu jagen und manchmal erwischte es einen Wildhüter oder einen unvorsichtigen Glaubenspolizisten. Um keinen von ihnen war schade, fand Karol.

„Halt deine Töle zurück, Kreuzer, oder ich knall ihm ein Loch in den Pelz!“ Ein schlammverschmierter Wildhüter kam keuchend in den Hof gerannt. Eine Hand hatte er in der Jacke verborgen, die bereits blutige Spuren zeigte. Er musste hart um sie gekämpft haben. In der anderen hielt er eine kleine Pistole, mit der er auf Fi zielte. „Lass meinen Hund in Ruhe, Weber und verschwinde von meinem Land!“ Bedrohlich trat Karol nun in den Hof, das Messer lag verborgen in seiner Hand, der Hund stand knurrend vor seinem Herrn, die Nackenhaare gesträubt und die Zähne gefletscht.
„Ich brat ihm eins über, Kreuzer, die Polizei ist informiert, sie werden bald hier sein. Ihr seid alles Unfriedliche, ausgelöscht müsst ihr werden und zuerst wird dein Köter dran glauben, du Scheißkerl, der hätte mir fast die Hand abgebissen.“
„Heul hier nicht rum und sieh zu, dass du Land gewinnst.“ Karol ging weiter auf den Wildhüter zu, der nun seinerseits stur in den Hof vordrang. Er war so in Harnisch, dass er die Sache sofort regeln wollte. Mit der Pistole in der Hand fühlte er sich sicher, zwar hatte er sie noch nie benutzen müssen, aber er konnte schießen, zumindest hatte er es einmal gelernt. Karol merkte, wie der andere zitterte, die Schmerzen mussten ihn müde machen, das wollte er für sich ausnutzen. Fi hatte ihn erheblich verletzt.
Karol registrierte das mit einem Blick und nun stritten in ihm der reine Überlebensinstinkt, der ihm befahl, den Mann sofort und auf der Stelle zu töten und seine anerzogene Menschenliebe. Er war zwar manchmal ein brutaler Messerstecher, der wenig Skrupel kannte, besonders wenn es um die Friedenspartei und ihre Anhänger ging, der aber auch die Menschen dahinter sehen wollte. So war es ihm noch nie leicht gefallen, einfach zu töten.
„Weber, geh heim und lass dir die Hand richten. Du blutest wie ein Schwein. Komm morgen wieder und wir reden in Ruhe darüber“, versuchte er es versöhnlich.
„Maul halten, du Unreiner! Mit dir befasse ich mich später, wenn dich die GP durch die Mangel gedreht hat.“ Die Pistole schwenkte bedrohlich zu Karol und der hielt einen Moment inne, doch dann ging er weiter, die Hände zur Seite gestreckt. „Weber, geh heim, lass meinen Hund einfach in Ruhe.“ Fi schlich, wie zum finalen Sprung, geduckt neben Karol.
„Die Töle hat mir fast die Hand abgebissen!“, rief der Wildhüter erneut. Dann hob er die Waffe, denn immer wieder musste er den Arm senken, weil es ihm an Kraft mangelte. Sein Wille imponierte Karol in gewisser Weise, aber er sah auch, dass der Mann alles dran setzte, den Hund zu erschießen. Das konnte und wollte er nicht zulassen.
Ohne ein weiteres Wort zu verschwenden, schoss der Wildhüter und gleichzeitig brüllte Karol: „Nein! Ins Haus, Fi!“ Der Hund jaulte jämmerlich, doch Karol erkannte, dass er ins Haus lief. Sein Blick wurde hart und der Wille, dem Treiben ein Ende zu bereiten, erstarkte. Mit wildem Gebrüll stürzte er sich nun auf den Wildhüter, der nur noch einen Sprung entfernt vor ihm stand, und als er gegen ihn prallte, fuhr Weber das Messer tief in den Leib. Aneinander gekrallt stürzten sie zu Boden, Webers Augen wurden leer.
„Warum hast du Fi nicht in Ruhe gelassen, du Idiot!“, brüllte Karol. Zornig zog er das Messer aus der Brust des Gegners und Blut spritzte ihm ins Gesicht. Jetzt wo die unmittelbare Gefahr vorbei war, zitterte er und wurde sich bewusst, was geschehen war. Er saß neben der Leiche und überlegte was zu tun war. „Biri!“, sie war immer ein Anker, wenn ein Sturm aufzog und der kündigte sich an, in mehrfacher Hinsicht.

Sternklar und kalt zog die Nacht auf. Zuerst machte sich eine leichte Brise bemerkbar, die sich bald zu einem handfesten Sturm steigerte. Noch immer standen sie um die Leiche des Wildhüters und konnten sich nicht einigen, wie sie sich seiner entledigen sollten.
„Ich schaff ihn in den Wald. Der Idiot hat sich beim Klettern auf dem Hochstand … der Sturm“, begann Karol, doch Ole unterbrach ihn. „Nein, nicht du. Wenn, dann mach ich das.“
„Ihr spinnt, alle beide. In die Donau schmeißen wir ihn. Das ist nicht weit, näher als zum Hochstand auf jeden Fall.“
„Aber da müssen wir über die Hauptstraße, Biri“, entgegnete Ole scharf. Karol kaute nachdenklich auf der Unterlippe. Es war ein Hasardspiel, auf das er sich einlassen musste, aber es war nicht das erste Mal, das er mit der Polizei ein Katz und Maus Spiel trieb. Noch wussten sie von nichts, nur von einer Hundeattacke, die auch nicht gesichert war. „Wir schaffen die Leiche jetzt erst einmal ins Heizhaus. Dort verbrennen wir die Klamotten. Ich weiß, das ist eklig, aber es geht nicht anders. Er soll nicht sofort identifiziert werden können, wenn sie ihn finden, oder sind die Kerle auch markiert? Dann … sehen wir weiter und die Sauerei im Hof.“ Karol hatte das Gefühl, er würde die Kontrolle verlieren, das war kein Spaß mehr.

Die nackte Leiche versteckten sie hinter einem Bündel Schafwolle, die genug stank, um selbst Fi nicht zu neugierig zu machen.

Knurrend rannte der Hund im Hof herum, schnupperte überall dort, wo Weber seinen Duft hinterlassen hatte. Dann stellte er sich vor die Hoftür und verharrte dort wie eingefroren. Fi hatte gute Qualitäten als Vorstehhund, wenn ihm der Sinn danach stand. Und er bewachte sein Rudel, wenn sich Feinde näherten. Die Menschen im Bauernhof waren noch immer mit der Leiche beschäftigt, als sich ein motorisiertes Fahrzeug langsam und schlingernd dem Hintereingang näherte. Trotzig fuhr es dem Sturm entgegen und ließ sich auch nicht vom Schlamm aufhalten.

Fi kläffte wie verrückt und sprang am Tor hoch. Er kannte das Wesen, das da vor der Tür stand und eingelassen werden wollte. Doch diesmal klang das Klopfen amtlich und eine laute Stimme brüllte: „Glaubenspolizei! Aufmachen!“ Da änderte auch Fi seine Haltung und er sträubte die Nackenhaare, ein drohendes Knurren entfuhr seiner Kehle, gerade als Karol aus dem Heizhaus trat. „Geht ins Haus und benehmt euch normal. Biri nimm die Pistole und verstecke sie“, befahl er, dann wandte er sich dem Tor zu. Der Wind fuhr ihm durch das lange Haar, Staub wirbelte ihm ins Gesicht, als wollte er ihn vom Tor wegdrängen, schob ihn der Sturm rückwärts. Am Tor wartete er bis die beiden im Haus waren, erst dann löste er das Schloss vom Riegel. „Was will die GP von mir? Wir sind treue Bürger“, beinahe biss er sich bei diesen Worten auf die Zunge, aber sie mussten gesagt werden.
„Halt deinen Köter zurück, der ist mir etwas zu aggressiv.“
„Werde ich erst dann machen, wenn ich weiß, worum es geht.“
„Lass mich rein, dann sage ich es dir, Kreuzer. Aber schick erst den Hund hinein.“
Karol sah ein, dass er sich jetzt nicht mit der GP anlegen konnte, auch wenn im Moment nur einer vor der Tür stand. Dieser Umstand konnte sich im Nu ändern. Er gab Fi ein Zeichen und dieser rannte ins Haus, dort begab er sich sofort an seinen Platz und starrte den Neuankömmling aufmerksam an.
„Schön“, sagte der Polizist, der Karol auf den Fersen folgte. Er erkannte die anderen beiden in der Stube und nahm den Helm ab. Biri schrie auf. „Nein! Ich glaub es nicht, das kann nicht sein. Das …“
„Sei still. Setzt euch. Schnell.“ Der Polizist redete nun rasch und abgehackt. Immer wieder schaute er sich unbehaglich um. Er wartete bis alle saßen, dann spähte er aus den Fenstern und zog die Vorhänge zu. „So, nun aber flott. Karol, du blöder Vollidiot“, nur mühsam konnte er seine Stimme ruhig halten, aber der Zorn kam auch so deutlich genug heraus. „Ich dachte nicht, dass in dir so viel Dummheit ist, dass du zurückkommst und im Hof hab ich Blutspuren gesehen. Ich bin weder blöd noch blind, sogar einer von der GP mit weniger Verstand als ich, würde hier eins und eins zusammenzählen können.“
„Halt den Rand, Viktor. Was willst du, zum Henker noch mal. Du hast darauf verzichtet, ein Kreuzer zu sein – also, verhafte mich oder verpiss dich!“
„Pscht! Hier wird keiner verhaftet, das weißt du ganz genau – entweder du bist unschuldig, dann wäre ich nicht hier oder wirst eingesackt. Du kennst das Procedere. Aber jetzt, verflixt noch eins, was treibt dich in die verseuchte Gegend um Rom und dann wieder nach Haus, Bruder?“ Zornig sprang Karol auf und packte Viktor am Kragen. „Ich bin nicht dein Bruder“, zischte er, ehe er ihm ins Gesicht spuckte. Ärgerlich machte der sich los, stieß Karol zurück auf seinen Platz, dann erst wischte er sich das Gesicht trocken. „Du Drecksau. Ich bin hier, um dich zu warnen. Nicht mehr lange und ich muss hinter den Ural oder nach Afrabia, dann kann ich deine Familie nicht mehr schützen.“ Plötzlich sackte Karol zusammen und Biri hielt sich erschrocken den Mund zu. „Vik! Das ist Deportation, die bringen dich um, scheibchenweise“, flüsterte Ole, der sich als erster von dem Schrecken erholt hatte. „Das befürchte ich auch. Eigentlich geht’s ihnen nur um dich, Karol. Alle, die sie sonst noch bekommen, sind die Draufgabe, die Kirsche auf dem Kuchen, wenn du so magst.“
„Willst du dich absetzen?“
„Bist du verrückt? Ich bin markiert! Die wissen jederzeit wo ich mich aufhalte. Nein, ich führe schon meine Befehle aus, aber ich erlaube mir dabei eine gewisse Auslegung. Was ich eigentlich sagen will: Ihr müsst weg von hier und zwar rasch. Packt zusammen was ihr braucht und dann haut ab.“ Karol überlegte, was er mit der Leiche nun machen sollte. Doch er hatte nicht mit der Scharfsichtigkeit seines Bruders gerechnet. „Heute Nacht wird es hier ein großes Feuer geben und wir werden eine Leiche finden, von der ich hoffe, dass sie unidentifizierbar ist.“
„Warum, Viktor? Warum wollen die unsere alte Kultur vollständig ausrotten? Ich habe so viele Dinge gefunden und gesehen.“ Karol hatte Tränen in den Augen als er davon berichtete, was er alles entdeckt und wie viel er über die Vorfahren gelernt hatte. „Ich will mich nicht vertreiben lassen, Vik.“
„Ich verstehe dich, Karli, aber diesmal ist es echt haarig. Ich schaffe es nicht mehr, deine Reisen zu decken. Es ist reines Glück, dass sie nicht schon früher alles über unsere Verbindung herausgefunden haben. Mach dir nicht zu viele Gedanken, Bruder und hau einfach ab. Dein Wagen steht dort, wo du ihn abgestellt hast. Er ist sogar aufgetankt und einige Kanister mit Treibstoff sind im Kofferraum, du wirst keine Probleme haben.“ Karol bemerkte, wie ernst es seinem Bruder war, wenn er ihn mit dem Namen aus Kindertagen ansprach. Mit hängendem Kopf saß er da, die Blutspritzer klagten ihn des Mordes an und er hatte seinem Bruder gegenüber ein schlechtes Gewissen.
„Zeit für eine Mahlzeit muss noch sein, Viktor. Du bleibst doch?“, sagte Biri schließlich, bemüht etwas Normalität in diese absonderliche Situation zu bringen. Viktor nickte, behielt dabei aber Karol im Auge. „Was wird mit dem Vieh – den Schafen, den Hühnern?“ Ole liebte jedes Tier mit der Inbrunst eines Vaters und seine Pflicht bestand darin, sie zu beschützen. „Sie können nichts dafür, dass die Welt so schlecht ist.“ Mit dem Daumen fuhr er über die Klinge seines Messers, was er damit gegen die Waffen der GP ausrichten wollte, wusste er nicht, aber ein klein wenig milderte es das Gefühl der Machtlosigkeit.
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„Ich will nicht, dass sie einfach verbrannt werden. Lass sie frei, Vik, bevor du hier alles abfackelst“, murmelte er. Der Polizist nickte verständnisvoll. Auch er kannte Ole schon eine ganze Weile. Ab und zu waren sie sich begegnet. Am Markttag in Ufer oder am Gebetstag in der Kreisstadt Linksufer, wie die ehemalige Hauptstadt von Oberdonau nun genannt wurde. Beinahe alle Denkmäler der Vergangenheit waren ausgelöscht worden. Die Stadt glänzte durch Neubauten, die den Charme von übereinander gestapelten Schuhkartons verströmten. Jeder der nur irgendwie konnte, mied diese Stadt, die ein Vorzeigemodell des Friedensregimes sein sollte. Die Wenigsten verstanden, den Sinn dieser Architektur.
„Lass du sie raus ich mache den Rest. Ich bin froh, dass ich deinen Wagen vor den anderen entdeckt habe, Karol. Stell dir vor, da wäre plötzlich Mahmed mit ein oder zwei seiner Halunken vor der Tür gestanden. Hättest du es mit denen aufnehmen können?“ Darüber dachte Karol einen Moment nach, dann klopfte er wortlos seinem Bruder auf die Schulter. Schließlich rang er sich durch und umarmte den jüngeren Mann. „Schon gut, Karol, ich war schneller, das bin ich meistens.“ Selbstgefällig grinste er in die Runde.

Biri lenkte sich unterdessen in der Küche ab. Die Männer in der Stube hörten sie mit den Töpfen scheppern und ihre festen Schritte, wenn sie herumging.
Nur schwer gelang es ihr, ihre Trauer zu unterdrücken. Sie mochte Viktor, hatte ihn immer gemocht und den Streit der Brüder nie gutgeheißen. Erst jetzt, wo es hier dem Ende zugehen sollte, schienen sie sich zu versöhnen. Energisch rührte sie in den Töpfen, schnitt Zwiebeln, viel mehr als sie brauchte, nur damit sie ihre Tränen laufen lassen konnte. Immer schon war es ihr verhasst, Gefühle zu zeigen. Da trat Karol hinter sie und berührte sie sanft an der Schulter. „Du musst nicht allein sein.“
„Bin ich nicht“, murmelte sie, aber sie drehte sich nicht um, schnitt nun eifrig den Schnittlauch in dünne Röllchen. „Das Essen ist fertig, Karol. Holst du die anderen? Ich denke, es ist besser, wenn wir hier bleiben“, schlug sie vor, denn die Küche hatte nur ein Fenster und das ging in den Hof hinaus.
„Gute Idee, ich mach das gleich, aber zuerst – leg das Messer weg und dreh dich um, Biri.“ Als sie sich endlich durchgerungen hatte und ihm gegenüberstand, hielt sie weiterhin den Blick gesenkt. Karol beugte sich zu ihr und nahm sie fest in den Arm. „Ich habe mir unser Wiedersehen auch anders gewünscht“, murmelte er in ihr Haar, dann küsste er sie und heftig erwiderte sie den Kuss. Nach einigen Minuten lösten sie sich von einander und Biri meinte gespielt heiter: „Auf eine tiefer gehende Fortsetzung dieser Diskussion werden wir wohl noch eine Weile verzichten müssen.“ Dann sagte sie ungewöhnlich ernst: „Es tut mir alles so leid, Karol.“
„Warum? Du hast doch nichts getan.“
„Ich …“ Weiter kam sie nicht, denn in dem Augenblick traten Ole und Viktor in die Küche, gefolgt von Fi, der sich wieder beruhigt hatte, nachdem die Situation für sein Rudel nicht mehr bedrohlich war.

Schweigend aßen sie. Dann stand Viktor auf, fasste nach dem Helm und sagte schon im Gehen begriffen: „In einer Stunde müsst ihr weg sein. Karol, beeilt euch.“ Er stand ebenfalls auf und begleitete Viktor in den Hof hinaus.
„Ich danke dir, Bruder und ich möchte dich um Entschuldigung bitten, für die Jahre der Feindschaft. Du hast nie aufgehört, ein Kreuzer zu sein.“ Viktor klopfte dem Bruder auf die Schulter. „Ist schon gut. Deine Feindseligkeit war mein Schutz. Mach zu … beeil dich. Im Jenseits sehen wir uns wieder und ich scheiß auf die Jungfrauen … die sind zu nichts gut.“ Karol lachte anzüglich bevor er antwortete: „In Walhall, Kleiner, dort treffen wir uns.“ Rasch drehte er sich um und lief ins Haus. Es war nichts mehr zu sagen. Viktor blieb neben dem Tor stehen, er passte auf, dass sie sicher wegkamen und Fi hielt neben ihm Wache.

Im Schlafzimmer stand Biri und kämpfte mit sich. Noch in der Küche war sie sicher gewesen, das richtige zu tun, nun war sie es gar nicht mehr. Zornig stopfte sie einige warme Kleidungsstücke in ihren Rucksack, dann zog sie sich rasch um, mehrere Lagen Kleidung würden erstens wärmen und zweitens hatte sie so nicht so viel auf dem Rücken zu tragen. Schnell suchte sie noch nach einigen Kleinigkeiten, die ihr Karol im Laufe der Jahre geschenkt hatte, darunter war auch ein feiner Ring, auf dem ihre Namen eingraviert waren. Sie seufzte als sie ihn betrachtete, ein Menschenleben schien zwischen dem Damals und dem Heute zu stehen. Fest zwang sie sich, nicht mehr daran zu denken und suchte weiter. Mehr an Wertsachen besaß sie nicht, wenn man von den verbotenen Artefakten im Keller absah, die sie aber zurücklassen mussten. „Verdammt“, fluchte sie, weil die drei Lagen Hosen und der Rock nun doch hinderlicher waren, als sie gedacht hatte. Sie hasste es, die vorschriftsmäßigen weiten Röcke zu tragen, ständig verhedderte sich der Saum irgendwo und zwang sie, langsam zu gehen. Einmal war sie geschlagen worden, weil sie die falsche Kleidung getragen hatte. Zwanzig Jahre war sie damals gewesen und der Rock angeblich zu kurz. Zu der Zeit hatte sie noch nicht einmal Karol gekannt. Die GP hatte sie vom Markt zum Rathaus gezerrt und der Ortsvorsteher hatte sofort sein Urteil gefällt. Ohne mit der Wimper zu zucken hatte sie die Strafe angenommen. Seit dem waren ihr die GP und dieses Friedensregime verhasst und sie versuchte, sie zu bekämpfen, wo es nur ging. Dennoch waren ihr die Schläge in viel zu guter Erinnerung.
Diese Gedanken begleiteten sie in die Vorratskammer und anschließend weiter in die Küche. Schon lange waren die Bilder der Vergangenheit nicht mehr so intensiv bei ihr gewesen. Es war als würde sie jeden Schlag erneut erleben. Als sie jetzt den Reiseproviant packte, dachte sie, um wie viel härter die Strafe wohl jetzt ausfallen mochte, wenn die GP dahinterkam, was hier stattfand. Auf Unfriedensstiftung standen unsanfte Befragungen und unfreiwilliges Ableben, im günstigsten Fall wurde man sofort eingesackt.

In einem Vorratsbehälter hatte sie selbstgemachten Zwieback, er war steinhart und schmeckte nach nichts, doch daran störte sich niemand. Der Zwieback war leicht und würde den Magen füllen, außerdem war er gut verdaulich und auch dann genießbar, wenn man mit Verdauungsproblemen zu kämpfen hatte. Auch harten Käse, den sie in Pap wickelte und dann von der letzten Schlachtung, den höchst verbotenen und als nicht genießbar geltenden Speck, packte sie ein. Ebenso verboten war der Selbstgebrannte, den sie in einen Flachmann umfüllte und sich in den Hosenbund stopfte.
Alle Lebensmittel würden eine Weile halten und vom Speck konnte auch Fi was abhaben, falls er kein Wild fand. Einige Flaschen füllte sie noch mit Wasser, die sie in eigene Haltevorrichtungen der Rucksäcke verstaute.
Karol betrachtete sie von der Küchentür aus, wie sie durch ihr Reich huschte und dabei leise vor sich hin murmelte. „Bist du soweit?“, wagte er es schließlich, sie zu unterbrechen.
„Gleich. Nur noch ... Hast du eine Taschenlampe? Ich will mir nicht im Finstern den Hals brechen.“ Ihre Souveränität schien zu schrumpfen, unsicher kam sie ihm vor, wie sie klein und schmal in der Küche stand, drei voll bepackte Rucksäcke vor sich und ihn fassungslos anschaute. „Ich habe alles, Biri. Du brauchst noch eine Waffe. Nimm die Pistole vom Weber.“ Biri starrte auf die Waffe, die in seiner Hand lag und nur darauf wartete, von ihr ergriffen zu werden.
„Ich … Karol … steck sie weg. Ich … ich … nimm du sie.“ Erstaunt blickte er auf die Pistole in der Hand, dann auf seine Frau und wieder zurück. Schließlich steckte er sie sich wortlos in den Gürtel. Danach ergriff er seinen Rucksack, ächzte etwas unter dem Gewicht und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Oles Beutel nahm er mit und zusammen gingen sie in den Hof hinaus, wo sie bereits erwartet wurden. Ole hatte alle Tiere freigelassen. Schafe, Hühner und ein Schwein liefen nun im Hof herum und wussten mit der neugewonnenen Freiheit nichts anzufangen.
„Karol“, sagte Viktor zum Abschied. „Auf ein Bier in Walhall.“
„Pass auf dich auf, Vik. Ich halt dir einen Platz frei.“
„Du warst auch schon aufmunternder. Halt die Ohren steif.“
„Bei der Kälte bestimmt.“
„Ich sorge hier für etwas Wärme. Und eine Leiche hast du mir freundlicherweise auch besorgt. Den Weber mochte ich noch nie leiden, dieses arrogante Arschloch, um seine Frau tut es mir allerdings leid. Haut jetzt ab.“
Karol wollte noch etwas sagen, aber Viktor zog seine Waffe und zeigte ihm unmissverständlich den Weg aus dem Hof. „Haut ab, hab ich gesagt und zwar flott!“
„Fi!“, brüllte Karol, als sich der Hund auf die unmissverständlich aggressive Geste reagierte. Aber er war so gut erzogen, dass keine zweite Mahnung notwendig war.

Die Luft war durch den Sturm eisig. Über sich hörten sie die Äste knarren und neben sich das Schnauben des Hundes. Karol hatte vorgehabt, einige Dinge aus dem Keller zu retten, aber er hatte dann eingesehen, dass es besser war, sein Leben und das seiner Familie in Sicherheit zu bringen. Über Viktor wollte und konnte er nicht nachdenken. Die GP würde rasch genug dahinterkommen, was hier stattgefunden hatte, nicht alle Beamten waren blöd.

Ohrenbetäubend heulte der Sturm durch die Nacht und zwang sie langsam zu gehen. In gefährlichen Winkeln bogen sich die Bäume und da und dort hörten sie ein lautes Seufzen und Knacken, wenn eine Fichte vom Wind gefällt wurde. Der Lärm des Aufpralls ging im Toben des Sturms unter.
Karol marschierte vorneweg, seine Miene war ebenso eisig, wie die Umgebungstemperatur. Nur mühsam beherrschte er den Zorn, der in ihm tobte. Das Friedensregime hatte ihm einmal mehr den Lebensinhalt genommen. Es trat das ein, was er immer gefürchtet hatte, er musste ein Leben auf der Flucht führen und es gab auf der ganzen Erde keinen freien Staat, der ihn und seine Familie aufnehmen würde. Was ihnen blühte war ein Leben im Untergrund, schlafen mit der Waffe in der Hand, betteln und stehlen. Alles was er verachtete und wogegen er angekämpft hatte, musste er nun selbst machen, wenn er überleben wollte. Schon jetzt hasste er sich dafür. Dann dachte er an Biri, die festen Schritts hinter ihm marschierte und fragte sich, was ihr Leid tun könnte, sie war das Beste, was ihm bisher passiert war. Ole war ein Fels in der Brandung, ein Bruder, wie man ihn sich nur wünschen konnte. Als würde ihn jemand mit heißem Eisen das Herz durchbohren, wurde ihm mit einem Mal bewusst, dass sich Viktor für ihn und die seinen opfern würde. ‚Er lügt für mich, hat die ganzen Jahre für mich gelogen. Was bin ich bloß für ein Arschloch’, rügte er sich selbst. Er erschrak, als er eine Hand auf seinem Oberarm fühlte, die ihn sanft drückte. „Es ist seine Entscheidung, Karol“, sagte sie, als hätte sie seine dunklen Gedanken erraten, dann wandte sie sich wieder ab. Er dachte, sie hatte leicht reden, nicht sie hatte den Bruder von sich gestoßen und mit Schmach belegt. Nun wartet noch schlimmeres auf ihn.

Das Licht der Taschenlampe tanzte über den gefrorenen Boden und beleuchtete nur unzureichend den unebenen Weg. Sie mieden den gefährlichen Stellen und marschierten zwischen den Fichten, die bedrohlich im Wind schwankten und knarrten. Ein erneutes Krachen ließ sie innehalten. Doch diesmal war der Baum vor ihnen nicht vom Sturm gefällt worden. „Scheiße! Lauft!“, brüllte Ole. Er hatte das Gefühl, als wäre die GP direkt hinter ihm, als könnte er deren Atem im Nacken spüren.
„Rennt was ihr könnt. Es ist nicht mehr weit zum Wagen!“, brüllte Karol gegen das Heulen an. „Sie schießen aufs Geratewohl, die kennen unseren Standort nicht“, keuchte Ole, der unter dem Gewicht des Rucksacks taumelte und gegen Biri stieß, die glaubte, nicht einen Schritt mehr machen zu können. Der Rock wickelte sich immerzu um die Waden oder blieb an Wurzeln und Unterholz hängen. Ärgerlich riss sie am Stoff und stolperte weiter. Der Sturm tat sein übriges, um ihnen ein Vorwärtskommen zu erschweren. Der kalte Luftstrom biss in die Augen bis sie tränten und fraß sich in die Lungen, die bald bei jedem Atemzug wie Feuer brannten. Doch sie wussten, dass sie des Todes waren, wenn sie jetzt anhielten, also kämpften sie sich weiter über den unebenen, gefrorenen Boden und stemmten ihre Körper gegen den Sturm. Für Karol war es die zweite Nacht, die er auf den Beinen verbrachte. Die Müdigkeit machte sich mit jedem Schritt bemerkbar, doch noch hielt das Adrenalin der Angst ihn aufrecht. Er musste sie alle zum Wagen und in Sicherheit bringen.

Endlich sah er das Gefährt. Es hob sich als dunklerer Schemen von der sie umgebenden Dunkelheit ab. Noch im Laufen nahm Karol den Rucksack ab, da hörten sie erneut das ohrenbetäubende Donnern einer weiteren Granate, die auf ihre Position abgefeuert worden war. Sie waren schon beängstigend nahe.

Beim Wagen eröffnete sich ein neues Problem. Der Boden war so holprig und eisig, dass Karol Zweifel kamen, ob sie es aus dem Waldstück hinaus auf die Straße schaffen würden. Eine erneute Detonation, nur noch wenige Meter hinter ihnen, ließ Biri aufschreien und sich auf den Rücksitz kauern. Eng hielt sie die Rucksäcke an sich gedrückt, als ob sie ihr Schutz bieten könnten. Ole saß am Beifahrersitz und brüllte: „Karol, mach jetzt! Die haben uns gleich!“
„Ich hoffe, die Räder fassen, sonst haben wir Pech. Diese verdammten Motoren sind die Hölle – halten nichts aus, die Dinger.“
„Ich weiß, jetzt mach …“, drängte Ole, der immer wieder konzentriert in die Dunkelheit vor ihnen starrte. Karol startete, der Motor heulte laut auf, kreischte nahezu, als er die Drehzahl erhöhte und schlitternd setzte er zurück. „Festhalten“, brüllte er, dann wendete er und fuhr auf die Straße hinaus, die nur wenige hundert Meter entfernt war und von GP-Einheiten überwacht wurde.

Karol nahm sich keine Zeit zu überlegen, was er hier tat, sondern trat das Gaspedal vollständig durch und der Geländewagen schoss auf die Fahrbahn. Splitternd brach das Holz der behelfsmäßigen Sperrblöcke und mindestens einen Polizisten hatten sie mit dem Wagen erwischt. Schon hörten sie die ersten Projektile in die Karosserie einschlagen. Dann war es mit einem Mal ruhig.
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Karol wagte nicht, vom Gas zu gehen und so schlingerte der Wagen in riskantem Tempo über die eisige Straße Richtung Südosten davon. „Das wird nicht gut gehen“, jammerte Biri. Fi winselte leise, ihn hatte ein Projektil am Hinterlauf gestreift. „Schneller“, forderte Ole, der noch immer das Gefühl hatte, als würde jemand von der GP hinter ihm stehen und ihm den Lauf eines Gewehres in den Nacken pressen. So zog er den Kopf ein und schlug den Kragen hoch, doch das bedrohliche Gefühl blieb. Karol ging es nicht besser, aber er musste sich aufs Fahren konzentrieren, was hieß, er hatte keine Zeit, sich um seine Angst Sorgen zu machen. Das Adrenalin in seinem Blut ließ ihn nur noch reagieren, obwohl ihm die Lider bleischwer über die Augen fallen wollten.


Viktor war nicht müßig, noch bevor seine Familie einige Schritte gelaufen war, gab er Schüsse in die Luft ab, dann rief er über Funk eine Einheit der GP, die sich auf die Fersen der Flüchtenden heften sollten. Auch ihn schnürte die Angst die Kehle zu, als er in den Keller lief und die vielen säuberlich aufgereihten und mit Nummern versehenen Artefakte sah. Einen Tonträger nahm er an sich und las die Titel. Er grinste, als ihm aufging, was er da in Händen hielt. Er verbarg ihn unter seiner Jacke, dann packte er den Sprengstoff aus und bereitete den Keller als finale Grabstätte für diese Dinge aus der Vergangenheit vor. Insgeheim lobte er sich für seine Weitsicht, die Ausbildung für das Bombenräumkommando gemacht zu haben. Nun war es ihm in anderer Hinsicht mehr als behilflich, denn er wusste, wo er die kleinen Pakete aus C4-Plastiksprengstoff platzieren musste, um größtmöglichen Schaden mit dem geringsten Aufwand zu erzielen. Sehr vorsichtig brachte er die Zündkapseln an jedes einzelne Paket an und atmete erst aus, als das sicher erledigt war. Er würde sie mittels Funk auslösen, dann hatte er die Kontrolle. Vor vielen Wochen hatte er sich ein altertümliches Mobilfunkhandy besorgt, das keine Kennung aufwies und niemals mit ihm in Verbindung gebracht werden konnte. Damals hatte er nicht gedacht, dass er es einmal auf diese Art gebrauchen würde.
Er schwitze bereits, als er erneut in den Hof rannte. Viel Zeit durfte er sich nicht lassen. Bald schon würden die Kollegen oder schlimmer die Friedensschützer eintreffen, darunter auch Mahmed Osan und seine Truppe friedensgläubiger Schwachsinniger, wie Viktor sie bei sich nannte, denn von den vier Männern, konnte keiner selbstständig denken. Aber was sie an Geisteskraft vermissen ließen, das holten sie auf körperlichem Gebiet wieder auf, besonders wenn sie als Gruppe unterwegs waren. Wenn sie Witterung aufgenommen hatten, dann ließen sie nicht mehr los, bis sie entweder den Gesuchten gefunden, Beweise erbracht oder einen anderen Befehl erhalten hatten. Viktor stufte diese Truppe als gefährlich ein und er traute den Männern nicht mehr als er ein Haus werfen konnte.

Schon hörte er den Motor eines Panzerfahrzeugs und ihn schauderte unwillkürlich. Jetzt musste er sich wirklich beeilen. Fieberhaft überlegte er, wie er das Haus, die Scheune und alles rasch in Brand stecken konnte und sich selbst noch als Opfer da stehen zu lassen. So packte er die Flasche Selbstgebrannten, den Biri ihm geschenkt hatte und betrachtete sie bedauernd, aber sie würde ihm nun zu einem Brandbeschleuniger helfen. Schnell lief er zum Schuppen, wo die Leiche versteckt lag und entleerte den Inhalt der Flasche auf der Leiche und den Fellen. Hier würde es bald heiß werden und zudem noch erbärmlich stinken. Mit zitternden Fingern riss er ein Zündholz an und warf es auf die Schnapslache. Als er sah, dass das Feuer griff, rannte er hinaus und betätigte den Auslöser für die Bombensätze und so schnell ihn seine Füße trugen rannte er zur Hoftür. Gerade in dem Moment fuhr ein Luchs, ein Spähpanzer der ehemaligen Deutschen Armee, die schon lange assimiliert war, in den Hof ein. Heftig winkend lief er ihnen entgegen. „Weg hier! Alles raus! Hier ist eine Bombe!“, brüllte er und rannte immer schneller, bis er den Panzer umrundet hatte, dann gab es einen heftigen Knall, dem zwei weitere folgten und eine Feuersäule bohrte sich in den stürmischen Nachthimmel.
„Verdammichverdammichverdammich“, hörte er den Kommandanten fluchen, der aus der Turmluke schaute, als sie die Explosionen abebbten. Also waren hier nicht Mahmed und seine Männer drohend herangefahren, es war eine andere Gruppe und das verhieß für die Flüchtenden nicht unbedingt etwas Gutes. Als das Fahrzeug stand, zog er sich zurück, nur um kurz darauf eine Seitenluke zu öffnen.
„Hyrtl? Bist du da unten, altes Haus? Geht’s euch gut?“, fragte Viktor, der auf den Aufbau geklettert war.
„Verdammter Bastard, du! Runter da!“, brüllte der Kommandant, dann öffnete sich die Turmluke erneut und eine Pistole gefolgt von einem breiten Mann in brauner Uniform schob sich hervor. „Verdammich, Viktor, du Volldepp, was machst du hier?“, keuchte der Panzerkommandant.
„Meine Arbeit, Georg! Wenn ihr Friedensschützer etwas besser nachdenken würdet, wäre das verdammte Fiasko hier nicht passiert. Aber ihr wisst ja immer alles besser. Hätt mir glatt das Haar vom Kopf gesengt, von was anderem ganz zu schweigen.“ Mit einem Entsetzen, das nicht ganz gespielt war, blickte sich Viktor in dem entstandenen Chaos um. Überall flatterten die Hühner durch die Gegend, es stank nach verbrannter Wolle, Federn und Blut. Im Hof verstreut lagen Kadaverteile von unvorsichtigen Tieren, die dem Explosionsherd zu nahe gekommen waren. Ein klein wenig drückte Viktor das schlechte Gewissen, weil er sein Versprechen Ole gegenüber nicht eingehalten hatte, aber das Durcheinander war notwendig geworden, um die Spuren zu verwischen, zumindest waren sie so schwerer zu entdecken.

In der Ferne hörten sie den zweiten Spähpanzer, wie er seine Geschosse abfeuerte. Viktor hoffte, dass es sein Bruder schaffen würde. Die Männer an der Straßensperre hatte er angewiesen, keine Verfolgung aufzunehmen. Mehr konnte er nicht machen, hier endeten seine Kompetenzen und in einigen Tagen würde er nicht mehr in seiner Heimat Dienst tun, wenn überhaupt.

„Mahmed und seine Jungs sind auf den Weg zu uns. Sieh zu, dass du wegkommst, Viktor. Ich glaube diese Nacht eignet sich nicht für die Begleichung offener Rechnungen“, brüllte der Funker über den Sturm und den Lärm des Feuers hinweg. „Was, die kommen hierher? Der Arsch mit Ohren traut sich was. Da muss er wohl meinen, wir wären in der Unterzahl.“ Nun mischte sich auch noch der Richtschütze ein: „Kommandant, wie wäre es, wenn ich … du weißt, ich habe die besseren Augen als diese Wüstenblindschlange Ben.“
„Nichts da! Wir sichern hier das Gelände und basta. Kein Kräftemessen mit einer anderen Einheit, verstanden! Außer, die fordern uns heraus.“ Er grinste hoffnungsfroh, dann wandte er sich erneut an den Polizisten: „Viktor, geh zu deinem Wagen und hau ab. Schreib deinen Bericht und fertig.“ Georg Hyrtl war schon immer ein etwas sonderbarer Heiliger gewesen, der nur deswegen zu den Friedensschützern gegangen war, weil er gerne im Wald herumlief und Waffen seine geheime Leidenschaft waren. Nun hatte er eine ganz Große unter seinem Hintern und das gefiel ihm.
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****ra Frau
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Jetzt
möchte ich mich einmal ganz offiziell und höchst formell für die fachliche Hilfe bedanken, die mir ein sehr hilfsbereiter und fachlich versierter Mensch zuteil werden lässt.

*danke* Bedouine für deine hilfreichen Hinweise *knutsch*


Herta
*****ine Mann
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Zu viel der Ehre, Herta.
Deine Geschichte ist hervorragend, von Idee und Stil und Ausführung her, und ich könnte mich über so manchen kleinen Seitenhieb kaputtlachen. *top2*

Es ist mir ein Vergnügen, dazu einen bescheidenen Beitrag zu leisten.

LG
Bedou
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Kommentarlos fuhr Viktor davon, hier zwischen die Fronten zu geraten, wollte er nicht unbedingt, wobei es vielleicht besser war, als seine bevorstehende Versetzung. Als er schon halb in der Dienststelle angelangt war, wurde ihm brennend heiß bewusst, was er unter der Jacke trug. Er fuhr den Wagen an den Straßenrand und begutachtete seine Beute noch einmal. Warum er den Tonträger mitgenommen hatte, wusste er nicht, aber er fand die Titel gut, so viel er davon lesen konnte. Karol hatte einige davon übersetzt und in der Friedenssprache dazu geschrieben, auch wenn sie hier am Land noch die alten Dialekte benutzten, konnte sie kaum einer lesen. Es schüttelte ihn, als er hinter sich die schweren Maschinen hörte, Georg Hyrtl zog ab. Doch nicht ein Luchs näherte sich, es waren zwei und sie schienen sich ein Rennen zu liefern. „Diese verrückten Hunde“, sagte Viktor grinsend. „Georg muss wieder mal zeigen, wer den Größeren hat.“

Vor dem brennenden Bauernhaus war es zu einer kleinen Auseinandersetzung gekommen, als Mahmed mit seinen Leuten das Kommando übernehmen wollte. Doch Georg gab nichts freiwillig her, das er für sich beanspruchte, Friedensglaube hin oder her.
Als Viktor abgefahren war, hatte er den Richtschützen im Panzer gelassen und war mit den beiden anderen herausgeklettert. Mit entsicherten Gewehren umrundeten sie den Brandherd. Georg hatte sich schon vor Jahren eine Maschinenpistole ergattern können, an ordentlichem Material schien es oftmals zu fehlen und wer nicht wusste, wo er es bekam, musste sich eben mit Schrott bescheiden. Die MP7, ebenfalls aus dem Bestand des ehemaligen deutschen Heeres, war sein ganzer Stolz und er wurde nie müde, sie im Einsatz zu testen. Tadellos war sie in Schuss, doch jetzt ließ er sie eingesteckt und folgte gemütlich den anderen. Woher er die Sicherheit hatte, wusste er nicht, aber hier drohte keine Gefahr. Dennoch mussten sie sicher gehen, dass sich das Feuer nicht ausbreiten konnte, denn das hätte erhebliche Folgen für das weiter unten liegende Dorf gehabt. Für Georg war es oberstes Gebot, Zivilisten zu schützen. Nachdem er seinen Spaß gehabt hatte, nahm er seinen Beruf sehr ernst, obwohl er gewisse Befehle erst einmal gründlich überdachte. Bislang war noch niemand auf die Idee gekommen, ihn deswegen zur Rechenschaft zu ziehen.
Gerade als sie zurück zum Panzer kamen, entdeckten sie Mahmed, der den Kopf zum Turm seines Panzers heraus gesteckt hatte und Befehle brüllte.
„Halt die Klappe, Osan, die Show ist vorbei, wir sichern nur noch das Gelände, damit sich der Brand nicht ausweitet. Kannst ja hier mit uns Feuerwehr spielen!“, schrie Georg, ohne den anderen Kommandanten auch nur eines Blickes zu würdigen.
„Das ist unsere Aufgabe!“
„Ach? Wo hast du bis jetzt gepennt? Ihr feinen Herrn taucht immer dann auf, wenn alles vorbei ist und wollt dann die Lorbeeren einheimsen, nein, nein, nein! Nicht mit mir! Wenn ich hier eine Leiche finde, dann gehört sie mir!“
„Wir haben die Flüchtenden verfolgt!“ Mahmed Osan wurde zornig. Mit Georg Hyrtl hatte er ohnehin noch ein Hühnchen zu rupfen, so arrogant wie der ihn behandelte. Er selbst sah sich doch als den besseren Menschen, besonders aufgrund seiner mesopotamischen Abstammung. „Ja, geh, Mahmed, sag jetzt nicht, die Fußgänger sind euch entkommen? So ein Pech aber auch!“ Er lachte laut und ausdauernd, dann schickte er den Funker wieder ins Innere des Fahrzeugs. Hans, der Richtschütze hatte den Panzer der anderen im Visier und wartete nur darauf, dass der eine falsche Bewegung machte. Aber den Gefallen tat der ihm nicht.
Alf, der Funker, war kaum eingestiegen, als er schon wieder den Kopf sehen ließ und brüllte: „Herr Kommandant!“ Georg drehte nicht einmal den Kopf, als er fragte, sondern schaute Mahmed fest ins Gesicht. „Was?“
„Ich habe eben eine neue Nachricht bekommen.“ Georg grinste, dann stieg er in den Panzer. Doch bevor er sich vollends zurückzog, brüllte er: „Osan, du feige Ratte! Wo ich bin, da ist Vorne, vergiss das nicht! Ach ja und sag deinem Bruder, dass er so wenig Autofahren kann wie du!“ Dann schloss er die Luke und gab den Befehl abzufahren. Sie mussten zurück zur Garnison in Poltern fahren. Georg hielt diese Nachtfahrt für unnötig und er fragte sich, was diese Weisung sollte.
Alles hatte damit begonnen, als sich vor vielen Jahrzehnten die Machtverhältnisse in Europa gewaltig nach Südosten verschoben hatten und nun lief nichts mehr so wie vorher. Manchmal wünschte er sich einen ordentlichen Krieg herbei und nicht das, was die Obrigkeit Unfrieden nannte.
In halsbrecherischem Tempo raste der Spähpanzer durch den Wald auf die Straße zu, Mahmed und seine Männer folgten etwas langsamer. Erst als beide die Straße erreicht hatten, ließ Panzerhyrtl, wie er von seinen Freunden genannt wurde, richtig Gas geben. Er öffnete die Turmluke und schaute kurz hinaus, dann brüllte er, wohl wissend, dass ihn die andere Mannschaft nicht hören konnte: „Du kleiner Wichser du, behalt dir deinen Scheißfrieden und steck ihn dir dorthin, wo die Sonne nicht scheint!“ Er zeigte ihm noch den gestreckten Mittelfinger und verschwand wieder im Inneren. Hans brüllte vor lachen, behielt aber sein Ziel weiterhin im Auge. „Er kommt näher Schorsch“, meinte er gerade, als der Fahrer meldete: „Viktor voraus!“
„Der pennt auch! Na dann, überholen wir ihn!“
Georg öffnete eine Seiteluke und winkte dem Polizisten zu: „He, Schnarchnase, du verpennst noch deinen Abflug!“
Viktor lachte darüber, obwohl er sich nicht behaglich dabei fühlte. Er ließ sie überholen und fuhr dann zügig nach Linksufer zu seiner Dienststelle. Was er mit der CD machen sollte, wusste er noch immer nicht, Musik war nicht erlaubt. Es durften nur Gebetsverse gesungen werden. „Wohin sind die ganzen schönen Sachen verschwunden?“, murmelte er, als er sein Büro betrat. „Where have all the flowers gone“, summte er leise beim Verfassen des Berichts, der nichts anderes als ein Märchen war.

Am nächsten Tag wurden die verkohlten Überreste des Wildhüters entdeckt. Zuerst dachte man, es wäre Karol Kreuzer, doch eine DNS-Analyse und ein Zahnabgleich verhalfen zur Identifizierung der Leiche. Das dauerte aber noch einige Wochen.

Eine Woche später befand sich Viktor Danninger, vormals Kreuzer, in einem Flugzeug der Friedensregierung mit unbekanntem Ziel, das über Magyarslam abstürzte. Ob es Überlebende gab, wurde nie ermittelt auch die Absturzursache blieb im Dunkeln, wobei gewisse Kreise vermuteten, es handle sich um einen Anschlag der verfeindeten Magyarslamen, die allesamt dem Kalifat in Temswar unterstanden. Der Bereich Banat war früh missioniert und befriedet worden. Die Menschen dort waren nur dem Kalifen in Temswar hörig und der wiederum hörte auf sein Pendant in Ankora. Sie versuchten das Kalifat Viyanna in ihre Finger zu bekommen und ihren Einflussbereich zu vergrößern.
Aus Angst vor weiteren Vergeltungsmaßnahmen verzichtete der Kalif von Viyanna auf eine weitergehende Untersuchung und gewisse Kreise in seinem Stab begrüßten seine Unterwürfigkeit, denn ihnen kam der Tod gewisser Personen mehr als gelegen.

„Wald des Heiligen Friedens“, südöstlich von Viyanna, 76 n. U.

Über den Umstand, dass sie wandern mussten, konnte sich Karol nicht beruhigen. Die ganze Zeit schimpfte er auf die GP, die seinen Wagen ruiniert, den Hund verletzt und ihn zum Gehen gezwungen hatten. Ole fand das schon wieder beinahe witzig, aber auch ihm taten die Füße weh und so schwieg er lieber. Auch Biri war sehr ruhig, sie schleppte ihre Habseligkeiten und versuchte nicht daran zu denken, was noch alles geschehen konnte. In ihrem Inneren rumorte der Hass auf das Regime, den sie seit ihrer Jugend nicht richtig ablegen konnte. Ständig fand er neue Nahrung und irgendwann, das wusste sie, würde sie explodieren und jemanden mitnehmen.

Bereits in der Fluchtnacht hatten sie den Wagen aufgeben müssen, denn ein Geschoss hatte die Treibstoffleitung getroffen. Als der Tank leer war, waren sie gezwungen zu gehen. Fis Verletzung besserte Karols Laune keineswegs, auch wenn der Hund mittlerweile weniger stark hinkte.
Das war vor drei Tagen gewesen, bislang hatten sie keine Spur einer Verfolgung entdeckt, aber sie wagten nicht zu hoffen, die GP oder die Friedensschützer abgeschüttelt zu haben. Vielmehr fürchteten sie Hinterhalte und so war ihr Vorankommen langsam und vorsichtig. Allesamt waren sie müde, unterkühlt und hungrig, denn sie hatten ihre Vorräte sehr stark rationiert. Ein sicheres Versteck wäre ihnen mehr als willkommen, um sich ordentlich ausruhen zu können.

Der Wagen war in der Industrieregion Ufer Ost liegengeblieben, wo es auf den ersten Blick wenig Deckung zu geben schien, dafür zu viele Menschen. Doch der zweite Umstand erwies sich als nützlich. Sie tauchten einfach in der Menge unter, nicht einmal mit ihren Rucksäcken fielen sie sehr auf, weil viele Pendler ihren Hausrat auf dem Rücken trugen. Es war nie sicher, ob ihr Haus am Abend noch stehen würde, so trugen die jungen Männer aus den Armenvierteln ihre Siebensachen mit sich herum. Hier war der Stoff, aus dem die Zukunft der neuen Regierung gemacht wurde, das künftige Kanonenfutter für die Friedensarmee. Karol graute bei der Vorstellung, dass diesen Menschen absichtlich Bildung vorenthalten wurde, dafür wurden sie von früh bis spät für die Sache des Friedenskalifats in Mitteleuro indoktriniert. Dauernde Berieselung mit gesungenen Gebetsversen konnte den stärksten Willen lahmlegen.

Immer nur stückchenweise und sehr langsam kamen sie voran, denn die großen Firmen wurden mit Cams überwacht. Schließlich verbargen sie sich im Anhänger eines Lastwagens, dessen Ziel Poltern war. So kamen sie endlich über den Fluss und kurz vor der ehemaligen Hauptstadt von Niederdonau sprangen sie von der Ladefläche. Dort war eine große Garnison von Friedensschützern stationiert. Karol wollte sie weiträumig umgehen, deshalb wandten sie sich nach Süden, ins Bergland. Hier war von einer Schneeschmelze noch wenig zu bemerken. Besonders nachts war es empfindlich kalt und sie drängten sie sich eng aneinander, um ja nichts an Körperwärme zu verlieren. Karol ließ nur wenige Pausen zu, denn er hatte es eilig weiter zu kommen. Mit jeder Minute, die sie hier im Freien verbrachten, sah er seine Chancen auf ein Entkommen sinken. Erst wenn er in seinem Notquartier war, konnte er sich daran machen, einen Plan für die Zukunft zu entwickeln, bis dahin hieß, es Haken schlagend durch den Wald zu rennen. Immer wieder ging er in Schleifen und auf den eigenen Spuren zurück, um mögliche Verfolger zu verwirren. Doch das machte alle müde. So schön die Gegend auch war, oder einmal gewesen sein mochte, die Flüchtenden hatten keinen Sinn dafür. Die Buchen und Eichen schienen sie zu verhöhnen und immer wieder taten sich plötzliche Abgründe auf, mit denen in der Gegend nicht zu rechnen war. Ohne den altertümlichen Kompass, den Karol ständig benutzte, hätten sie sich schon hoffnungslos verirrt so oft wie sie die Richtung gewechselt hatten.

„Wo zum Henker sind wir hier?“, fragte Ole, der seit seiner Ankunft in Oberdonau noch nie weiter bis Linksufer gekommen war. Dieser Wald sah anders aus, als der nördlich der Donau. Er war lichter, mehr Laubbäume verschafften eine gute Sicht von oben, zumindest jetzt im Winter. „Über die Hügel da“, begann Karol wobei er vage in nordöstliche Richtung zeigte, „da geht’s nach Viyanna, Ole. Dort werden wir versuchen, ein altes Versteck von mir zu erreichen. Aber erst einmal müssen wir es bis dorthin schaffen.“
„Na toll, in die Hochburg des mitteleuronischen Friedensregimes. Hast du vor dem Obergauner, Kalif Harim Kropf einen Besuch abzustatten?“
„Du Spinner, der heißt Kopf und nicht Kropf. Ich hoffe wirklich, dass wir dort eine Weile untertauchen können.“
„Wenn wir es schaffen, Karol, …“
„Seid mal still“, unterbrauch ihn Biri, die meinte ein Geräusch gehört zu haben.
„Was?“
„Pscht!“
„Fi!“
„Pscht!“
„Was?“
„Ruhe! – Jetzt ist es weg.“
„Was?“
„Das, was ich gehört habe. Es kam von dort.“ Sie zeigte auf eine Baumgruppe, die etwas enger zusammenstand und ging auch schon darauf zu.
„Biri, verdammt, bleib hier! Lass mich gehen!“ Ihre Sturheit übertraf ihre Größe bei weitem. So tat sie einfach, als hörte sie Karol nicht und pirschte vorwärts.
nochmal Kaminlesung
****ra Frau
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Doch als sie an den Bäumen ankam, sah sie vorerst nichts. Karol kniete sich neben sie und starrte in die beginnende Dunkelheit.
„Der Preis des jahrzehntelangen Wegschauens“, murmelte er schließlich. Er hasste den Anblick von Leichen und von solcherart zugerichteten noch mehr. „Komm, Biri, hier können wir nichts mehr ausrichten. Weiß der Himmel, was hier geschehen ist und warum der Mann so sterben musste.“ Als sie auf den Platz gehen wollte, hielt er sie scharf zurück: „Halt! Du hilfst ihm nicht mehr, aber schadest uns, falls noch einige der Kerle in der Nähe sind. Warte noch!“
„Karol, wir können ihn doch nicht so hängen lassen?“, meinte sie, obschon sie wusste, dass er recht hatte und ihr der Würgereiz immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Nun kam auch noch Ole dazu, der Fi gerade noch am Halsband erwischt hatte und mühsam zurückhielt. „Platz, Fi“, zischte Karol, was den Hund zu Boden zwang, aber ein unwilliger Ausdruck blieb in seinen Augen. Sein Körper bebte vor Anspannung und unterdrückter Kampflust, aber der Chef war Karol, wenn er nicht allein unterwegs war. So duckte er sich jetzt an seiner Seite und wartete nur auf ein Handzeichen, um die Übeltäter, die er als seine Beute sah, zu stellen. Karol wollte sich eben leise zurückziehen, als er einen Blick in das Gesicht des Opfers wagte und er schrak zurück. „Verdammt“, murmelte Karol, der schon mit gezogener Pistole stand, noch bevor er sich einer Entscheidung bewusst war. „Ihr wartet hier und haltet den Hund zurück“, befahl er wütend.

Während Ole mit den Eigenheiten des Hundes kämpfte, schlich Karol auf den Richtplatz. Sogar jetzt in der kalten Dämmerluft war der Geruch nach Blut und Exkrementen noch bemerkbar. Die tödliche endende Tortur des Ungläubigen lag wohl noch nicht allzu lange zurück. Karol unterdrückte den Brechreiz erneut, schloss kurz die Augen bevor er sich entschlossen dem Gehenkten zuwandte. ‚Welch ein Preis, nicht den Glauben der Mehrheit angenommen zu haben, Istvan, denn für deinen Glauben bist du den Martertod gestorben. Du warst immer schon der Tapferste von uns allen’, dachte er bitter. Einige Fahrten zu verbotenen Orten hatten sie gemeinsam unternommen. Auch Istvan Janos war ein Interessierter gewesen, einer derjenigen, die sich der Vergangenheit und der alten, wenn auch als kriegerisch und unrein geltenden, Kultur annahmen und sie zu erhalten versuchten. ‚Warum hast du nicht bei einem unserer Freunde Hilfe gesucht? Wer hat dich verraten, Bruder? Nicht einmal jetzt kann ich dir helfen. Diese verdammten Hunde, dafür werden sie büßen.’ Seine Gedanken drehten sich kurze Zeit nur noch um Rache, doch dann dachte er wieder an seine kleine Sippe und die Aufgabe, die alte Geschichte zu erhalten.
Mehr als einmal hatte ihm Istvan aus der Patsche geholfen, wenn ihnen die GP oder die Friedensschützer auf den Fersen gewesen waren und nun war er das Opfer seiner rachsüchtigen Nachbarn geworden, denn genauso sah der Richtplatz aus. Steine lagen herum und man sah genau, die unwürdige Strafe, die unweigerlich mit dem Tod enden musste.

Neugierig geworden, blickte er sich langsam um. Das hier war keine natürliche Lichtung, sie war von einem Zaun umgeben. Es war ihnen nur nicht aufgefallen, weil sie durch einen beschädigten Teil gekommen waren. ‚Ich muss vorsichtiger sein’, schalt er sich. ‚Das hier ist keine Kinderei mehr, die gehen über Leichen – aber wie.’ Es schüttelte ihn und nur mühsam gelang es ihm, nicht zur Leiche von Istvan zu schauen. Gegenüber vom Richtbaum mündete eine Straße in den Platz und dort befand sich ein verschlossenes Tor.

Nun kam auch Biri aus der Deckung. Sie hatte den Flachmann mit dem letzten Tropfen Selbstgebrannten in der Hand, den sie nun Karol entgegenhielt. „Trink!“, befahl sie eisern wobei sie selbst gegen die Tränen ankämpfte. „Wie kann man einen Menschen nur so quälen bevor man ihn umbringt? Warum nicht einfach aufhängen und gut ist? Istvan war immer hilfsbereit zu seinen Nachbarn.“
„Ich weiß, Biri. Wie lange hast du in der Heiligwaldsiedlung gelebt?“
„Fünfzehn Jahre, Karol, warum fragst du? Ich will mich nicht daran erinnern.“ Beruhigend legte er eine Hand auf ihren Arm und führte sie von der Leiche fort. „Was ist damals vorgefallen? Ich weiß nur das, was du mir einmal über deine Narben erzählt hast und Istvan hat darüber die Klappe gehalten.“
„Nichts!“ Beharrlich schwieg sie. Diesen Teil ihrer Vergangenheit blendete sie aus, er war wie ein weißer Fleck auf einer Landkarte. Doch immer wieder kamen Teile eines Musters hervor und holten sie ein. „Nichts!“, wiederholte sie, nur um sich selbst Gewissheit zu geben.
„Wann immer du willst, höre ich dir zu, Biri.“ Sie sagte nichts mehr, nahm nur seine Hand und zusammen gingen sie ein Stück, die Pistole hatte er halb erhoben, so als würde er jeden Moment schießen wollen. Karol schaute sich genau um, er wollte nicht, dass ihm noch einmal etwas entging. Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt und redete sich auch ein, im Notfall schießen zu können. Wenn er an Istvan dachte, wusste er, dass er keine Skrupel haben würde, die Waffe zu benutzen wenn ein Messer keine Aussicht auf Erfolg böte.

Ole ging mit Fi an der Hand den Zaun entlang. Der Hund knurrte ohne Unterlass und die Nackenhaare waren in einer aggressiven Art gesträubt. Er sah tatsächlich so gefährlich aus, wie er war. Fi war eine Naturgewalt auf vier Beinen, wenn es darum ging, seine Menschen zu beschützen. Er war so groß wie ein kleines Kalb aber nur halb so niedlich, sein Kiefer war so stark, dass es Knochen brechen konnte. Welche Rassen sich in ihm vereinten konnte keiner mehr herausfinden, Karol interessierte es auch nicht. Fi war ein guter und aufmerksamer Hund, darauf kam es ihm an.

„Karol? Was machen wir mit ihm?“, fragte sie, obschon sie ahnte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde. Eine Weile sagte er nichts, dann meinte er: „Nichts. Wir lassen ihn so wie er ist. Ihm kann keiner mehr etwas antun und was diese verdammten Wölfe als Schande ansehen, sehe ich als Mahnmal an die Zukunft und Erinnerung an die Vergangenheit.“
Ole eilte nun herbei und trieb sie zur Eile an. „Wir können nicht mehr hierbleiben. Ich fürchte … sie werden uns entdecken und dann …“, er redete nicht weiter, sondern beendete seinen Satz mit einen kurzen Blick auf den Toten.

Den Weg, den sie gekommen waren, schlichen sie zurück. Jeder war in seine eigenen trüben Gedanken gehüllt. Bis weit in die Dunkelheit marschierten sie, nur das kleine Licht der Taschenlampe erhellte den unklaren Weg vor ihren Füßen und verhinderte schlimme Stürze.

Nach weiteren drei Tagesmärschen und zwei durchfrorenen Nächten kamen sie in die urbane Gegend von Viyanna. Sie stiegen einen letzten Abhang hinunter, der gefährlich glatt war und keinerlei Deckung bot. Aus der Ferne erkannten sie bereits die Außenbezirke der Großstadt, die zahlreichen Wohnsilos, wo Millionen von Menschen hausten. Den Gestank der Kanäle und Kläranlagen konnte kein Filter mehr hemmen und war schon von weitem zu riechen.
Wie drohende Finger stachen die schlanken Gebetstürme in den Himmel, höher noch als die Hochhäuser am Stadtrand wirkten sie. Karol schüttelte sich unwillkürlich.

Auf Umwegen und einem verschlungenen fast unkenntlichen Pfad gelangten sie schließlich zu den ersten Wohnblocks. Neben den tristen Gebäuden wirkte das spätwinterliche Braun der Wälder und Wiesen direkt bunt. Noch nie war sich Biri der Farblosigkeit einer Gegend so bewusst gewesen. Das einzige, das hier Farbe verströmte, waren die Fahnen der Friedensregierung unter dem Kalifen, die vor jedem Wohnblock rot hervorstachen. Sie wirkten weniger einladend als drohend. Dazu kam noch der monotone Singsang aus den Lautsprechern, wenn Andachtszeit war. Diese Arbeiterviertel waren die Hölle auf Erden. Hier gab es nichts, das Ablenkung geboten hätte. Die Wohnungen waren klein – eine Diele, ein Schlafzimmer, wenn man Glück hatte, gab es ein zweites, das noch immer wie früher hier üblich war, Kabinett genannt wurde, und eine Hygienezelle. Die meisten Männer gingen zur Körperpflege ins Hamam, das eine Menge Geld verschlang, ebensoviel Geld nahmen die Imbissbuden und Suppenküchen von den kargen Verdiensten ein, denn die Wohnungen boten aufgrund der ständigen Gasknappheit keine Möglichkeit, zu kochen. Strom war ebenfalls starken Rationierungen unterworfen und nur religiöse Zentren oder privilegierte Gläubige konnten mit höheren Einheiten rechnen, die dann auch noch billiger waren als für den Normalverbraucher. Viele der Menschen hier am Rand lebten unter dem Existenzminimum und viele der Frauen trugen unter ihren Schleiern nichts, wenn sie sich abends an die Straßenecke stellten und auf Kundschaft warteten. Da blickte die intolerante Regierung weg, das ging sie nichts mehr an, auch dann nicht, wenn die Hure mit aufgeschnittener Kehle oder zu Tode geprügelt aufgefunden wurde. Es galt das Recht des Friedens und das sagte, dass die Frau züchtig zuhause bleiben und sich dem Willen des Mannes unterwerfen muss.

Sehr unwillig hatte Biri ihren Kopf bedeckt, sie wusste nicht, was der Weltfrieden mit ihrem Haar zu tun haben sollte, aber um ihrer aller Leben willen, fügte sie sich. Doch aus ihren Augen sprach der Trotz. „Bitte, Liebste, halte deinen Blick gesenkt. Jeder halbwegs schlaue Kopf sieht, was in dir vorgeht“, bettelte Karol, der sie nur zu gut verstand. Auch ihm ging es gegen den Strich, wie die Freiheit des Einzelnen in den Schmutz getreten wurde.

„Wie lange müssen wir noch durch dieses graue Höllenloch?“, fragte Ole düster. Er hatte es übernommen, den Hund zu führen und gerade jetzt war es ihm eine schwere Aufgabe, das Tier bei Fuß zu halten. Fi wollte jagen.
„Nicht mehr weit. Eine Weile noch, dann werden wir von der Bildfläche verschwinden. Aber hier sind wir noch zu weit draußen.“
„Du willst noch weiter in die Stadt hinein? Bis du verrückt?
Karol grinste, dann meinte er: „Wir gehen ins Herz dieser Stadt der Philister und dann werden wir schon sehen, was ein kleines Steinchen anrichten kann.“
Biri fand seine Worte kryptisch, denn das Volk der Philister kannte sie nicht. Noch nie hatte er auf diese Art gesprochen. Auch Ole blickte ihn zweifelnd an. Dann lachte Karol. Er hatte vor, ein uraltes Spiel zu spielen, aber ob seine Steine ebenso treffsicher sein würden, dessen war er sich nicht sicher. Auf einen Versuch wollte er es ankommen lassen, denn mit Nichtstun half er nur dem Regime.
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