Die Kreuzer (Teil 1)
Ausgrabungsstätte im ehem. Rom, Sommer 223 nach Unterwerfung. Einige unverbesserliche Neugierige hatten sich im Jahre 221 n. U. auf den Weg zu den Ruinen von Rom gemacht.Eifrig gruben sie nach Schätzen und versuchten die Vergangenheit zu rekonstruieren. Unschätzbare Kunstwerke hatten sie zu Tage befördert und katalogisiert. Doch der Administration in Ankora, wo die Weltregierung saß, war dieses Unterfangen ein Dorn im Auge. Die Forscher wurden streng kontrolliert und bewacht. So kam es, dass sie unter Einsatz ihres eigenen Lebens ihre Arbeit fortführten. „Europa ist groß“, schrieb die inoffizielle Leiterin der Expedition in ihr Tagebuch. Dann wurde einer ihrer Assistenten von der Polizei erwischt, wie er mit einem Ausgrabungsstück zu ihr fahren wollte. Sie hatten ihn sofort exekutiert. Den Grund für diese unnötige Eile erfuhren sie nie. Jusef war weg und niemals er fuhr jemand etwas von seinem grausamen Schicksal.
Bereits am nächsten Tagen kam die erste Aufforderung, dass sie die Stätte zu verlassen hatten, denn es wäre jetzt militärisches Sperrgebiet. Sie ließen sich nicht beirren und machten weiter. Doch als sie wenige Tage später große Lastwagen und Panzer anrollen sahen, räumten sie das Gebiet.
Die Ausgrabungsstätten wurde es zerstört. Kein Stein, so tief er auch vergraben gewesen sein mochte, blieb auf dem anderen. Alles hatte die unterirdisch gezündete Atombombe zerstört.
Nicht ganz, doch das wusste die Administration in Ankora noch nicht. Durch Europa war ein Erdbeben gefahren, das sogar noch in Hammburk zu spüren gewesen war und die Mess-Station in Nordphol hatte Ausschläge registriert. Doch das wurde verheimlicht.
Die Forscher waren mit knapper Not entkommen und in den Norden geflohen, sie schnell es mit den Artefakten ging. Es waren eine kleine Silberdose, eine Flasche, Teile einer Orgel und ein Kruzifix, die sie in einem Wagen versteckt hielten. Bei jeder Kontrolle schwitzten sie Blut und Wasser und fragten sich, wann sie entdeckt würden. Doch sie kamen Heil über die Berge in ihre Heimatstadt. Schon von weitem grüßten sie die hohen, schlanken Gebetstürme, die elegant wirken mochten, doch meistens nur bedrohlich aussahen.
Es dauerte weitere zwei Jahre bis sie die Fundstücke in sicheren Verstecken verwahrt hatten und sicher sein konnten, nicht mehr überwacht zu werden. Jeder hatte sich wieder eine unverdächtige Arbeit gesucht und benahm sich so, wie es die Administration für sie vorsah.
Viyanna, ehem. Wien, später Herbst 223 n. U.
„Sehr verehrte Gläubige, Brüder und Schwestern, grüßen und ehren wir zuallererst den Göttlichen, der uns mit seinem Strahl beschwingt in dieses Jahrtausend des Friedens und der Freude gebracht hat“, verkündete der Mann im weißen Anzug feierlich.
Stumm standen zehn Männer und zwei verhüllte Gestalten, es mochten Frauen sein, in der Halle des Friedens. Dann wurden die Verhüllten zurückgelassen und die Männer wanderten nach vor ins ehemalige Presbyterium. Der Mann im weißen Anzug redete derweil ohne Unterlass weiter. Es schien eine Art Mantra zu sein, denn er wiederholte es ohne Unterlass, so als versuchte er einen Schutzschild aufrecht zu halten oder eine Meldung weiterzugeben.
Als die Männer weg waren, wurden die Frauen geschäftig. Es war keine Unterhaltung zu hören, doch eine Gestalt nickte und schob eine Hand aus dem Umhang. Rasch machte sie ein Zeichen und es kamen noch zwei Gestalten aus verborgenen Nischen. Kein Geräusch war zu hören, als sie sich in einer Nische begegneten. Dann drückte die Erste der Vier auf einen Stein, der versenkte sich und gab geräuschlos eine Treppe nach unten frei. Als Alle sicher die unebenen, von zahlreichen Füßen glatt polierten Steinstufen hinabgestiegen waren, wurde abermals ein Mechanismus in Gang gesetzt, der das Tor wieder sicher verschloss. Erst jetzt machte sie Licht, zog den Umhang vom Kopf und alle atmeten hörbar auf. „Ulf, Thamira, Brec, ich freue mich, euch zu sehen“, sagte sie. „Wir freuen uns auch, Livia. Es ist lange her, dass einer unserer Brüder oder eine Schwester hier war“, flüsterte Brec. „Ja, Leute, es ist wahrlich lang her. Doch nun nähert sich unsere Zeit – eine Zeit der freien Gedanken wird wieder anbrechen, Leute. Wir habe den Schlüssel gefunden …“ Sie redete nicht weiter, sondern drehte sich um und ging aufrecht den dunklen Gang entlang. Wo immer sie auch ging, wurde es hell. Keiner vermochte zu sagen, wie das Licht hier unten funktionierte und wer vor vielen tausend Jahren diesen Automatismus eingebaut hatte. An einigen Steinen waren Fische eingraviert, an anderen verblassende Zeichen, die nicht mehr mit Sicherheit gedeutet werden konnten. Livia ging zielstrebig weiter, bog einmal rechts ab, dann wieder links und immer dort, wo sie ging, breitete sich samtiges Licht aus. Hinter Brec, der als letzter ging, wurde es wieder dunkel.
Endlich, der Marsch hatte mehrere Minuten in Anspruch genommen und sie waren schon lange nicht mehr unter den Hallen des Friedens, öffnete sich ein vor ihnen ein Saal mit hoher Decke, die von mehreren Säulen im dorischen Stil getragen wurde. Hier waren schon zahlreiche Menschen versammelt. Alle trugen einfache Tuniken und Hosen, doch darüber hatten sie alle eine Art Wappenrock. Es war ein weißes viereckiges Stück Stoff, das über den Kopf gestülpt wurde, das um die Mitte mit einer Kordel gehalten wurde. Vorne und hinten zierte es ein großes schwarzes Kreuz. Thamira und Livia entfernten ihre Schleier und zu viert gingen sie zu so etwas, das einen Altar darstellen mochte.
„Simineon“, sagte Livia, als sie vor dem großen aber leeren Tisch standen. Ein eindrucksvoller Mann wendete sich ihnen zu und lächelte, als er sie erkannte. „Tochter, wie schön, dich wieder einmal hier in den Heiligen Hallen des Grals zu sehen. Was führt dich hierher aus der Welt der Unsicherheiten und des Gleichschritts?“
„Vater, wir haben etwas entdeckt, das wahrscheinlich unentdeckt hätte bleiben sollen. Thamira hat es gefunden, Brec und Ulf haben es geborgen und zu mir gebracht. Leider ist es so groß, dass ich es nicht gefahrlos in die Hallen bringen konnte. Nur das hier.“ Sie zog eine Flasche aus dem Umhang hervor und ein kleines silbernes Etui. „Was soll ich damit, sieht sehr antik aus, das Zeug, Livia? Es scheint nicht religiös zu sein“, er klang zweifelnd und blickte von einem Gesicht zum anderen. In allen las er Furcht und Entschlossenheit. Dann lächelte er und nahm zuerst das Etui. Es war etwas beschlagen und der Glanz war schon lange verloren. Mit einem Zipfel seiner Robe polierte er es und zum Vorschein kamen verschiedene ineinander geschlungene Ornamente, die sich um eine Pyramide rankten über der ein Auge schwebte. „Hm“, machte er. „Diese Symbole habe ich schon einmal gesehen.“ Entschlossen zwang er das Behältnis auf und blickte ins Innere. Krümel eines trockenen Krautes waren zu sehen und eine Zigarettenspitze aus Elfenbein. Es war einmal ein wertvolles Stück, das wusste er. Lange Jahre im Verborgenen hatten ihn gelehrt, Gerümpel von Wertvollem zu trennen, das Wertvollste, was er je gefunden hatte, war ein Wasserspeicher, den sie noch immer nutzten. „Das könnte auf dem Schwarzmarkt einiges bringen, aber wozu es gut sein soll, kann ich nicht sagen. Das Etui werde ich behalten. Ich möchte die Schriftzeichen darauf analysieren. Dann sehen wir uns mal die Flasche an.“ Die Flasche und das Etui wechselten ihren Platz und nun hielt der Mann die Flasche ins Licht. Auf ihr war nichts zu erkennen, keine Reste irgendwelcher Malereien, keine Muster, gar nichts. Langsam löste er den Schraubverschluss und hielt sich den Flaschenhals unter die Nase. Vorsichtig schnupperte er. Es tat sich nichts. Die Flasche war leer, nicht einmal Gas, denn die Luft, die darin eingeschlossen gewesen war, war mit dem Öffnen der Flasche entwichen. „Hm … Wo habt ihr das gefunden, Kinder? Und was habt ihr noch entdeckt?“
Endlich kam die Frage. Es war die wichtigste und alle vier waren sie aufgeregt. Doch es war Ulf der dann endlich den Mut aufbrachte und von dem Kruzifix berichtete.
„Wo, Bruder, wo habt ihr es gefunden und wie um des Herrgottwillens ist es zu euch gekommen?“, Simineon brüllte diese Frage beinahe und es wurde mucksmäuschenstill in der Halle. Ulf räusperte sich und setzte zum Sprechen an, doch Livia sprach schließlich weiter: „Vater Simon, lange hat es gedauert, bis wir die Überreste von Rom durchforstet hatten und wir mussten oft nachts arbeiten, denn die Gedanken- und Religionspolizei sollte uns nicht erwischen. Du kennst das Spiel.“ Er nickte stumm, dann setzte er sich auf den Tisch und wartete auf die Fortführung des Berichts. „Ja, es war gefährlich, Vater“, stimmte nun Thamira mit ein. „Aber wir sind schließlich auf etwas Großes gestoßen, es ist so groß und so schön, das kannst du dir nicht vorstellen. Doch vorher fanden wir die Reliquie. Es ist ein einfaches Holzkreuz, Vater, auf dem man noch deutlich das Abbild eines Menschen erkennen kann. Es muss uralt sein, denn seit es die Friedensbewegung gibt, ist jedes menschliche Bildnis verboten. Viel ist nicht mehr zu erkennen, aber die Figur scheint männlich zu sein. Vom Gesicht kann man nicht mehr als die Augenhöhlen erkennen. Du wirst staunen, wenn du es siehst. Er sieht trotz der brutalen Machart so sanft aus. Das andere ist ein Musikinstrument, zumindest war es einmal eines. Wir haben nur den hölzernen Körper gerettet. Leider mussten wir die Metallteile zurücklassen. Du weißt ja, wie die Behörden auf Metalle reagieren.“ Sie seufzte und dieses Geräusch setzte sich fort, bis die Menschen im gesamten Saal seufzten. Jeder wusste, wie die Ämter auf Metall reagierten – und die Kreuzer trugen zumeist viel Metall mit sich herum, zumeist waren es gut versteckte Messer und Äxte, die gut unter dem Wappenrock getragen werden konnten oder auch leicht in der Hose oder den Hemdsärmeln verschwanden. Auch und besonders unter den Körperschleiern der Frauen konnte man viele Waffen mitnehmen. Einige Männer waren bereits dazu übergegangen, sich diese Schleier zu besorgen und manchmal wagte sich einer von ihnen in Frauenkleidern in die Stadt und richtete irgendwo ein kleines Blutbad an, bevor er sicher wieder in der Menge verschwand.
„Ich bin sprachlos, Kinder“, murmelte der alte Mann. „Niemals dachte ich, ich würde ein Kruzifix sehen. Bring mich hin, Livia. Lass mich es berühren, wenn ich danach sterben muss, ist es mir einerlei, denn meine Gedanken wurden erhört.“ Die junge Frau sah Tränen in den Augen des alten Anführers, aber er schien es nicht zu bemerken, zu bewegt war er von den Nachrichten. „Vor über zweihundert Jahren, Kinder, war Rom das Zentrum unseres Glaubens. Ich denke, der Fisch wird sich wieder auf die Wanderung machen und die Kreuzer, werden ihm sicheres Geleit geben.“ Er schlug mit der rechten Hand auf seine Brust ein und etwa hundert Menschen taten es ihm gleich. „Ja! Wir machen uns auf den Weg, Kameraden, Brüder und Schwestern! Der Weg ist bereitet, wir haben ein Ziel!“, brüllte er und dann wurde es mit einem Mal totenstill.
Unheilschwanger breitete sich die Stille aus, wie Sirup schien sie von der Decke zu tropfen. „Gas“, flüsterte Simineon. „Lauf, Tochter und rette alle, die du retten kannst. Lauf.“ Entschlossen drückte er noch einen Knopf und ein Kasten sprang auf. Er sank zu Boden und zog eine Maske hervor, die drückte er sich einen Moment vor das Gesicht und atmete tief ein und wieder aus. Danach drückte er sie Livia in die Hand, eine zweite gab er Ulf. „Ihr … geht … schnell …“ Ulf drückte sich die Maske vor Mund und Nase und schob sich die Halterung über den Kopf, dann machte er das bei Livia, welche die Augen nicht von ihrem Vater und den sterbenden Freunden wenden konnte. „Schnell“, drängte er und hörte seine Stimme selbst nur gedämpft und fremd. Er packte Livia am Handgelenk und zog sie fort. Am Ausgang des Saals, griff er nach Körperschleiern und bedeckte sich und Livia damit. Mit den Masken war es nicht perfekt aber auf den ersten Blick waren sie so nicht zu erkennen.
Vorsichtig pirschten sie sich voran. Das Licht funktionierte nicht mehr, das hatte Simineon noch erledigt. In den Katakomben war es so dunkel, dass sie vorsichtig mit den Füßen über den unebenen Boden tasten mussten, um nicht zu straucheln. Minutenlang schlichen sie so dahin, Schweiß bedeckte ihre Körper, denn es war heiß und unter den Schleiern staute sich die Hitze noch mehr.
„Feuer“, murmelte Ulf.
„Laufen, schneller“, keuchte Livia. „Zu mir heim, Zugang …“
„Nein … nicht da lang.“
Ulf nahm eine andere Abzweigung und langsam wurde die Luft etwas kühler. Einen Moment blieben sie stehen, um zu Atem zu kommen und schauten sich in der Dunkelheit um. Hinter sich konnten sie einen fahlen Lichtschein erkennen.
„Feuer …“, flüsterte Ulf, dann schüttelte es ihn. „Weiter, Liebes, den nächsten Ausgang hoch, dann zu dir … Artefakt und losrennen, wie die Dyms von früher.“ Schweigend gingen sie weiter, kletterten eine Leiter hoch und kamen in ein weiteres verzweigtes unterirdisches Wegenetz. „Ah, jetzt weiß ich wo wir sind“, flüsterte Livia, die sich am Geruch orientiert hatte. Sie schloss die Augen und schnupperte. „Es ist der alte Abwasserkanal, es gibt einen Aufgang zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt.“
„Gut zu wissen. Wir holen jetzt das Ding und dann tauchen wir für einige Zeit ab … ich will nicht, dass uns die Roten zu bald erwischen.“
„Ich weiß. Ich dachte nicht, dass sie uns auf den Fersen sind, oder zumindest nicht, dass sie schon so nahe sind. Vater …“ Ulf nahm ihre Hand und drückte sie fest, dabei schaute er sie unentwegt an, bis sie den Druck erwiderte. Es war etwas, was die Roten schon vor langer Zeit verboten hatten. Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Sie wussten, dass alle ihre Freunde in den Katakomben verbrannt waren und sie trauerten um sie, doch noch hatten sie keine Zeit, die notwendigen Rituale zu machen oder für sich Worte des Trostes zu finden. Das Überwesen würde es verstehen, davon gingen sie aus, denn für sie war es ein freundlicher Geist, der den Menschen nur Gutes wollte.
„Hier sind wir“, flüsterte Livia als sie über sich Licht erkannten.
„Jetzt aber schnell, bevor sie uns kriegen, diese Friedgläubigen“, murmelte Ulf mit grimmigem Blick. „Ich hab zwar noch einige kleine Schätze, aber die heben wir für den Notfall auf, nicht in der Stadt.“ Livia nickte, auch sie hatte einige dieser Dinger an sich versteckt und sie konnte damit gut umgehen. Dann stieg sie die Leiter hoch, die an einem Kanaldeckel endete. Mit den Schultern stemmte sie ihn hoch, dann schepperte es gewaltig und sie sprang hinaus, dicht gefolgt von Ulf. Sofort liefen sie in den Schatten des nächsten Hauses. Von überall her hörten sie die neuesten Meldungen des Tages, die besagten, dass ein Terrornetzwerk ausgehoben worden sei. „Wir wollen doch nur in Ruhe gelassen werden von diesen gottverlassenen Menschen“, zischte Livia zornig. Ulf schüttelte den Kopf, als er merkte, wie sie unter dem Umhang nach etwas tastete. Er nahm an, sie suchte nach einer kleinen Sprengladung für die Lautsprecher, aber es wäre taktisch mehr als unklug, seinem Zorn freien Lauf zu lassen. „Die bekommen noch ihre Heimsuchung, Liebes, jetzt erst einmal das Artefakt.“ Er hatte kaum ausgesprochen, da stürmte eine laut rufende Menschenmenge an ihnen vorbei: „Bringt sie an den Galgen! Das Lumpenpack soll hängen! Wofür zahlen wir denn Steuern, wenn wir diese Verbrecher noch durchfüttern müssen! Weg mit denen! An den nächsten Laternenpfahl! Knüpft auf das Gesindel!“ So waren die Rufe der Demonstranten, die für den Frieden und die Freiheit auf die Straße gingen. Es war die gewohnte Freitagsdemo vor dem Gebet. Die meisten trafen sich vor dem Hauptgebeteshaus in der 1. Straße.
Livia und Ulf drückten sich in einen Hauseingang.
[Fortsetzung folgt …]