Schutzengel (anders als erwartet)
Moin,kurz vor zwei, mich haben mal wieder meine Geister gequält. Die Qual gebe ich gerne an Euch weiter.
Vor dieser Geschichte stehen 150 Seiten und nach dieser werden nocheinmal ca. 150 Seiten kommen - so hoffe ich zumindest...
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„Haltet die Pferde!“
Die Stimme der jungen Frau neben dem Wagen war ruhig und das, obwohl in diesem Moment Flammen durch das Dach des Königspalastes brachen. Rothardt sprang vom Bock des vierrädrigen Wagens und lief nach vorne. Keinen Moment zu früh, denn er fasste gerade das Zaumzeug der Pferde mit beiden Händen, als mit einem gewaltigen Zischen eine weißblaue Feuersäule in den Himmel raste. Die Tiere verdrehten die Augen und er hängte sich mit seinem ganzen Körpergewicht in die Trensen. Die Feuersäule zerbarst in diesem Moment mit einem unglaublich lauten Knall und gleichzeitig explodierte der Königspalast. Die Wände des riesigen Gebäudes wurden in alle Himmelsrichtungen auseinandergeschleudert, als hätte eine gigantische Faust von oben auf den Palast geschlagen. Das Schreien der Festgäste, die auf dem Vorplatz das Inferno überlebt hatten und jetzt voller Panik das Weite suchten, erfüllte die Luft. Die Pferde verfielen in Panik und hätten Rothardt niedergewalzt, wenn sich jetzt nicht auch noch die junge Frau mit in das Zaumzeug gehangen hätte.
So schnell, wie sich das Unglaubliche ereignet hatte, so schnell trat auch wieder Ruhe ein. Wo eben noch ein hellerleuchteter Königspalast gestanden hatte, gab es jetzt nur noch Dunkelheit, durch die das Stöhnen der Sterbenden drang. Nur hier und da erleuchteten kleinere Brandherde die Umgebung. Die Pferde zitterten und waren schweißbedeckt. Rothardt ging es nicht viel besser. Einzig die junge Frau neben ihm und die ruhige Entschlossenheit, die sie ausstrahlte, verhinderten, dass er voller Panik und Angst das Weite suchte.
„Beruhigt Euch. Uns wird hier nichts geschehen.“ Noch immer strahlte die Stimme der Frau Ruhe aus. Er hätte ihr gerne geglaubt, aber jetzt schlugen auch Flammen aus dem großen Gildenhaus, das dem Königspalast am nächsten war und so wie der Wind stand, würden auch die dahinter liegenden Häuser ein Raub der Flammen werden. Rothardt sah, wie die Bewohner der umliegenden Häuser, die die Explosion überlebt hatten, in Panik davonrannten und keine Hand fand sich mehr, um die beginnende Feuersbrunst zu löschen. Er ließ das Zaumzeug der Pferde los, drehte sich zur Flucht – und schaute auf die nackte Klinge eines auf ihn gerichteten Schwertes.
„Ein Schritt in diese Richtung und der Wagen braucht einen neuen Kutscher!“
Die Stimme der jungen Frau war kalt wie Eis und die Festigkeit darin stand der Härte des Stahls in ihrer Hand nicht nach.
„Dann stich mich doch ab. Das ist besser als zu verbrennen, wenn wir hier bleiben!“ Er überlegte, wie er ihr die Waffe aus der Hand schlagen konnte. Die Frau machte nicht den Eindruck, als würde es ihr besonders viel ausmachen, ihre Drohung in die Tat umzusetzen und wahrscheinlich waren, trotz ihrer scheinbaren Ruhe, ihre Nerven genauso gespannt wie seine. Eine falsche Bewegung und sie würde ihn einfach niederstechen. Er war noch mitten in seiner Überlegung, als die Pferde erschrocken schnaubten und ein Schatten neben ihm auftauchte.
„Margarita, was soll das?“
„Unser Kutscher denkt gerade darüber nach, wie sehr er am Leben hängt.“
„Das kann er später tun. Margarita, kümmer dich um die Pferde. Rothardt, ihr kommt mit mir. Jetzt!“ Die Stimme Tenuamas ließ den Gedanken an Widerspruch gar nicht erst aufkommen. Ruhig, kalt und weit von oben herab klang sie. Rothardt folgte ihr wortlos wie in Trance. In den nächsten Minuten führte sie ihn mitten hinein in das Epizentrum der Explosion und umging dabei geschickt die immer noch neu aufflackernden Brandherde.
Als sie den Platz erreichten, an dem sich der Festsaal befunden hatte, sah Rothardt, dass hier kein normales Feuer gewütet hatte. Die Innenseiten der Mauerreste waren geschmolzen und mit einer Schicht aus Glas überzogen. Das Feuer musste eine Hitze jenseits aller Vorstellungskraft entwickelt haben. Trotzdem waren die Steine, die noch hätten glühen müssen, eiskalt. Er bekreuzigte sich. Hier hatten Kräfte gewirkt, wie sie nur der Teufel persönlich entfesseln konnten.
„Rothardt!“
Tenuama hatte gefunden, wonach sie gesucht hatte. Sie stand in der Mitte des Epizentrums der Explosion und direkt vor ihr lag eine menschliche Gestalt reglos auf dem Boden, genau an dem Platz, wo das Zentrum der Gluthölle gewesen sein musste. Rothardt lief über schwarzes Glas. Bevor er genau erkannte, wer oder was da lag, hatte Tenuama den Körper bereits mit einer Decke eingewickelt.
„Könnt Ihr ihn allein zum Wagen tragen?“
Statt einer Antwort trat Rothardt nahe heran und wuchtete sich ohne Zögern den schweren Körper auf die Schulter. Tenuama eilte voraus, um den besten Weg zu suchen und wenige Minuten später erreichten sie wieder den Wagen. Sie legten ihre Last auf der Ladefläche des kleinen Gefährts ab. Tenuama sprang auf den Kutschbock und Margarita suchte sich einen halbwegs bequemen Platz auf der Ladefläche.
Die Feuersbrunst hatte jetzt alle Häuser rund um den Königspalast erfasst. Rothardt suchte einen Weg, auf dem sie das Inferno verlassen konnten, ohne geröstet zu werden. Als seine Augen eine Lücke in den Flammenwänden sahen, zögerte er keine Sekunde. Ohne Rücksicht auf die beiden Frauen schwang er die lange Peitsche und ließ die Pferde sofort in Galopp fallen. Tenuama wurde über die Rückenlehne geschleudert und fand sich neben Margarita im Stroh auf der Ladefläche wieder. Er nahm keine Rücksicht darauf. Mit höchster Geschwindigkeit raste er auf die sich ihm bietenden Lücke zu, hoffend, sie zu erreichen, bevor das Feuer auch den letzten Weg aus dem flammenden Inferno um sie herum zuschlug. Er schaffte es und ließ die Pferde weiter durch die Straßen galoppieren, bis er in Sichtweite der Stadttore war. Erst hier nahm er die Geschwindigkeit zurück, denn vor ihm wälzte sich ein Strom von Flüchtlingen die Straße entlang. Sie hatten ihre Häuser aufgegeben und suchten jetzt die Sicherheit des offenen Landes vor der Stadt.
Es war sogar das gleiche Tor, durch das sie die Stadt wieder verließen und um diese Zeit, Stunden vor Tagesanbruch, hätte es noch geschlossen sein müssen. Aber die Ereignisse im Palast des Königs hatten dafür gesorgt, dass alle vier Stadttore weit offen und von Wachen verwaist waren, denn in Aars herrschte die nackte Panik.
Alle Bewohner waren nur dabei, ihre Haut und ihr Hab und Gut zu retten, denn das Feuer, das den königlichen Palast vernichtet hatte, machte auch vor den Häusern in der Stadt nicht halt. Eines nach dem anderen gingen die umliegenden Bauten in Flammen auf, bis keine Macht der Welt mehr in der Lage war, die Stadt zu retten. Nur noch Schutt und Asche würde dann übrig sein vom Stolz des Reiches der Areoden.
Als sie das Tor endlich passiert hatten, blickte Rothardtt sich noch einmal um. Aus der in ihrem Todeskampf liegenden Metropole des Königreiches der Aroden schossen riesige Flammen wie Sonnenprotuberanzen in den nächtlichen Himmel und erleuchteten ihnen den Weg. Es war der gleiche, auf dem Bardo vor ein paar Stunden in die Stadt gekommen war, nur fuhren sie diesmal in die entgegengesetzte Richtung. Rothardt jagte das hölzerne Gefährt in halsbrecherischem Tempo über die steinige Straße und trieb die zwei ausgesucht schnellen und ausdauernden Pferde zu ihrer größtmöglichen Geschwindigkeit an. Er wusste, dass die Tiere das Tempo lange Zeit halten konnten. Er nahm dabei keine Rücksicht auf die aus der zum Untergang verdammten Stadt flüchtenden Menschen, die in der gleichen Richtung unterwegs waren. So begleiteten den Wagen nicht nur das ständige Rumpeln der über die Steine springenden Räder und das Stakkato der Pferdehufe, sondern auch die Flüche der gerade noch rechtzeitig zur Seite springenden Flüchtlinge.
Er fürchtete keine Verfolgung aus der Stadt, dazu war dort im Moment niemand in der Lage. Trotzdem hatten sie es sehr eilig, denn die mit Decken verhüllte Last, die sie auf der kleinen Ladefläche des offenen Wagens transportierten, musste so schnell wie möglich in das Kloster in den Bergen gebracht werden. Zumindest hatte ihm das die Frau neben ihm auf dem Kutschbock, die von dem Mädchen auf der Ladefläche mit „Komtess“ angesprochen worden war, befohlen. Mehrere Lagen Stroh und Decken sorgten dafür, dass möglichst wenige Erschütterungen bis ins Innere des Paketes vordringen konnten.
Rothardt machte sich seine Gedanken über die Last, die sie hier in höchster Eile in die Berge transportierten und über die seltsamen Umstände, unter der sie das Paket geborgen hatten. Vor zwei Tagen war die junge Frau, die jetzt links neben ihm auf dem schmalen und harten Brett saß, in seiner Lieblingsspelunke aufgetaucht und hatte ihn angesprochen.
Es war in der Stadt bekannt, dass er noch nie eine Karawane den Räubern ausgeliefert hatte und jeden Weg und Steg in den Bergen kannte. Entsprechend hoch waren auch seine Preise und als sie ihm ihr Vorhaben erklärte, verdoppelte er seine Forderung sogar noch, doch sie hatte ohne mit der Wimper zu zucken, die volle Summe im Voraus bezahlt. Er hatte sich ein wenig gewundert, dass sie kein bisschen um den Preis feilschen wollte. Er hatte schon für schwierigere Aufträge weniger Geld bekommen. Jetzt zeigte er seiner Auftraggeberin, dass er diesen Preis wert war und sie und ihr seltsames Paket hinter ihm auf dem Stroh in Rekordzeit zum Bergkloster der seltsamen Mönche, die dort lebten, bringen würde.
Er warf verstohlen einen Blick nach links und versuchte etwas von ihrem Gesicht zu erkennen, aber es war unter einem schwarzen, seidenen Tuch verborgen, genau wie der Rest des Kopfes. Er hatte kurz ihre grünen Augen sehen können, als sie ihn angeheuert hatte und irgendetwas darin verbot ihm, überflüssige Fragen zu stellen.
Jetzt saß sie hier auf dem Kutschbock neben ihm und fing geschickt rechtzeitig jedes Schlagloch und jeden Sprung eines Rades über einen Stein ab. Von Zeit zu Zeit warf sie einen Blick über die Schulter nach der seltsamen Last auf der Ladefläche und der Frau, die daneben saß und mühsam versuchte, die schlimmsten Stöße davon fern zu halten, nur um gleich wieder angestrengt nach vorne zu schauen, als könne sie dadurch den Weg in die Berge verkürzen. Er hielt die beiden Pferde bei ihrer hohen Geschwindigkeit und so jagten sie den langsam näherkommenden Bergen entgegen. Bei dem Tempo würden sie bei Sonnenaufgang bereits die ersten Ausläufer des Bergmassivs erreichen und konnten hoffen, bis zum Abend das Kloster erreicht zu haben. Was sie dort wohl wollte?
Die Mönche waren nicht dafür bekannt, große Heilkünstler zu sein. Eher schlugen sie Wunden als dass sie sie heilten. Man sagte, dass sie sehr geschickt im Umgang mit allen möglichen Waffen sein sollten, doch er kannte keinen, der das selbst gesehen hatte. Sie verließen ihre auf einem unzugänglichen Berggrat gebaute Festung nie und ließen sich alles, was sie zum Leben brauchten, durch die Bergbewohner bringen. Womit sie wohl bezahlten? Es gab vieles, was er gerne gewusst hätte, aber er wagte nicht, seine Begleiterin danach zu fragen. Er hatte noch zu gut ihren abweisenden Blick beim ersten Treffen in Erinnerung.
Genauso verbot er sich Fragen nach der eingehüllten Last, die sie transportierten. Der Größe und dem Gewicht nach zu urteilen konnte es gut ein Mensch sein, der dort hinten auf der Ladefläche lag, aber wozu sollten sie eine Leiche so dringend zu den Mönchen bringen? Auf keinen Fall konnte es ein noch lebender Mensch sein.
Rothardt nahm die Geschwindigkeit des Wagens zurück und ließ die Pferde erst in einen lockeren Trab und danach in Schritt fallen. Sie näherten sich einer Wegegabel.
„Lenkt den Wagen nach rechts, direkt ins Gebirge!“
Rothardt zog die Zügel an und brachte den Wagen zum Stehen.
„Was soll das? Wir haben keine Zeit zum Halten!“
Die Stimme der Komtess klang böse.
„Ihr habt mir Euer Geld gezahlt, damit ich Euch schnell und sicher an Euer Ziel bringe. Wenn wir den rechten Weg nehmen, müsse wir die Adlertränke passieren und das in der Dunkelheit. Hier hat es allein in den letzten zwei Monaten fünf Überfälle gegeben!“
Rothardt sprach ruhig und sachlich, obwohl es ihn sehr ärgerte, dass die Frau ihm so einfach befehlen wollte. Er wusste mehr als genug über die räuberischen Bewohner der Berge und hatte schon so manchen Strauß mit ihnen ausgefochten. Sie würden ihnen direkt in die Arme laufen, wenn sie diesen Weg nahmen.
„Habt Ihr Angst?“ Die Stimme Tenuamas klang jetzt spöttisch.
„Nein, aber ich liebe mein Leben und außerdem habt ihr mich verpflichtet, Euch nicht nur schnell, sondern auch sicher zu den Mönchen zu bringen. Wenn uns Erodan mit seinen Leuten in der Dunkelheit und in der Bewegung vom Wagen schießt, kann ich den Auftrag wohl kaum erfüllen!“
„Lasst das meine Sorge sein. Ich habe Euch bezahlt und das heißt auch, dass ich bestimme, welchen Weg wir fahren!“
„Ach ja? Könnt Ihr im Dunkel abgeschossene Pfeile aufhalten? Könnt Ihr fünf Männer im Schwertkampf besiegen? Erodan hat mindestens zehn Leute und die wissen, wie sie mit ihren Waffen umzugehen haben. Wisst Ihr das… ah…“
Rothardt hatte sich in Wut geredet und obwohl er die Komtess dabei anschaute, hatte er nicht einmal gesehen, wie sie den langen Dolch zog und ihm an die Kehle setzte!
Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und ihre Stimme war kalt und gefährlich leise.
„Wir kürzen das jetzt ab. Was ich kann oder nicht kann, werdet Ihr vielleicht noch sehen und Pfeile abzuwehren, ist eine vergleichsweise leichte Übung. Was da hinter uns auf dem Wagen liegt, muss so schnell es geht, in die Festung Tinar. Davon hängt das Schicksal vielleicht dieser ganzen Welt ab, mindestens aber Euer und unser. Zwingt mich nicht, selbst die Zügel zu nehmen!“
Rothardt zuckte zurück. Es waren nicht die Worte, die ihn erschrecken ließen, sondern das Zischen in der Stimme und als er die Komtess ansah, war ihm, als würde er einer Schlange in die Augen blicken.
Tenuama ließ den Dolch verschwinden und er nahm wieder die Zügel in die Hand.
„Ihr braucht nicht so schnell fahren. Wir sparen einen halben Tag mit diesem Weg.“
„Oder verlieren unser Leben. Wenn Ihr selbst den Weg so gut kennt, wozu braucht Ihr mich dann noch?“
„Eigentlich eine gute Frage. Lasst mich lieber nicht darüber nachdenken.“
Er konzentrierte sich auf den Wagen und die Pferde, aber der Zorn kochte in ihm. Er hatte nicht das erste Mal Umgang mit hochgestellten Damen. Bisher hatten alle außer Geld und einer manchmal schönen Larve nichts zu bieten gehabt, doch diese Komtess war aus einem anderen Holz geschnitzt. Rothardt spürte, dass ihre Worte nicht nur so dahingesagt waren. Diese Frau umgab ein gefährliches Geheimnis und er wollte nicht wirklich wissen, welches das war.
Es dauerte nur kurze Zeit, bis sie das hügelige Land verließen und die ersten Felsen, die den Weg in die Berge markierten, im Licht des vollen Mondes sahen. Unmittelbar dahinter entsprang die Adlerquelle. Von da bis zu ihrem Ziel, der Bergfestung Tinar, war es dann noch eine gute Tagesreise.
Die Pferde wurden unruhig und Rothardt wollte gerade Tenuama darauf aufmerksam machen, dass das Wasser nicht mehr weit sei, als sie ihm urplötzlich die Zügel aus der Hand riss und das Gefährt mit aller Kraft fast augenblicklich zum Stehen brachte.
„Was…“
Die Komtess drückte ihm die Hand auf den Mund und dann hörte Rothardt es. Erst leise, dann langsam anschwellend mit einem Finale im allertiefsten Bass ertönte aus der Richtung ihres Ziels das Brüllen eines Tieres. Die stehenden Pferde schnaubten entsetzt und auch Rothardt lief eine Gänsehaut den Rücken herunter. Er kannte die Geräusche in der Ebene und auch in den Bergen. Das größte und gefährlichste Raubtier hier war der Bär, aber selbst dieser Gigant konnte nicht solche Töne hervorbringen.
Rothardt, Tenuama und auch Margarita hinten auf der Ladefläche saßen wie erstarrt und auch die Natur hielt den Atem an. Die Geräusche der Nacht waren verstummt, als warteten sie auf etwas, doch es gab keine Fortsetzung. Tenuama war die erste, die den Bann brach.
„Bleibt auf dem Wagen, haltet die Pferde ruhig und wartet, bis ich zurück bin!“
„Was war das?“ Er hatte Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.
„Das kann ich Euch nicht sagen, ihr würdet es nicht verstehen. Uns sollte aber keine Gefahr drohen.“
„Woher wollt Ihr das wissen? Wenn ich mir die Lungen und den Rachen vorstelle, die ein solches Gebrüll erzeugen können…“
„Ich kenne das Wesen und wenn es gewollt hätte, wären wir schon tot gewesen, als wir durch die Hügel fuhren.“
Tenuama beendete die Diskussion auf ihre Art, indem sie einfach vom Bock sprang. Katzengleich und lautlos verschwand sie zwischen den Hügeln.
Rothardt wendete sich zu Margarita um. „Ihr sagt die ganze Zeit gar nichts. Habt Ihr keine Angst? Und warum hat sie „Wesen“ gesagt und nicht „Tier“?“. Margarita hatte ein leichtes, fast spöttisches Lächeln um die Mundwinkel.
„Ich habe mehr Angst vor Eurem Ungestüm und vor Eurer Panik als vor einem unbekannten Tier, sei es auch noch so laut. Und bevor Ihr fragt – ich kenne das Tier nicht. Aber wenn die Komtess sagt, dass Ihr Euch keine Sorgen machen müsst, dann ist es auch so.“
„Wie lange kennt Ihr diese seltsame Frau schon?“
Statt einer Antwort schaute Margarita ihn nur weiter mit diesem seltsamen Lächeln an, bis der Kutscher sich wortlos umdrehte und wieder nach vorne schaute.
Es dauerte keine zehn Minuten und Tenuama tauchte aus der Dunkelheit zwischen den Hügeln auf.
„Rothardt, Ihr könnt mir jetzt folgen, es ist nicht mehr weit. Nehmt die Pferde am besten am Zaumzeug, damit sie nicht noch unruhiger werden.“
Er tat, wie sie ihn angewiesen hatte. Die Tiere hatten sich einigermaßen beruhigt, doch als er mit der Hand über ihre Nüstern fuhr, fühlte er den Schweiß auf ihrer Haut. Auch sie hatten Angst. Der Weg war wirklich kurz und nach nur wenigen hundert Schritte gaben die Hügel den Blick frei auf die Adlerquelle. In dem winzigen Tal zwischen den hohen Wänden hatte das aus dem Fels sprudelnde Wasser einen kleinen Teich gebildet, bevor es wieder irgendwo strudelnd und munter plätschernd zwischen Steinwänden verschwand. Das Mondlicht spiegelte sich darin und verlieh dem ganzen Kessel einen unwirklichen, silbernen Glanz.
Die Pferde schnaubten erschrocken und auch Rothardt nahm jetzt einen Geruch wahr, den er nur zu gut kannte – Blut. Abrupt blieb er stehen. Tenuama drehte sich um.
„Ich sagte doch, Ihr müsst keine Angst haben. Vielleicht sollte ich sagen – nicht mehr. Es ist alles vorbei.“
„Was ist vorbei?“
Tenuama antwortete nicht, sondern winkte ihm nur, ihr zu folgen und dann sah auch Rothardt, was sie meinte. Männer lagen nahe der Quelle in grotesken Haltungen auf dem felsigen Boden. Tote Männer. Je näher er kam, um so mehr sah er, aber er verstand nicht. Er wusste, dass es Erodan und seine Männer waren. Wahrscheinlich hatten sie hier auf einen Späher gewartet, der ihnen eine nahende Beute ankündigte. Statt des Boten war etwas anderes erschienen und hatte sie getötet. Rothardt musste sich zwingen, näher heranzugehen. Was er jetzt sah, jagte ihm wieder einen Schauer über den Rücken. Etwas hatte diese zehn Männer mit einer Schnelligkeit und Grausamkeit getötet, die unvorstellbar war. Er sah abgerissene Gliedmaßen und durchbissener Kehlen. Einem Krieger war trotz seines Kettenhemdes von einem Prankenhieb der Brustkorb aufgerissen worden, sodass Rothardt das freiliegende Herz sehen konnte. Das alles musste mit einer unglaublichen Geschwindigkeit passiert sein, denn nur drei Krieger hatten es geschafft, noch ihr Schwert zu ziehen, doch an ihren Klingen klebte kein Blut.
Er hatte Mühe, die Worte zu formulieren. „Was ist hier passiert?“
Tenuama nahm ihm wortlos das Zaumzeug und damit die Pferde aus der Hand und führte sie zur Tränke.
Rothardtt war am Ende dessen, was er ertragen konnte.
Wütend zog er seine Waffe und versperrte der Komtess den Weg. Nackte Panik in der Stimme, schrie er sie an.
„Redet endlich mit mir!“ Statt einer Antwort hob sie nur einen Finger an die Lippen, ihm Schweigen gebietend, doch es war zu spät. Das machtvolle Brüllen ertönte wieder, diesmal aus nächster Nähe. Die Felswände warfen den Klang zurück und so schien es von allen Seiten zugleich zu kommen. Rothardt kapitulierte vor der gewaltigen Kraft in dieser Stimme und ließ die Waffe sinken. Nur noch Angst war in ihm und als er dem angespannten Blick Tenuamas nach oben folgte, wurde daraus namenloses Grauen.
Vielleicht dreißig Meter über ihnen, auf der Spitze eines Felsens verdeckte ein riesiger dunkler Schatten das Mondlicht. Er bewegte sich ein wenig zur Seite, und das Mondlicht beleuchtete einen schwarzen Körper auf vier Pfoten. Das Wesen hob den Kopf zum Licht und aus einem mit gewaltigen Reißzähnen gespickten Maul ertönte noch einmal dieser Urlaut unbändiger Kraft und Stärke. Im nächsten Moment war es verschwunden und der Mond schien in das Tal, als wäre es nur ein Spuck gewesen.
Die Komtess Tenuama war die erste, die sprach.
„Es sieht so aus, als hätte hier jemand einen Schutzengel.“
Dabei blickte sie zur Ladefläche des Wagens, auf der sich jetzt nur noch der oder das befand, was sie aus den Ruinen des zerstörten Königspalastes gerettet hatten…