Spiegelungen
Ich schaue aufs Wasser. Der Wind erschafft mich neu. Verborgene Facetten blitzen auf – funkelnde Wahrheit für einen Augenblick. Schon ein zartes Lüftchen lässt mein schwaches Widerbild vibrieren. Farben brechen sich in sanften Wellen. Hier, wo mein Antlitz mich erfreut, bleibt die Tiefe im Verborgenen. Reflektionen bereiten eine Bühne für die narzisstische Ader meiner Seele. Wie der Wind, so auch mein Finger. Jede Berührung mit dem Wasser zeigt mich anders – wabernd, vergänglich, geisterhaft. Nun trete ich hinein, durch mein Spiegelbild hindurch, und sinke auf einen Grund aus Schlamm und Unkenntnis. Weich fühlt es sich an. Und undurchdringlich ungewiss. Stillstand bedeutet ein langsames Einsinken. Was mag sich unter diesem Grund verbergen? Leichtes Unbehagen.
Ich gehe weiter, treibe sanfte Wellen vor mir her. Mein zweites Ich opfert sich dem Fortschritt. Ich treibe es vor mir her, bis es in den Wellen davon weht. Nur mein Kopf schaut noch über die Linie hinaus ins Licht. Unter mir Wasser und der trübe unzugängliche Untergrund. Und dazwischen? Seejungfrauen? Fische? Pflanzen? Unrat? Nur die Berührung gibt Gewissheit.
Jetzt stoße ich mich ab, treibe auf der Oberfläche im kühlen Nass. Ich bin mit meinem Spiegel vereint, kann mich nicht mehr sehen. Doch ich fühle mich – das mehr in mir. Ich tauche unter, betrachte den Schlamm. Verzerrte Klarheit. Kräftige Farben im gebrochenen Licht.
Verloren in mir, aber glücklich, bewege ich mich so, wie es nur an diesem Ort möglich ist – schwebend und frei. Erst die Ermüdung zwingt mich an Land zurück.
Am Ufer gespiegelte Seelen. Ölig glänzend ruhen sie wie tote Leiber, von der Sonne erstarrt. Die Körper dienen nur noch der Präsentation von Dynamik und Fruchtbarkeit. Ich bin zu mir zurückgekehrt. Aufrecht sitzend, sendet mir das Wasser ein Klitzern ins Gesicht. Tanzende Flecken aus Licht streicheln meine Haut. Doch es kann nicht in mich, das gespiegelte Ich. Es tropft an mir ab und verdunstet im Sog der Sonne. Mein Leben jenseits der verspielt, kühlenden Wellen ist kategorisiert im Organisationsprozess der Reproduktion von Materie.
Manchmal aber streckt sich ein aufkeimendes Lächeln dem Wasser entgegen. Wenn Du nicht zu mir kommen kannst,
so komme Ich zu Dir.
© yang 4/2011