Gefahr gebannt
Es war einer der ersten lauen Frühlingsabende nach der Zeitumstellung, ein so angenehmes Gefühl, dass die Abende wieder länger wurden. Endlich konnte man mal wieder auf einer Caféterasse sitzen, ohne sich in Decken einwickeln zu müssen, die letzten Sonnenstrahlen hinter den Dächern verschwinden sehen, während man an seinem Wein nippt und ganz in Ruhe die lächelnden Gesichter der Leute beobachten, die den Feierabend für Verabredungen nutzten. Letztes Jahr noch hatte ich genau hier Frauen kennenlernen wollen, naja, sagen wir ruhig aufreissen, für eine Nacht oder ne schnelle Nummer. Doch heute war ich mit ihr hier.
Lisa hatte sich überreden lassen, nach Wochen, in denen ich auf alle mir bekannten Arten versucht hatte, sie zu mehr als nur einem Drink einzuladen. Danach könnte man weiter sehen.
Endlich hatte sie zugestimmt, mit mir Essen zu gehen, unser zweites Treffen. Auch wenn sie nur ein paar Stunden Zeit hätte, wie sie ausdrücklich wiederholte, als ich sie abholte.
In ihre Wohnung hatte sie mich nicht hochgelassen, sondern über die Sprechanlage: „Ich komme runter“ gerufen, so dass ich mich seufzend an ihre Tür lehnte und wartete. Obwohl ich mit Absicht ne Viertelstunde zu früh dran war. Der Trick hatte schon öfter funktioniert. Entweder kam es bereits in der Wohnung zu Handgreiflichkeiten und konnte ich mir das Essen sparen, oder ich hatte durch einen Blick in die Wohnung zumindest ein wenig mehr Einblick darin, mit was für einer Dame ich es zu tun hatte. Lisa jedoch stand 3 Minuten später vor mir, nett anzusehen, diesmal sogar mit geschminkten Lippen.
War sie es wert, dass ich mir so viel Mühe machte? Wir hatten uns im Netz kennengelernt, wo ich des Öfteren nette Dates ohne Verpflichtungen gefunden hatte. Sie wollte erst mal schreiben.
Ich hatte meine Anstrengungen verdoppelt, als ich sie bei den Chatunterhaltungen näher kennenlernte und wir anfingen, miteinander zu telefonieren. Eine völlig neue Taktik für mich, eine Frau nur mit Worten zu becirzen, aber es machte erstaunlich viel Spaß.
Wir hatten zum Glück bei Büchern, Filmen und Musik einen ziemlich ähnlichen Geschmack und fanden immer ein Thema, bisher hatte ich aber noch keins gefunden, mit dem ich sie richtig hätte beeindrucken können – sie war in diesen und anderen Bereichen bisher immer mein Match gewesen. Noch nie hatte ich so wie mit ihr mehrere Stunden am Telefon gesessen, immer wieder erstaunt, wie viel Zeit vergangen war, wenn ich endlich ins Bett fiel. Ins kalte, einsame Bett wohlgemerkt, denn Zeit für Flirts und Ausgehen mit dem Ziel vor Augen, eine Frau ins Bett zu kriegen, hatte ich nicht mehr.
Doch ich wollte nicht aufgeben, als sie sich als widerspenstig herausstellte, was Treffen und anzüglichere Themen betraf, dazu war sie bereits zu interessant geworden. Irgendeinen Dreh würde ich schon finden, um sie rumzukriegen, ihre Unnahbarkeit sich in Lust verwandeln zu sehen. Und nachdem ich sie das erste Mal gesehen hatte, stand mir mein aktuelles Ziel deutlich vor Augen.
Ich wollte diese Frau, und wenn es noch mal Wochen dauern würde.
Sie entsprach den Fotos, die sie mir geschickt hatte, aber sie reden zu hören und zu sehen, ihr schüchternes Lächeln und diese besonders hübschen Augen zu beobachten und ihre Bewegungen und Gestik zu bestaunen, hatte mich mehr angemacht, als ich erwartet hätte. Sie sah hübsch aus, aber nicht wahnsinnig sexy. Sie war keine durchschnittliche Frau, sehr individuell und cool gekleidet, nicht auf Effekthascherei aus, interessant. Nicht wirklich auf den ersten Blick schön, aber attraktiv, mit ihren langen Haaren und schlanken Beinen.
Unser erstes Date war kurz gewesen, aber wirkte nachhaltig. Ich war enttäuscht, dass sie wirklich nur einen Kaffee trank und sich verabschiedete, als es für mich anfing interessant zu werden, und rief sie am gleichen Abend wieder an. Es war mir egal, ob sie mich für hartnäckig oder nervend hielt. Ich glaubte zu wissen, dass auch ich ihr gefiel und ich hatte es geschafft, sie zum Lachen zu bringen. So ein süßes, ehrliches Lachen, das wollte ich wieder hören.
Jetzt hatten wir also zu Abend gegessen und tranken gemütlich ein Glas guten Wein in der Abendsonne. Ich sah zu ihr rüber, wie sie mit ihrer Sonnenbrille das Gesicht zu den letzten, wärmenden Strahlen erhob, die Augen wahrscheinlich entspannt geschlossen.
Mich überkam die Lust, ihren Hals zu küssen und an ihren sich am Ohr kräuselnden Haaren zu schnüffeln. Eigentlich hätte ich mir in Ruhe ihre ausgestreckten Beine unter dem Minirock ansehen und ihre sich unter der Bluse abzeichnenden Brüste begutachten können, aber irgendwie war dieser Hals interessanter.
„Magst du noch ein Glas?“, fragte ich sie, als ich mir aus der Karaffe nachschenkte.
Lisa drehte den Kopf zu mir und setzte sich gerade auf, als hätte ich sie in ihrer Meditation gestört. Seltsam, wie entspannt wir hier zusammen sitzen konnten, statt das Gespräch endlich in die Bahnen zu leiten, die ich mir vorgestellt hatte. Normalerweise würde ich zu diesem Zeitpunkt neckische Komplimente machen, eine Prise Bonmots einsetzen und versuchen sie anzufassen. Sie verunsicherte mich mit ihrer Coolness. Aber es war angenehm, einfach zu schweigen, den Wein zu geniessen und die einsetzende, leichte Kühle zu spüren nach dem warmen Tag.
„Gerne. Der ist wirklich gut.“. Sie trank und beugte sich mit den Ellbogen auf den Tisch gestützt zu mir. „Also, diese Ausstellung. Hast du Lust, nächste Woche mit mir dahin zu gehen?“
Ich nickte. „Ja, versprochen, bin schon gespannt drauf. Aber das heißt doch hoffentlich nicht, dass du mich wieder ne ganze Woche warten lassen willst, bis wir uns wiedersehen? Ich würde dich gern zu mir einladen, um dir das Buch zu zeigen, über das wir geredet haben.“
Lisa grinste, ein etwas schiefes Lächeln, bei dem sich Grübchen in ihren Wangen abzeichneten. Die Sonnenbrille hatte sie hoch in ihre Haare geschoben und jetzt nahm sie mit langen Fingern ohne jeglichen Schmuck eine Zigarette aus dem Päckchen vor ihr. Wie gebannt sah ich zu, wie sie den ersten Zug nahm, als ich ihr Feuer gab. Ihr Mund war schon ziemlich sexy, wieso hatte ich das nicht eher gemerkt?
Vorhin beim Essen hatte es mich fasziniert, wie vorsichtig sie ihre Scampi geschlürft hatte und war fast erregt vom Anblick ihrer Lippen geworden, wie genießerisch sie sie ableckte. Verdammt, so langsam müsste ich jetzt aber mal handeln, vielleicht könnte ich es ja schaffen, sie nach Hause zu begleiten und diesmal hoch gebeten zu werden.
„Hast du auch eine Briefmarkensammlung?“, fragte sie mit schräg nach oben gezogenen Brauen.
„Warum bist du nur so misstrauisch? Ich weiß, dass du das Buch leihen möchtest, du hast doch gesagt, es ist nirgendwo mehr zu bekommen. Dass du dazu zu mir kommen musst, heisst doch nicht, dass du dich in die Höhle des Löwen begibst. Ich bin sicher kein gefährliches Raubtier, das über dich herfallen will. So gut müsstest du mich doch inzwischen kennen.“, meinte ich zurückgrinsend.
Nein, ich würde nicht über sie herfallen – nicht ohne ihr Einverständnis jedenfalls. Ich wollte es, zum Teufel, ich wollte sie und ich wusste, sie wollte mich. Ich wusste es sicher in dem Moment, als sie mich ansah, tief und dunkel und geheimnisvoll mit ihren fast schwarzen, großen Augen und diesen einen Satz zu mir sagte, mit ihrer rauchigen, süßen Stimme. In diesem Augenblick wollte ich sie nur noch küssen, sie nehmen, mit ihr eins werden…
„Du bist gefährlich.“
Hatte sie wirklich keine Ahnung, was das mit einem Mann tat? Dieser Einblick in weibliche Verletzbarkeit, das Eingeständnis, dass ich die Macht besaß, sie zu erobern, dass sie mir mehr zutraute, als ich mir erhoffte, und dass sie mir genug vertraute, es sich auch zu wünschen. Ich hatte mich nie zuvor so männlich und begehrt gefühlt.
Ich liebte Frauen. Alle. Als Konzept, als Individuen, und ihre Körper.
Ich verliebte mich ständig in verkorkste kleine Mädchen, die mir nach Aufmerksamkeit heischend ihre hübschen kleinen Lächeln und ihre hübschen kleinen Brüste schenkten. Ich verehrte die schwergebauten Ladies mit ihren kissenartigen Oberschenkeln und der weichen Haut, die einen Mann sich wie Zuhause angekommen fühlen ließen.
Ich stand auch auf die mental komplizierten, instabilen Hexen mit ihren gefärbten Haaren, die einen in psychologische Stürme verstrickten und wie Tiere fickten. Ich vergötterte die auf den ersten Blick langweiligen jungen Frauen, die Schach als Vorspiel betrieben und skandalöse Dessous unter ihrer unmodischen Kleidung trugen.
Ich betete auch zeitweilig mal eine Esoterikjüngerin an, die mir Tantra beibringen und mich nur allzu gern missionieren wollte, wobei es bei ihr am einfachsten war, die Sache unter Berücksichtigung der ungünstigen Sternenkonstellation freundschaftlich zu beenden.
Ich liebte es, zu entdecken, was sie antrieb, wie man sie dazu bringen konnte, ihre Verstellung aufzugeben und nur noch zu fühlen. Die äußeren und inneren Hüllen fallen zu lassen. Es gab keinen größeren Egotrip, als den richtigen Schalter zu finden, der eine echte, pure und körperliche Reaktion auslöste.
Ob es ein Lied war, zu dem sie die Augen schloss oder ein Kompliment, für das sie sich mit einem ehrlichen Lächeln bedankte, die richtige Berührung der sensibelsten Nervenenden, die sie dazu brachte, sich fallen zu lassen. Die andere Hälfte der Menschheit war für mich ein faszinierendes Rätsel, das ich lösen wollte, ein Puzzle aus einem Stückchen zartem Fleisch nach dem anderen.
Doch nun war das größte Mysterium die Frau mir gegenüber.
Lisa zog mich in ihren Bann, ihr gehörte die Kontrolle über jeden einzelnen meiner Gedanken, sie wurde langsam aber sicher der Grund, weshalb ich überhaupt noch etwas tat, weshalb ich alles andere vernachlässigte, das mir vorher so wichtig war. Es gab nur noch ein `Bevor ich Lisa traf`und ein `Seitdem`, von dem ich zu gerne wissen wollte, wie es weiter ging.
Sie war es, die gefährlich war.
Ich hatte immer noch nicht geantwortet, schwenkte nachdenklich mein Weinglas in der Hand und räusperte mich, bevor ich ihr wieder ins Gesicht sehen konnte. Ein erwartungsvolles, ängstliches Gesicht, oder täuschte ich mich. Sie hing an meinen Lippen, als ich jetzt erst mal in Ruhe einen Schluck nahm und überlegte, was ich sagen würde.
„Lisa, ich würde dir niemals weh tun.“
Sie sah mich genauer an, als ich mich beim Rasieren im Spiegel betrachtete, versuchte, den Wahrheitsgehalt meiner Worte an meinem Ausdruck zu prüfen und scheinbar bestand ich den Test, denn sie trank, plötzlich entschlossen wirkend, ihr Weinglas leer, winkte dem Kellner, bat um die Rechnung, nahm ihre Tasche auf die Knie und sagte leise:
„Sollen wir dann mal gehen? Willst du mich nach Hause bringen?“
Wir standen auf, ich gab dem Kellner ein großzügiges Trinkgeld und legte Lisa sanft eine Hand auf die Hüfte, als ich sie vor mir her zwischen die Stühle von der Terasse führte. Auf dem Gesteig lächelte ich sie an, innerlich grinste ich wie ein kleiner Junge, der unbemerkt Kekse stiebitzt hatte und fühlte mich aufgeregter, als ich zugegeben hätte.
Nach ein paar Metern merkte ich, wie unbeholfen ich mit den Armen schlenkerte, als ich neben ihr her lief, unsicher, ob ich sie in den Arm nehmen oder vielleicht ihre Hand nehmen könnte, sollte, dürfte, das war so ungewohnt. Doch bevor ich mich zu einer Möglichkeit durchringen konnte, blieb sie stehen, drehte sich zu mir, legte mir eine Hand auf die Brust und sah mich lächelnd an.
„Warte.“, sagte sie bestimmt, hob sich leicht auf die Zehenspitzen und gab mir einen Kuss. Ich war so erstaunt, dass ich nur kurz die Lippen spitzen konnte und mich nach vorn zu ihr runter beugte, so dass ich fast das Gleichgewicht verlor, als sie lächelnd wieder einen Schritt zurück trat.
„Das wollte ich schon den ganzen Abend.“, hörte ich sie leise sagen, mit einem unpassend verschämten Blick.
Die Sonne war inzwischen nicht mehr zu sehen und im Dämmerlicht blitzte das Weiß ihrer Augen zu mir hoch. Ich war mir ziemlich sicher, ich würde noch heute völlig aus meiner gewohnten Balance geraten, vielleicht für immer.