Kurs 008.15
Kurs 008.15, kreatives Schreiben II, findet anders als angekündigt, nicht in der Schülerbücherei, sondern, im 6. Stock in Raum 66 statt.“
Maria klebte den DIN-A3-Zettel gut sichtbar an die Glastür der Ringelnatz-Oberschule und machte sich auf den Weg nach oben. Wie es aussah, würde der Kurs dieses Mal ohne Probleme stattfinden. Die Teilnehmer ihres Basiskurses waren alle so begeistert gewesen, obwohl sie erbittert mit ihnen um Grammatik und Rechtschreibung gerungen hatte. Aber am Ende hatten sie alle ihre erste Kurzgeschichte fertig gehabt. Sie würden also wohl alle wieder mitmachen. Und vielleicht kämen ja sogar noch ein paar Neue dazu. Sie grinste, als sie an ihre Diskussion mit Manfred Huber, dem ältlichen Leiter der Volkshochschule dachte, dem das Kursthema „erotische Literatur“ zu heikel war. Zum Glück hatte sie im klar machen können, dass damit neue Kundschaft vorprogrammiert war. „Falls nicht, war das ihr letzter Kurs“, hatte er gedroht. Und sie hatte pflichtschuldig genickt. Der Typ vergaß, dass seine Rente kurz vor der Tür stand. Und den Nachfolger würde sie sicherlich auch um den Finger wickeln können.
Pünktlich um 18.00 Uhr betrat sie den Raum und riss erst einmal ungestüm die Fenster auf. Dieser Geruch nach Kreide und Putzmitteln war wirklich nicht Fantasie fördernd. Aber sie hoffte, dass ihr neues Kleid, Marke „enger geht es nicht“, das kompensieren würde.
Nach und nach trudelten elf Gestalten ein. Uff, das waren drei mehr als im letzten Semester. Wie im Programmheft angekündigt, hatten sie sich mit Schreibblock und Stift, wahlweise Laptop, und einem Duden „neue Rechtschreibung“ ausgestattet. Es konnte also los gehen. Routiniert lächelnd wickelte sie die Formalitäten ab. Von den acht Teilnehmern des letzten Kurses waren tatsächlich sieben erneut erschienen. Lediglich Elise Schmidt hatte sich nicht erneut angemeldet. Was definitiv kein Verlust war.
„So“, sagte sie schließlich. „Dann können wir ja loslegen. Heute werden wir uns zunächst ein wenig mit dem literaturgeschichtlichen Hintergrund der erotischen Literatur auseinander setzen. Was fällt ihnen denn zu dem Thema spontan ein?“ Sie zog die Schultern nach hinten und lächelte aufmunternd.
„Ca... Ca... Casanova“, stotterte Hubert hervor. Er grinste verlegen und bekam feuerrote Ohren, wie immer, wenn er etwas sagte.
„Sehr gut!“, lobte sie ihn. „Und was fällt ihnen da konkret ein?“
„Nanana... der w... w... war ein toller Lieb... b... b... Liebhaber. U... und ha... hatte viele F... Frauen!“, brachte er hervor.
„Das stimmt“, sagte sie. „Seine Memoiren sind weltberühmt. Wussten Sie, dass sein Erfolg auf einem simplen Trick beruhte? Er nahm täglich ein Bad und stank deshalb nicht so wie der Rest der Welt. Und er nahm die Damen gerne mit in die Wanne und plantschte mit ihnen herum, bevor er..., bevor es ins Schlafzimmer ging. - Fällt ihnen sonst noch etwas ein?“
„Die Marquise von O.“, meldete sich Harald. Er war einer der neuen Teilnehmer und hatte sich als Installateur im Ruhestand vorgestellt. Er grinste breit und schaukelte dabei geradezu lebensgefährlich auf dem altersschwachen Holzstuhl herum.
„So. Welches Kapitel finden Sie daran reizvoll?“
„Weiß nicht. Habe nur den Film gesehen!“
Das konnte ja reizend werden. Maria bemühte sich, nicht laut zu seufzen. Zum Glück platzte in diesem Moment Agatha hervor, „also ich finde die Biographie von Klaus Kinski ja sehr erotisch. Er schreibt so direkt. Na ja, manchmal ist es vielleicht ein wenig pornographisch. Aber anregend...“ Sie stoppte abrupt und wurde feuerrot im Gesicht. Offensichtlich fiel ihr gerade auf, dass sie etwas von ihren geheimen Fantasien preisgegeben hatte.
„Das ist ein sehr gutes Stichwort“, beeilte sich Maria zu versichern. „Erotisch und pornographisch sind zwei sehr unterschiedliche Sachen. Während die Pornographie die Dinge direkt beim Namen nennt und sich nicht scheut, auch vulgäre Ausdrücke zu verwenden, deutet die Erotik die Dinge nur an. Es bleibt dem Leser überlassen, die Geschichte in seiner Fantasie weiter auszumalen – oder eben nicht. Und nun wollen wir uns mal am praktischen Teil versuchen. Es soll noch keine ganze Geschichte werden. Es reicht völlig, wenn es ein paar Zeilen sind. Wir wollen uns dem Thema behutsam und langsam annähern. Wir imaginieren Rittertum und Minnesang und stellen uns eine Verführungsszene vor. Also bitte, an die Arbeit.“
Sie klatschte in die Hände und setzte sich an den Pult. Nächstes Mal würde sie bequemere Schuhe anziehen, das schwor sie sich jetzt schon. Nichts über 16 Zentimeter Absatzhöhe. Ihre Schützlinge machten sie eifrig ans Werk. Bis auf Agatha und Hubert, die eifrig ihre Laptops aufklappten und hoch fuhren, waren alle anderen mit Spiralblöcken ausgestattet. Sie ließ ihnen zehn Minuten, dann stand sie auf und ging leise von Platz zu Platz und bot ihre Hilfe an. Hubert stand wie immer auf dem Kriegsfuß mit den Kommata, war ansonsten aber sehr eifrig und nicht unbegabt. Sie gönnte jedem Teilnehmer genau fünf Minuten, dann ging sie wieder nach vorne.
„So meine Lieben. Nun kommen wir langsam zum Ende. Und dann lesen wir vor.“
Nach und nach legten die Teilnehmer ihre Stifte ab, doch niemand meldete sich. Maria kannte das schon. Am Anfang waren sie stets schrecklich genierlich. Am besten sie animierte einen von den Neuen, damit die sich in der Gruppe auch wohl fühlten. Sie wandte sich an einen Mann von Anfang, Mitte Dreißig, der sich als „Maik“ vorgestellt hatte.
„Wie sieht es aus, Maik? Möchten Sie vorlesen? Keine Angst, wir beißen nicht...“
„Geht klar“, sagte er. „Ich hab mir echt Mühe gegeben. Wissen Sie, meine Freundin will, dass wir ein bisschen Schwung in unser Bettchen bringen. Und da dachte ich, ich schreib heimlich so was richtig antörnendes, also nicht so plumpes Zeug...“ Er räusperte sich.
„Der Ritter Lancelot war schon lange scharf auf die Alte vom König Artus. Und sie fand ihn auch echt geil. Also warteten sie, bis der König mal wieder mit seinem Schwert Excalibur unterwegs war, wegen der Abenteuer und so. Und dann trafen sie sich im Garten. Der Lancelot küsst sie also und streichelt ihr die Titten. Und dann dreht er sie um und lehnt sie gegen die Linde. Sie seufzt mächtig. Dann hebt er ihr den Rock hoch und versenkt sein Liebeszepter in ihrer feuchten Grotte... Weiter bin ich noch nicht gekommen, aber ist doch schon gut, oder?“ Er grinste siegessicher.
Maria sah in die verlegen kichernde Runde und murmelte etwas von „Entwicklungspotenzial“. Ihr war urplötzlich nach einem heißen Bad und einem sehr großen Glas Rotwein.
© sylvie2day, 17.04.2011