Entführt
Melanie hatte keine Ahnung, wie lange sie sich bereits in ihrem düsteren Verlies befand.
Waren es mehrere Tage, oder sogar bereits Wochen? Das Zeitgefühl war ihr völlig abhanden gekommen.
Das spärliche Mobiliar schien aus Teilen von
Sperrmüll zusammen gestückelt.
Die Füllung der gammeligen Matratze, auf der sie sich nur widerwillig niederließ, um in einen unruhigen, alptraumschwangeren Schlaf zu fallen, war hart und unbequem, die Bettdecke abgewetzt.
Das Bettgestellt quietschte und wackelte bei jeder geringen Bewegung.
Das erste, was sie wahrgenommen hatte, als sie aus dem Nebel ihrer Betäubung wieder in die reale Welt zurückkehrte, waren die ohrenbetäubenden Startgeräusche von Düsenjets.
„Ich befinde mich gefesselt in einem Kellerraum auf dem Airport-Gelände!“ Sie versuchte ihre getrübte
Wahrnehmung zu überwinden und diesen ersten einigermaßen klaren Gedanken in einen vernünftigen Kontext zu den vorangegangenen Geschehnissen zu setzen.
„Strassberg, diese kleine Ratte.“ Sein vernarbtes kantiges Gesicht war das letzte, was sie außer einer süßlichen Chloroformwolke wahrgenommen hatte, bevor sie kollabierte. „Wir lassen uns nicht länger
bescheißen“, hatte er ihr noch ins Ohr gezischt. Was hatte er wohl damit gemeint?
Sie kannte ihn nur flüchtig. Er war ihr vor einigen Monaten anlässlich der Eröffnung einer Fotoausstellung in der Hamburger
Kunsthalle vorgestellt worden. Sie erinnerte sich, dass er als Sicherheitsingenieur bei der Fluggesellschaft eingesetzt ist und somit möglicherweise Zugang zu allen Gebäuden des Airport hatte.
Für wen arbeitet er? Ihr fiel momentan keine vernünftige Erklärung auf diese Frage ein, warum oder in wessen Auftrag dieser verdammte Drecksack sie außer Gefecht gesetzt und hierher verschleppt hatte. Es konnte sich nur um eine Verwechslung handeln.
„Wenn ich hier lebend herauskomme, werde ich dafür sorgen, dass er an seinen
Eiern aufgehängt wird“ murmelte sie vor sich hin, als sie vernahm, wie sich der Schlüssel im Schloss der schweren Metalltür drehte.
Jedes Mal, wenn ihr Entführer die Tür zu ihrem Verlies öffnete, forderte er sie mit einschmeichelnder Flüsterstimme auf, sich umzudrehen und ihn keinesfalls anzuschauen.
Sie wollte ihn nicht provozieren und hielt es für klüger sich zu fügen. Er zog ihr dann von hinten eine Kapuze über und sie konnte lediglich, wenn sie nach unten schaute, seine Hosenbeine und Schuhe wahrnehmen.
Dabei machte seine Kleidung einen kostspieligen, gepflegten Eindruck auf sie; die Lederschuhe waren blitzblank poliert.
Und seinen Geruch nach einem exklusiven Herrenduft. Er roch angenehm.
„
Venedig“, durchfuhr es sie. „Nein, Venezia Uomo, Laura Biagotti. Mein Gott, wo habe ich das schon mal geschnuppert.“
„Das ist auf jeden Fall nicht Strassberg.“ Zu dieser Erkenntnis zu gelangen, war nicht schwierig, „er war wohl nur der Gehilfe.“
Die Fesseln hatte er ihr bereits abgenommen, als er zum ersten Mal den Raum betrat.
Er kam, blieb für einige Minuten und verschwand dann wieder.
Er sprach kaum, gab keine plausible Erklärung darüber ab, warum sie festgehalten wurde.
„Die Kombination. Ich brauche die Kombination.“ Waren die einzigen Worte, die er von sich gab, flüsternd, beschwörend.
„Ich weiß nicht, was Sie wollen.“ Anfangs hatte sie diese Worte ängstlich hervorgepresst, später nur noch schluchzend, resignierend.
„Sie wird Dir sicher noch einfallen,“ säuselte er beschwörend.
Sie konnte bei seinen flüchtigen Berührungen weiche, gepflegte Hände wahrnehmen, es irritierte sie zutiefst, dass sie seine Nähe nicht als unangenehm empfand.
Sie versuchte einen Blick auf seine Hände, eine
Spiegelung im Metall seiner Armbanduhr zu erhaschen, vergeblich.
In der Folgezeit schob ihr jemand zweimal täglich etwas zu essen und zu trinken durch eine Klappe im unteren Bereich der Tür.
Ihre Notdurft musste sie in einer stinkenden Kloake in einem noch winzigeren, stockdunklen Nebenraum verrichten. Wenigstens gab es eine Wasserspülung und Klopapier.
Heute früh wurde eine Schüssel mit frischem Wasser durch die Klappe geschoben und ein Handtuch, so dass sie sich das Gesicht waschen und eine Katzenwäsche am Körper vornehmen konnte.
Ihre Haare klebten am Kopf.
„Ich muss schauderhaft aussehen“, dachte sie mit einem kläglichen Rest aufkeimender Eitelkeit.
Sie stieg in einer sich mehrfach täglich wiederholenden Prozedur auf den Stuhl aus morschem Rattangeflecht, um wenigstens ein klein wenig Tageslicht zu erhaschen und um die Eintönigkeit ihrer Gefangenschaft aufzuheben.
Vor allem aber, damit ihre Kraft nicht nachließ. Sie wollte ihre ausgeprägte Beinmuskulatur nicht der Untätigkeit zum Opfer fallen zu lassen, falls sich eine Gelegenheit zur Flucht ergeben sollte.
Dabei zog sie sich an den Stäben des massiven Gitterrostes hoch, um gleichzeitig ihren Oberkörper zu kräftigen.
Durch die staubblinden Scheiben des winzig kleinen Kellerfensters konnte sie lediglich erkennen, ob es Tag oder Nacht ist.
Auf dem völlig verdreckten Betonboden des klaustrophobisch engen Raumes absolvierte sie täglich mehrmals Liegestütze zwischen Rattenkot und aufwirbelnden Staubflocken.
Obwohl es sie ekelte, zog sie diese Prozedur durch, machte eine Serie Kniebeugen und Dehnübungen.
Sie zuckte zusammen, als sie nun nach unendlich erscheinenden Stunden das Geräusch des Schlüssels im Schloss wahrnahm und die Tür sich langsam öffnete.
„Dreh Dich um!“ Die Flüsterstimme jagte ihr, wie immer einen Schauer über den Rücken.
Doch diesmal verharrte sie nicht wie das Kaninchen vor der Schlange.
Im Aufwallen eines letzten Funkens Selbsterhaltungstrieb drängte es sie heute zur Gegenwehr und sie leistete seiner Aufforderung nicht Folge.
„Wer bist Du?“ schrie sie ihn hysterisch an? „Was willst Du?“
Sie rannte auf ihn los, überraschte ihn dadurch offenbar so sehr, dass er sich beiseite stoßen ließ.
Er hielt im Rückwärtstaumeln schützend seine Hände und den Stoff der Kapuze vor sein Gesicht, so dass er ihren Blicken nicht preisgegeben war.
Sie stolperte in den halbdunklen Flur, bewegte sich zunächst
tastend voran, bis ihre Augen sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Sie versuchte sich zu orientieren und floh letzlich blindlings ohne zu wissen, ob sie die richtige Richtung eingeschlagen hat.
Ein Lichtschein wies ihr den Weg zu einem Treppenaufgang. Die Stahltür nach außen war unverschlossen.
Als ihr die wärmenden Strahlen der Sonne ins Gesicht schienen, musste sie vor dem schmerzhaft gleißenden Licht zunächst die Augen zusammenkneifen.
Dann rannte sie los, suchte zunächst Deckung hinter einem verkümmerten Strauch am Rande des Rollfeldes.
Ein startender Jet zog mit ohrenbetäubendem Lärm, wie zum Greifen nah, über ihren Kopf hinweg.
Sie duckte sich, blickte sich flüchtig um und nahm im Augenwinkel ihren Verfolger wahr.
Im Zickzack lief sie weiter, hörte das Peitschen eines Schusses. Das Projektil hatte sie offenbar verfehlt, sie konnte unverletzt weiterrennen.
Sie erreichte das Rollfeld, ihr Verfolger hatte offenbar aufgegeben, aus Angst vor Entdeckung.
Sie atmete auf, als sich ihr ein Fahrzeug mit Blaulicht näherte und sie sich in die Obhut von Sicherheitsbeamten des Flughafens begeben konnte.
Zunächst war es ihr unmöglich sich zu artikulieren, aufgrund der Aufregung und unter Einfluss des enormen Drucks, der nun von ihr abfiel.
Erst nach und nach konnte sie ihre unglaubliche Geschichte erzählen und den Ort ihrer Gefangenschaft zeigen. Die Frage nach den Hintergründen stellte sich ihr und den Polizisten nach wie vor.
Schließlich war sie doch nur eine unbedeutende Kunststudentin, die gelegentlich ihre Finanzen durch Führungen im Auftrage der Stiftung des Kunstmuseums aufbesserte.
Monate später saß Melanie am Schreibtisch in ihrer neuen Wohnung. Die alte Wohnung hatte sie gekündigt und war in eine andere Stadt gezogen.
Der Fall konnte nicht geklärt werden.
Es gab keine Spuren, keine Anhaltspunkte, Strassberg war wie vom Erdboden verschwunden.
Erst Monate später fand man seine bis zur Unkenntlichkeit verweste Leiche in einem Waldgebiet, hunderte von Kilometern von seinem Wohnort.
Sie erfuhr nie, wer es war, der sie in seine Gewalt gebracht und tagelang gefangen gehalten hatte.
Ihren Job beim Museum hatte sie aufgegeben. Die Angst war seitdem ihr ständiger Begleiter, vor allem seitdem kurz nach ihrer Entführung Kunstdiebe den Kopf von Störtebeker aus dem Museum entwendet hatten.