Sitzgelegenheit
Musik dröhnte durch das Backsteingebäude der verlassenen, alten Tapetenfabrik im Marburger Norden. ‚… I’ll never be your beast of burden…’, hallte es durch die langen Flure. Auf einem alten Bürostuhl nahm er sie. ‚… I’m hard enough, I’m rough enough…’ Er wurde immer aggressiver. Sein Atem ging stoßweise. Der gammelige Stuhl ächzte und quietschte im Rhythmus der Musik und im Takt zum Akt. Hart packte der Mann sie am Haar, zog ihren Kopf immer weiter zurück, bis ihre Schreie der Lust zu Schreien der Panik wurden. ‚… I’ll never be your beast of burden...’, kreischte das Radio.„Du verfickte Schlampe! Schrei nur! Schrei! Schrei!” brüllte er in unbändigem Hass und als er kam, brach er ihr mit einem kurzen Ruck das Genick.
Stolz brachte Charlotte Lieberecht den Sperrmüllfund in ihr neues, kleines Büro. Sie fand auch schnell den richtigen Platz für ihn, in ihrem kleinen Reich, in dem sie ihre Karriere als Pädagogin starten würde.
Ja, dieser Stuhl hatte Charakter. Er verlieh dem Raum so einen gewissen Touch von Bohème, mit dem sie sich gerne umgab. Sie freute sich wie ein kleines Kind. Hier würde sie also all die problembehafteten Menschen beraten und in ein neues, ein besseres Leben führen.
Charlotte wirbelte herum und ihr leuchtendblauer Batikrock flog um ihre Beine. Atemlos ließ sie sich auf den Stuhl fallen, um sich noch einmal umzusehen und Luft zu holen, bevor sie Feierabend machte.
Nachdem sie ihre riesige, bunt geblümte Umhängetasche geschnappt hatte, schloss Charlotte die Tür hinter sich zu und machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte nicht all zu weit zu gehen und sich auf den wohlverdienten Feierabend gefreut. Aber ein ungutes Gefühl überkam sie, während sie an den vielen fremden Menschen in der Stadt vorüber ging. Schaute sie da nicht jemand böse an? Und der da, hatte der sie nicht absichtlich angeremptelt? So ein Rüpel!
Um sich noch ein wenig frische Luft zu gönnen, beschloss sie, einen Abstecher an die Lahn zu machen.
Die Enten am Flussufer hatten schon ihre Köpfe unter die Flügel gesteckt und sich zur Ruhe begeben. Was sollte das? Enten hatten auf dem Fluss zu schwimmen und um Brot zu betteln! Das war ihre Aufgabe!
Charlotte wurde wütend. Was fiel diesen ignoranten Enten ein?
Sie holte mit dem Fuß aus und trat heftig zu. Die getroffene Ente fiel in die Lahn und die restliche Entenschar folgte ihr unter wildem Geschnatter und Gezeter.
Charlotte wurde jetzt erst so richtig sauer. Was bilden diese verdammten Vogelviehcher sich ein? Sie schrie die Enten an. „Kommt doch her, ihr eingebildeten Biester!“
Eine Frau mit Kinderwagen näherte sich Charlotte.
„Was machen sie denn da? Die armen Tiere!“
„Ach, halten sie doch ihren Mund!“ rief Charlotte und riss mit einem Ruck dem Kind im Wagen den Schnuller aus dem Mund, warf ihn auf den Boden und zertrat ihn, wie man eine Zigarette austritt.
„Na hören sie mal…“, begann die Mutter verdattert. Aber da war Charlotte schon über ihr, zerkratze ihr Gesicht, zog an ihren Haaren und schrie mit schriller Stimme: „Du Fotze, du blödes, verkommenes Miststück, misch dich nicht in meine Angelegenheiten, oder ich mach dich kalt!“
Wenig später wurde Charlotte Lieberecht, junger Stern am Pädagogenhimmel, in eine psychiatrische Klinik eingeliefert.
„Friedhelm, ist das Büro jetzt endlich leer geräumt?“ fragte der Möbelpacker seinen Kollegen.
„Ja, alles, was mit soll, ist im Laster. Nur diesen Stuhl, den wollte keiner haben.“
„Dann pack ihn einfach mit rein und wir bringen ihn auf den Müll. Der Raum muss komplett leer übergeben werden!“
Friedhelm stellte den Bürostuhl in den Laderaum. Irgendwie war der Stuhl merkwürdig. Er war alt und sah nicht wirklich schön aus, aber zum Wegwerfen war er doch zu schade.
Friedhelm beschloss, den Stuhl mit nach Hause zu nehmen. Sein Sohn brauchte sowieso eine bessere Sitzgelegenheit für seine Hausaufgaben und Computerspiele.
Ach, wenn doch Marco nicht immer diese Ballerspiele spielen würde! Stundenlang saß er vorm Rechner und vergaß völlig, was um ihn herum vor sich ging. Seufzend machte Friedhelm den Laster dicht und dachte darüber nach, dass er für seinen Halbwüchsigen viel zu wenig Zeit hatte. Na ja, vielleicht würde Marco sich ja über den Bürostuhl freuen. Er hatte ja ein Faible für 50er-Jahre-Design.
„Ey Alter, das Ding ist echt cool! Stell’s hier hin und nerv mich nicht großartig. Wir haben heut Abend ein Spiel. Und den Gegnerclan, den mach ich platt! Soll noch mal einer sagen, ich würde cheaten!“
Friedhelm schob den Stuhl in Marco’s Zimmer und zog sich zurück. Fremd waren sie sich geworden. Na ja, so sind halt die jungen Leute, dachte er und setzte sich vor den Fernseher.
Marco’s Finger flogen über die Tastatur. Mann, war er gut! Aber auf einmal kamen wieder die Stimmen im Teamspeak, die sich gegen ihn wandten: „Ey, du Lusche, du cheatest doch, du Looser, du Sohn eines schwulen Vollpfostens!!“
Marco ließ sich tief in den Sitz seines neuen, alten Stuhles sinken. Seine Finger, die um die Stuhllehne geklammert waren wurden weiß. Dann ging bei im der Rollladen runter.
Er gab sich einen Ruck, stand aus dem Sessel auf und ging in das Schlafzimmer seines Vaters.
Oh, wie er ihn hasste, diesen Mann, der nicht fähig war, seiner Frau zu zeigen, wo es langgeht! Dieses Weichei war doch nichts wert! Schleppte täglich den Müll anderer Leute herum und bekam dafür einen Hungerlohn! Marco öffnete das Vertiko im Schlafzimmer, nahm das großkalibrige Jagdgewehr heraus und lud durch. Er schoss und schoss, so lange bis das Magazin leer war.
Auf Friedhelms Gesicht lag ein ungläubiges Erstaunen, als die Polizei ihn fand.
Die Spurensicherung ergab, dass es sich um ein Familiendrama der herkömmlichen Art gehandelt hatte.
Der Stuhl stand an seinem Platz und grinste teuflisch in sich hinein….
(c) Rhabia 21.04.2011