VHS rocks!
Dieter Becker schlug wortlos mit der flachen Hand auf den Tisch, dass es noch sekundenlang durch den gekachelten Chillbereich seiner Wohnung hallte. Dann sank er seufzend zurück in seinen Sessel. Auf dem monströsen Flatscreen vor ihm war immer wieder der Name seiner Tochter zu lesen, „Dr. Tamara Becker-Morón“, begleitet von einer Kakophonie alberner bis hochnäsiger, aber auf jeden Fall gefährlicher Kommentare. Gern hätte er den Apparat abgeschaltet, das ging aber nur mit einer App auf Dagmars iPhone. Dieter hatte sich aus dem technischen Fortschritt ausgeklinkt, als die Bundespost das Tastentelefon einführte und musste hilflos weiter zuschauen.Er blickte angestrengt durch den Schirm hindurch in die Unendlichkeit. In der gelackten Umgebung wirkte er wie eine Fliege, die einer Lampe zu nahe gekommen war und jetzt, auf dem Rücken liegend, in immer längeren Abständen verzweifelt mit den Flügeln schlug, bevor sie endgültig aufgab. Dieter war alt geworden, sicherlich, aber das Wort „Aufgeben“ hatte nie zu seinem Wortschatz gehört. Und so arbeitete es auch jetzt fieberhaft hinter seiner gewaltigen Stirn, obwohl er auf Menschen, die ihn nicht kannten, den Eindruck völliger Agonie gemacht hätte.
Was war passiert? Nach einem gähnend langweiligen Abend im Ballett, dem er widerwillig und eher seinen gesellschaftlichen Verpflichtungen als dem Gequengel seiner Frau Dagmar zuliebe beigewohnt hatte, wollte er noch einen kurzen Blick auf die Aktienkurse werfen, als ihm plötzlich Tamaras Silberblick entgegengrinste. Seine Mundwinkel waren noch unterwegs, um ein fast väterlich stolzes Grinsen zu produzieren, als seine Ohren schon die ersten Wellen des Großalarms in seine Nervenbahnen einspeisten: „Plagiat!“
Ungebremst durch mögliche Verstrickungen seines eigenen Erbguts (Tamaras Vaterschaft konnte nie wirklich geklärt werden, oder besser: Dieter war vorsichtig genug, hier nicht tiefer zu bohren) deklinierte er alle Ausprägungen des Begriffsfeldes „debile hohle Nuss“ durch. Anschliessend spulte im schnellen Rücklauf der Film seines Lebens vor seinem geistigen Auge ab, bis zu dem Punkt, an dem er sich gern in den Hintern beissen wollte, wenn sein Leibesumfang das zugelassen hätte.
„Daddy, ich will promovieren!“. Zunächst hatte dieser Satz in ihm lediglich die Assoziationswolke zwischen Prostitution, Prohibition und geschobenem Boxkampf aktiviert, so dass er nur abwesend „Jaja, das ist eine gute Idee“ brummte. Dann aber befasste er sich näher mit der Sache und kam zu dem Schluss, dass seine Vielleicht-Tochter nun völlig grössenwahnsinnig geworden war. Wirklich duchsetzen konnte er sich aber nicht gegen sie, erst recht nicht, wenn Dagmar sich in die Sache einmischte. Und das würde sie. Bevor es also zu ernsthaften Störungen des Raum-Zeit-Gefüges kommen konnte, griff er zum Telefon und regelte die Sache.
Wie so vieles, das er über seine weit verzweigten Beziehungen einfädelte, hätte er die Sache schnell wieder vergessen, aber dieser Professor Breitling erwies sich als harte Nuß. Weder das beamtentypische Pfandbriefdepot, noch die (nebenbei sehr kostensparende) Drohung mit vermeidbarem Ungemach an der Fakultät konnten ihn dazu bewegen, Tamara ohne grosses Aufsehen durchzuwinken. Er bestand darauf, dass sie eine Doktorarbeit ablieferte, ließ aber durchblicken, dass er nicht allzu genau hineinschauen wollte, wenn man ihm „entsprechend“ entgegenkam.
So also wehte der Wind. Noch zwei, drei Jahre vorher hätte er einfach Dagmar zu ihm geschickt, am besten gleich mit einigen dunkelhäutigen Helferinnen, und die Sache wäre erledigt gewesen. Er hätte die dabei heimlich aufgenommenen Bilder numeriert und im Keller unter „A-D“ archiviert, fertig. Seit Dagmar aber mit Mutter und Tochter Oharven zum Aufspritzen in London gewesen war, fiel diese Option weg. Sie war zwar immer noch eine Granate im Bett und hatte nichts von dem verlernt, was sie damals in „Kegelbahnschlampen 3“ so eindrucksvoll gezeigt hatte. Dieter konnte jedoch das Gefühl nicht unterdrücken, ein aufblasbares Babyplanschbecken zu bumsen und nahm an, dass die meisten Männer wie er denken würden. Dann eben Tamara selbst! Dieter kicherte innerlich bei dem Gedanken, auch wenn diese Vorgehensweise in der Familie Becker Tradition hatte.
Schon zu der Zeit, als er in dem muffigen Bretterverschlag auf dem Schrottplatz seines Onkels verbotene Pornos verkaufte, träumte Dieter davon, die „Scheiss-Bourgeoisie“ (politisch war er immer schon gefestigt wie ein Wackelpudding) zu unterwandern, indem er seinen Erstgeborenen in eine Partei einschleuste. Auf diese Weise wollte er sein grosses Vorbild Rüdiger Wethmann übertrumpfen, der die geniale Idee, toxischen Kabelschrott aus dem nahem Ruhrgebiet nachts auf den Äckern seines Vaters unterzupflügen, um die enormen Recyclingvergütungen einzustreichen, zu einem Weltkonzern ausgebaut hatte, der inzwischen sogar auf Papua-Neuguinea lustige blaue, grüne und gelbe Mülltonnen im Urwald verteilte und damit den halben Staatshaushalt in seine Taschen lenkte.
Mit den richtigen Leuten an den richtigen Stellen der Politik müsste das doch erst recht ein Kinderspiel sein, und Blut war noch immer dicker als Wasser. Wirklich eingestiegen in das lukrative Geschäft war er dann 1986, als er achtzehn Waggons verseuchtes Milchpulver aus Kiew einer geordneten Entsorgung zuführen konnte. Damit machte Dieter seine erste Million, vermied es aber seitdem pingelig, Produkte der bayerischen Firma Maier-Milch zu verzehren. Seitdem hatte er alle neu hinzukommenden Geschäftsfelder besetzen können, so sehr ihm Wethmann auch zusetzte. Niemand wusste besser als er, wie wichtig es war, die hysterischen Ängste der halbgebildeten Mittelschicht aufzugreifen und in Gesetze zu giessen, die auch noch gelten würden, wenn längst die übernächste Sau durchs Dorf getrieben würde. Politik, Politik, Politik!
Nachdem klar war, dass Tamara erstens kein Junge und zweitens mit Sicherheit das einzige Kind sein würde, das seine Nerven verkrafteten, hatte er seinen Plan leicht abgeändert. Tamara sollte nach dem Abitur (man hatte Freunde, nicht wahr?) bei den Grünen einsteigen und sich zur Spitze hochschlafen. Schon bisher hatte diese Partei dafür gesorgt, dass für Dieters Geschäfte immer genug gebratene Tauben den Himmel verdunkelten. Mit Tamara in einer führenden Position wäre das Schlaraffenland vollkommen.
Leider spielte Blondie, wie er sie zu Dagmars Missfallen nannte, nicht mit. Gleich nach dem Einschreibtermin an der Uni verliebte sie sich unsterblich in Felipe-Rodriguez Morón, der vorgab, Sohn eines kastilischen Textilmagnaten zu sein. In Wirklichkeit hatte er sein unstetes Leben als Schiffschaukelbremser satt gehabt, war ausgerissen und lungerte seitdem beim hiesigen AStA herum, wo er gelegentlich in die BWL-typisch ungeordnete Kasse der Independent-Film-AG griff, Raverparties mit umgelabelten Kopfschmerztabletten versorgte oder einfach mal mit einer Mütze über dem Gesicht tanken ging. Felipes Grundversorgung übernahmen die Jungen Liberalen, bei denen schlicht die Wahrscheinlichkeit am größten war, nach einem gezielten Griff in eine Jackentasche ein, zwei Stunden bargeldlos shoppen gehen zu können.
Tamara engagierte sich also statt bei den Grünen bei der FDP, um ihrem Traumprinzen nahe zu sein. Diese Romanze, die recht bald sogar in eine tränenreiche Trauung mündete, änderte aber nichts an dem väterlichen Plan, die Parteispitze durch den Austausch von Körperflüssigkeiten zu erobern, und dem festen Willen Tamaras, hierin besser zu sein als ihre Mutter. Bei Beckers wusste man eben Privates und Geschäftliches sauber zu trennen, eines der wenigen Dinge, die Dagmar in die Ehe mit Dieter eingebracht hatte. Innerhalb weniger Monate hatte Tamara sich einen Platz im Landesvorsitz ervögelt. Das Jurastudium, ohnehin von Anfang an eine Farce, tröpfelte dahin. Eigentlich kam sie nur wegen Felipe ab und an vorbei. Was dabei ablief hatte spätestens seit Anfang der siebziger Jahre jedoch keinerlei juristische Relevanz, im Gegensatz zu den Restbeständen an Filmen aus Dieters Schrottplatzzeit, die er aus Nostalgie im Keller aufbewahrte.
Zu Vater Beckers Entsetzen stellte sich aber heraus, dass in der FDP oberhalb der Landesebene ausschliesslich reinrassige Hupen an den Schalthebeln saßen. Als Tamara ihm das erzählte, glaubte er zuerst, sie wolle sich vor den Familienpflichten drücken. Schließlich hatte auch Berlins Regierender Bürgermeister sein Coming Out nur inszeniert, weil die Umfragen kurz vor der Wahl zeigten, dass man damit mehr grüne Betroffenheitsjunkies zur SPD herüberziehen als Neonazis verschrecken würde. In Wirklichkeit war er stockhetero, auch wenn er in Talkshows immer grinste, als ob er vergessen hätte seinen Analplug herauszunehmen. Nach ein bisschen Recherche im Bekanntenkreis war jedoch klar, dass Tamara ein ernstes Problem hatte.
Dieter beschäftigte sich intensiv mit dem Thema, verschlang alles Lesbare zu dieser Problematik, ja, er kramte sogar in den alten Videokassetten, um zu verstehen, wie diese Leute tickten. Nach vier schlaflosen Nächten fand er schliesslich die Lösung. Genial einfach eigentlich, die Umsetzung gestaltete sich aber überaus schwierig: Tamara musste Bodo, einem der Hoffnungsträger der FDP, einen Kuchen backen. Selbst, mit ihren eigenen Händen, Täuschungsversuche waren zwecklos.
Unter immensem Einsatz von Mensch und Material konnten die Beckers aber auch diese Hürde nehmen. Siegessicher stieg Tamara mit ihrem Kuchen in den ICE nach Berlin (sie flog nicht mehr, seit sie zur Vorbereitung auf ihre Parteikarriere Mutters Filme aus der Reihe „Loch in den Wolken“ hatte ansehen müssen). Schon am nächsten Abend wurde ihr Gesicht neben dem Bodos in der Tagesschau gezeigt. Drei Wochen später war sie fest im inneren Führungszirkel verankert. Schon die leiseste Andeutung, sie könne bei politischen Ansichten, die ihr (natürlich nach Rücksprache mit ihrem Vater) nicht gefielen, das Backen einstellen, liess die eine Hälfte des Präsidiums in Tränen ausbrechen, während die andere Hälfte sich daumenlutschend in den Ecken des Fraktionssaals zusammenrollte und monoton wippend vor sich hin brabbelte.
Alles lief wie geschmiert, Dieter war mehr als zufrieden. Je nach seinen Gelegenheiten für ein einträgliches Geschäft war die FDP heute für Atomkraft, Kinderarbeit oder rituelle Selbstverbrennung und morgen wieder dagegen. Selbst den Grünen blieb oft der Mund offenstehen, wenn die FDP mal wieder in Sachen Umweltschutz an ihnen vorbeipreschte und der tranigen Kanzlerin noch vor dem Frühstück die Unterschrift unter irgendein albernes Gesetz abluchste. Dieters Rubel rollte wie nie zuvor.
Die Tinte auf ihrer Promotionsurkunde war kaum trocken, als Tamara ihr Konterfei in der ganzen Republik plakatieren ließ. Die politische Aussage des Plakats war: „Dr. Tamara Becker-Morón“ und trug die FDP zu nie gekannten Prozentzahlen bei der anschliessenden Wahl. Jetzt war es Zeit, ins Europaparlament zu wechseln, um an den ganz grossen Rädern zu drehen: Anpassung der Bananenkrümmung, wenn Mittelamerika nachlässig bei den Überweisungen auf Dieters Liechtensteiner Konten wurde. Euro6, 7, 8, 9 und 10, wenn das Altfahrzeugrecycling lahmte (Dieter hatte von der ersten Million den Betrieb seines Onkels übernommen, das Videogeschäft allerdings in eine Limited nach St. Nevis ausgelagert, die die Kundschaft über das Internet versorgte). Dieters Kabinettstück aber war und blieb der für alle Welt überraschende EU-Beitritt Moldawiens. Tamara konnte einen Großteil ihrer Parlamentskollegen von der Notwendigkeit dieses Schrittes überzeugen, anschliessend jedoch wochenlang nicht laufen. Umso spektakulärer war ihre vom Rollstuhl aus gehaltene Rede, als über den Umtausch der moldawischen Lebensmittelmarken in harte Euro abgestimmt wurde. Felipes Schwager besaß eine Druckerei in Cadiz, Dieter kümmerte sich um die übrigen logistischen Aspekte.
Mitten in diese Idylle platzte nun der Vorwurf, Tamaras Doktorarbeit sei abgekupfert. Dieter war wie vom Schlag getroffen. Das Beispiel des Ministers ohne besondere Befähigung, der erst vor Wochen über genau diese Marginalie gestolpert war, liess ihn das Schlimmste befürchten. Nach einer endlosen Zeit des Nachdenkens huschte ein kaum merkliches Lächeln über sein Gesicht. Die Fliege machte „Bsst, bsst“ und erhob sich aus dem Sessel.
Dagmar, die bisher nicht gewagt hatte, ihn auch nur anzusehen, sondern dümmlich an ihren unförmigen Lippen kaute, brach jetzt das Schweigen: „Was hast du vor, Dieter?“
„Der EU-Ratspräsident ist Belgier, das Gesicht kenn ich doch. Gesichter vergesse ich nie. Meinst du, Felipe weiß, wie man VHS-Kassetten kopiert?“