Vögel sind auch nur Menschen
Ich hätte es wissen müssen.Er wollte dem Vogel helfen, der so gerne fliegt und auch das Zeug dazu hatte. Wer wünscht sie sich nicht, diese unterstützende Hand, wenn man gestürzt, oder höher hinaus will. Der Vogel war unzufrieden mit seinem Vogelleben, scheiterte und rutschte ab. Er wusste nicht weiter und fand sich als Möwe plötzlich bei den Tauben wieder, die auf die Krumen der Wohltäter angewiesen sind. Sie wusste nicht weiter, glaubte jedoch, dass jedes Scheitern eine wunderbare Chance in sich birgt, zu wachsen, zu reifen. Sie wusste, "da gehöre ich nicht hin" doch alleine fand sie keinen Ausweg. Keiner der Tauben um sie herum möchte fliegen, ist es doch so bequem die Krumen vom Boden zu picken und verwöhnt zu werden. Ohne Anstrengung. Sie war anders.
Ich hätte es wissen müssen.
Sie wollte lernen, sie wollte fliegen, sie wollte andere mit ihrem Können erfreuen. Sie wollte mehr sein, als eine Taube, die auf Dächer scheißt und Krumen pickt.
Ich hätte es wissen müssen.
Sie war auch schon längst keine Möwe mehr. Längst hatte sie über den Horizont geblickt, längst kannte sie die luftigen Höhen wo die Adler ihre Kreise zogen. Sie war eine Möwe, hatte aber das Zeug zu mehr.
Ich hätte es wissen müssen.
Ich kenne viele Beispiele. Tauben, die sich das Leben nehmen wollten, weil die Krise unerträglich war. Sie standen bereits an der Klippe und wollten springen, in den sicheren Tod, doch es gab bei den meisten etwas, was sie zurückhielt. Etwas, wofür es sich lohnte zu leben. Die meisten wichen von der Klippe zurück, sind wieder aufgestanden und weitergegangen- ihren Lebensweg. Viele von ihnen sah sie eines Tages unter den Fittichen von größeren Vögeln mit denen die einstigen Tauben ihre Runden zogen, bis sie gemeinsam davon flogen und sie ihnen nachsah, vielen war sie selbst Handreicher in der Not gewesen. Sie folgten dem, was sie liebten, sie folgten dem, den sie liebten, sie folgten ihren Stärken, dem Lebensruf. Einige blieben Tauben und kümmerten sich zufriedener als vorher um das was sie liebten.
Sie kannte auch Möwen, die es durch Vermählung schafften in höhere Lüfte zu steigen, je älter sie wurden, desto geringer diese Wahrscheinlichkeit. Sie sah Möwen, die einmal ihre Schützlinge waren, selbstbewusst und groß in den Reihen von Adlern sitzen..und sie selbst spürte ebenfalls diese Sehnsucht...zu fliegen...mehr als Möwen es sonst tun.
Ich hätte es wissen müssen.
Viele der ihr bekannten Vögel in Lebenskrisen, hatten ihr neues Leben häufig einem einzigen Vogel zu verdanken. Einer, der zur rechten Zeit am rechten Ort, einfach eine Hand reichte und an sie glaubte. Ein weiser Mentor.
Ich hätte es wissen müssen.
Das Scheitern auf ganzer Linie kann das Ende eines Lebens bedeuten, kann aber auch die Metamorphose sein ein emporsteigen von Phönix aus der Asche. Dies insbesondere, wenn es Adler sind, die sagen: „Ja, komm hoch zu uns, fliege mit uns. Du gehörst zu uns. Traue dich einfach zu fliegen. Wir vertrauen in dich. Lass dich nicht entmutigen. Streng dich an, mach es so, wie es Adler machen, schau gut zu. Du bist keine Taube, du schaffst das.“
Ich hätte es wissen müssen.
Der sich wandelnde Vogel wird den Artgenossen immer unheimlicher. Sie mögen ihn nicht, betrachten ihn als Außenseiter, als Störenfried. Sie wenden sich von ihm ab, belächeln und verhöhnen ihn, pisacken ihn und zuletzt, kurz vor dem Absturz oder dem Abflug wendet sich auch der Vogel in Wandlung von den Vögeln seiner Umgebung ab. Er nimmt sich das Leben, oder vertraut in sich, in Gott und die Welt, in die wenigen Menschen, die ihm geblieben sind und liebt, sie, sich, die Welt – trotz Allem.
Ich hätte es wissen müssen.
Er wollte ihr helfen, ideell und sie wuchs, fasste neuen Mut, dachte kreuz und quer und über Horizonte mit ihm hinweg. Er ist Adler, breitet die Flügel aus, reicht ihr die Hand, er glaubt an sie, wollte ihr Freund und Wohltäter sein.
Ich hätte es wissen müssen.
Zu einer Liebesbeziehung hätte es in diesem Stadium ihrer Metamorphose nicht kommen dürfen. Taube und Adler begeben sich in große Gefahr. Mit dem Liebesakt ist der Vogel in den Augen des Adlers einer von ihnen. Er hat sich doch in diesem Stadium schon vielfach bewährt, hat viele Aufgaben gemeistert, ist schon geflogen – manchmal. Der Vogel ist durch den Liebesakt aber noch lange kein Adler, denn dazu gehört weit mehr. Es ist ein Flug mit Höhen und Tiefen, mit Fortschritten und Rückschritten. Der Liebesakt ist ein auftanken auf dem Weg. Ein Liebesakt der über die Fremdliebe wieder zur Selbstliebe führt. Doch nur im Vollzug der Liebe besteht Gleichheit und Augenhöhe, das spürte sie und auch der Adler, doch beiden wollten es nicht wahrhaben, dass die Wandlung so lang dauert. Sie kennt die Adlerregeln nicht, er setzt sie stillschweigend voraus.
Ich hätte es wissen müssen.
„Ich bin noch nicht stabil genug. Jeder Windhauch haut mich um. Der Halt in mir und im Leben ist noch sehr fragil. Kann ich das überhaupt – ein Adler werden. Was gibt es da für Regeln, die es zu beachten gibt? Sie kannte sie nicht“. Der Vogel fliegt nur wenige Meter als Adler und verwandelt sich sogleich wieder zur pickenden und flatternden Taube, die am Boden scharrt, statt in die Weite zu blicken, oder fängt sich in der Luft und fliegt wieder ihren Möwenflug, den sie von Geburt an gewohnt ist, in dem sie die Regeln kennt, wo sie in sich den größten Halt findet. In Sekundenschnelle sackt sie ab, verliert an Höhe und Balance, um im nächsten Augenblick, sich erneut in die Lüfte zu schwingen und es den Adlern gleichzutun.
Ich hätte es wissen müssen.
Vögel in der Krise, auf dem Weg von Phönix, machen Fehler, wirken unsicher, irren sich zuweilen. Mentorvögel benötigen Geduld und die Größe auch in kritischen Situationen den Zögling nicht fallen zu lassen, sondern fürsorglich das lernen zu erlauben.
Ich hätte es wissen müssen.
Er hat die verlassen, wegen einer Unbedachtheit in hohen Höhen, die beide in Gefahr brachte, ohne dass sie das Ausmaß der Gefahr kannte. Er lässt sie schlagartig los, mitten in der Luft. Sie krallt sich an ihm fest, hat Angst, er wehrt sich in der Not, schüttelt sie ab. Es sieht aus wie ein Krieg, ein Kampf in luftigen Höhen. Plötzlich kämpfen sie nicht mehr gemeinsam für eine Sache, sondern gegeneinander und das eigene Überleben. Beide Vögel fallen vom Himmel.
Ich hätte es wissen müssen.
Der Adler fühlt sich durch die Unachtsamkeit betrogen und belogen, getäuscht und hintergangen. Der Vogel, der weder dies noch das ist, ebenso. Für den Adler gibt es einen Ausweg. Den bedrohlichen Vogel zu opfern und sein eigenes Leben zu retten. Er kann sich fangen, er ist ein Adler, der blitzartige Sturzflüge geübt hat - ein Leben lang...
Ich hätte es wissen müssen.
Der Absturz für Sie ist bodenlos. Der noch schwache, unstabile Vogel stürzt ab. Er konnte das Unheil nicht sehen, hat sich voll und ganz auf den Adler verlassen. Sie vertraute, gab sich ganz und gar hin, findet nun keinen Halt mehr, keinen Lehrer, der sagt was zu tun ist, wenn in 1.000 m Höhe der freie Fall droht. Der Vogel stürzt zu Boden und stirbt. Bevor er äußerlich stirbt, war er innerlich tot und hat vom dumpfen Aufprall nichts mehr gemerkt.
Ich hätte es wissen müssen.
Hätten wir den Vogel fragen können, ob er, statt zu sterben lieber wieder zu den Tauben gegangen wäre, oder zu den Möwen. Er hätte verneint, da bin ich mir fast sicher, denn fliegen war schöner und wer das nur eine einzige Sekunde seines Lebens erlebt hat, für den gibt es kein zurück.
Ich hätte es wissen müssen.
Ich hätte es doch wissen müssen, sehen können. Hätte ich der Taube helfen können? Warum habe ich von ihrem Kummer nichts bemerkt? Sie lebte doch schon wieder bei uns Möwen und ihr schien es doch wieder gut zu gehen. Der Vogel schien so stark und mutig...Gut, mit ihren Beziehungen hatte sie immer Pech und alle freuten sich die letzte Zeit über ihr neues Glück. Sie sagte nur, er sei ein großer Vogel, mehr nicht. Viele antworteten: "Du hast doch wohl einen Vogel." Warum habe ich diese Äußerungen nicht ernst genommen, sie als Bedrohung für sie wahrgenommen? Wann führte ich das letzte intensive Gespräch mit ihr? Jetzt ist es zu spät. Sie ist tot. Es ist so furchtbar.
Ich hätte es wissen müssen.
Als Möwe, die Tauben das fliegen beibringt und Möwen zu wahren Flugkünstlern begleitet, als Möwe, die seit Jahren mehr und mehr selbst eine Wandlung zum Adler durchlaufen möchte, hätte ich es doch wissen müssen... Und was bedeutet das Geschehnis für mich? Ob ich mich unter diesen Umständen, unter die Fittiche eines Adlers nehmen lasse, der mir Flugstunden geben möchte...Ich weiß es nicht. Sie kennt nur das Leben der Möwen, wird vermutlich nie eine perfekte Adlerin sein und zwischen diesen Welten ist der Abgrund. Wird Sie es wagen, hat sie genügend Selbstvertrauen? Hat der Adler Geduld mit ihr? Was daraus wird?
Alles ist möglich, alle Wege sind offen, denn Möwen können nicht alles wissen, vorhersehen, prognostizieren, berechnen, statistisch belegen. Möven sind auch nur Vögel und Vögel auch nur Menschen…
© Diotima (5/11)
Quellen der Inspiration:
Möwe Jonathan; Die Resilienzforschung,
Statistik: Die Schichten bleiben unter sich - Heirat lateral und Finanziell passend;
letztes Nachtcafe mit W. Backes http://www.swr.de/nachtcafe/index.html ,
Die Affaire von C.G. Jung und Sabrina Spielrein,
Der Suizid einer Frau in meinem Umfeld und eigene Erfahrungen mit Höhen und Tiefen, Abgründen und Aufschwüngen, Erfahrungen mit Spatzen, Tauben, Möwen, Spechten, Habichten, Geiern, Falken, Asgeiern, Adlern...
Und Sprüche wie:“ Du hast doch eine Meise. Du hast doch wohl einen Vogel.“