Des Rätsels Lösung
Das Paar saß auf der anderen Seite des Ganges im Frühabendzug. Nah beeinander, denn sie lösten zusammen das Sudoku-Rätsel der Tageszeitung. Mittleres Alter und ich schätzte, verheiratet – schon etwas länger verheiratet, denn es war eine gewohnte Vetrautheit zwischen ihnen.Ich lächelte, denn ich sah gerne ein Paar, das noch etwas miteinander machte und sich nicht, wie so oft, anschwieg.
Dann vertiefte ich mich wieder in den Leitartikel meiner Zeitschrift.
Ich horchte auf, als ihre Stimme lauter wurde. Sie insistierte offensichtlich auf eine Lösung, die er ablehnte.
...doch, das kommt da rein, ich weiß es genau...
Er flüsterte, sie beharrte mit zunehmender Lautstärke. Seine Sturheit schien stärker als ihre Argumente zu sein, und nach ein paar weiteren Sätzen, die in die müde Stille des schwach besetzten Großraumabteils knallten, verstummte sie und starrte mit versteinertem Gesicht aus dem Fenster. Er füllte unbekümmert weitere Kästchen mit Zahlen.
Also doch nicht so idyllisch, wie ich angenommen hatte – da war es wieder, das Paar-Schweigen!
Nach einer Weile brach es erneut aus ihr heraus:
... ich hatte es angefangen, und nun lässt du mich nicht mehr mitmachen... ich sitze hier in diesem öden Zug und habe nichts zu tun...das ist so typisch für dich... nein, so brauchst du mir nicht zu kommen... es ist mein Rätsel gewesen, und du hast es mir weggenommen...
Sie redete sich in Rage, seine Erwiderungen, immer noch unhörbar für mich, machten sie offensichtlich immer wütender, bis sie aufstand, sich an ihm vorbeischob und den Gang hinab lief.
Ich sah aus dem Fenster in die dämmernde Landschaft.
Ehealltag. Sinnloser Streit um eine dämliche Kleinigkeit, hinter dem man die Muster ihrer Beziehung ahnen konnte.
Wo war die anfängliche Harmonie geblieben?
Und wie würde dieser Samstagabend bei den beiden aussehen?
In wütender (bei ihr) und hilfloser oder genervter (bei ihm) Stummheit würden sie nach Hause gehen, dort in getrennten Zimmern den Abend verbringen. Er würde sich vor den Fernseher flüchten oder in ablenkende Arbeiten, sie würde sich vielleicht in einem Telefonat mit einer Freundin ausweinen.
Vielleicht würden sie weiter streiten, vielleicht flögen außer Worten auch noch Teller zu Boden.
Vielleicht ging auch einer an seinen Computer, in ein Forum, wo er mehr Aufmerksamkeit, Verständnis und Freude finden konnte als bei seinem Partner.
Meine Gedanken suchten einen anderen Ausweg aus dem Dilemma:
Was wäre, wenn er ihrer Leidenschaft, die sich im Zug in einer destruktiven Variante gezeigt hatte, seine Kraft entgegensetzen würde, wenn er anstatt stummer Passivität eine körperliche, sexuelle Handlung wählen würde?
Ich stellte mir vor, dass er ihre zornige Tirade mit einem Kuss beendete, einem kraftvollen, fordernden Kuss, der sie verstummen ließ. Dabei müsste er sie festhalten, ihre wehrenden Hände packen, sie womöglich an die Wand drücken. Vielleicht auch ein fester Griff in ihr Haar, damit sie sich seinem Mund, seinen Lippen nicht entziehen könnte. Seine Zunge, die sich um ihre windet, würde ihre Worte ersticken, in Gemurmel auflösen.
Seine Leidenschaft – und sie dürfte auch wütend sein, denn sie hat ihn im Zug bis an die Grenze genervt, auch wenn er es nicht zeigte – bräche endlich aus ihm heraus und würde etwas in ihr schmelzen lassen.
Noch im Flur würde er ihr die Jacke herunterreißen, noch immer in ihrem Mund mit seiner hungrigen Zunge, hungrig nicht nach Worten, sondern nach ihrem Speichel, ihrem weichen Inneren... bei den Blusenknöpfen würden ihre fliegenden Hände schon helfen, eine zumindest würde sich aus seinem Haar lösen, in das sie sich jetzt nicht mehr zur Abwehr krallte, und seinen suchenden Händen begegnen, damit er ihren Busen greifen konnte...
und dann wäre in ihrem Hals nur noch ein Stöhnen und keine Worte mehr...
und mit seinen Lippen an ihrer Brust- saugend, beißend, Speichel fließend- würden vier Hände zwei Hosen öffnen... ohne sich loszulassen würden sie auf zwei, drei Beinen taumelnd ihre Unterkörper freilegen, seine Hand würde ihre Schenkel suchen, die Schamlippen finden- die trockene Wut schon überspült vom feuchtem Wunsch, genommen zu werden... und ihre Hand würde sein Glied umfassen, kraftvoll und groß, und sie zöge ihn zu sich, in sich hinein...
und dann, endlich, hätte sie sein Widerwort, sein Argument, das alles schlägt, Stoß für Stoß würde er ihr jedes ihrer Worte vergelten... und sie würde es gelten lassen...
und nur noch Stöhnen und Schrei wäre das, was sie sich zu sagen hätten.
Atemlos lägen sie aufeinander.
Wortlos.
Gelöst.
©tangocleo 2011