Wortkunst
<Nachdem ich dies gestern im Wortspiel gepostet hatte, fand sich heute eine strenge Lektorin. Ihre Mühe war es wert. merci, mon amour!>Der glimme Sonnenball sank widerwillig
in den wühlenden Schlund der See
Die Riesin erhob sich noch einmal orange
schöpfte Atem und stemmte den Nacken
gegen die weiche Übermacht der Wolken
Tropfte fingrig dem Fischkutter zu
den nur eine winzige Meile
trennte vom rettenden Ufer
Man flehte um sein Leb
gab sich Got
Wilds
Irgend jemand hatte doch tatsächlich eine Ecke aus dem einzigen Exemplar des wohl wichtigsten Gedichtbands gerissen, den Sebald Schnetzger je verfasst hatte. Schnetzger schrieb mit Feder und Tinte, seine Werke erschienen ausschliesslich als Faksimile. Und nun, kurz nach seinem Tod, sollte das Werk „Geschnetzgertes“ herausgebracht werden, seine Erben reich und vor allem seinen Verleger noch reicher machen. Posthum lief immer noch besser als alles andere.
Es war schon nach acht, Lehmkötter lief in seinem Büro auf und ab wie ein neurotischer Tiger in seinem Käfig, ließ sich von seinem Assistenten bereits die vierte Zigarre anzünden und fluchte unaufhörlich, während er mit seinem grobschlächtigen Leib die Rauchwolken zerteilte, die den Raum vernebelten.
„Was zum Henker machen wir nur? Kein Schwein ist auch nur annähernd so bekifft oder besoffen, eine solch verdammte Sülze abzuseihern wie Schnetzger. Ich bin am Ende!“
„Chef, es fehlt ja nur ein kleines Stück. Wir könnten...“
„Nichts können wir, Breuer, überhaupt nichts. Erinnern Sie sich denn nicht an den zweiten Band? Ganz sanft lektoriert haben wir, ganz sanft, Schnetzger war am Ende sogar einverstanden und hat alles nochmal kalligraphiert. Und? Die Meute hat uns den Stand auf der Buchmesse angezündet. Und dann dieses bescheuerte Faksimile. Gut, heutzutage billiger herzustellen als in den Anfangstagen, aber da sieht man doch jedes Pixel. Sie müssen sich schon etwas Besseres einfallen lassen. --- Ja, genau! Wofür bezahle ich Sie? Lassen SIE sich etwas einfallen“
Breuer schluckte. Lehmkötter würde ihn rauswerfen, sollte er versagen. Das wäre allerdings die mildeste Form der Strafe gewesen, eher würde er ihn vernichten, zerquetschen, teeren, federn und so öffentlich ausstellen. Mit seinem Chef war nicht zu spaßen, das hatte er schon mehr als einmal miterlebt. Friede den armen Seelen. Genau so schlimm war, dass Lehmkötter Recht hatte. Nicht ein i-Punkt dürfte von fremder Hand sein. Niemand hatte bisher ergründen können, was die Leute an Schnetzger fanden, und so würde jede entdeckte Fälschung in die Katastrophe führen.
Lateral denken! Breuer erinnerte sich an die letzte betriebliche Fortbildung. Ein gelackter Typ mit Goldkettchen hatte davon geredet, dass der direkte Weg fast nie zum Ziel führt und von jeder Menge anderem Blabla. Nach einer halben Stunde und achtzig Folien war Breuer eingeschlafen. Die Sache mit dem lateralen Denken aber war bei ihm hängen geblieben.
Er versuchte es: Was würde Jesus tun? Nach etwa zehn Minuten, in denen sein EEG aus schnurgeraden Linien bestanden hätte, versuchte er es anders: Was würde Schimanski tun? Ja, das war es! Breuer bestellte ein Taxi und ließ sich in die verrufenste Spelunke der Stadt fahren.
In der „Breitbeinigen Gazelle“ wimmelte es von Typen in Anzügen, die teurer aussahen als Breuers neuer Audi. Trotzdem fühlte er sich unangenehm overdressed, das lag wohl an den ebenfalls anwesenden Damen, die sich aber nicht für ihn zu interessieren schienen. Nach vier Gläsern Whisky, die ihn ein halbes Monatsgehalt kosten würden, hatte er den Mut, einen der zwielichtigen Herren anzusprechen. Der Mann schien überhaupt nicht aggressiv zu sein, sondern bestellte Getränke für sich und Breuer, hörte sich dessen Geschichte in Ruhe an, nickte einige Male zwischendurch verständnisvoll und nippte an seinem Bourbon. Dann erhob er sich, um ein paar Telefonate zu führen. Breuer blieb gespannt zurück.
Nach endlosen Minuten kam der Mann wieder, den Breuer nicht nach seinem Namen gefragt hatte. Jetzt war es dafür auch längst zu spät. Er lächelte Breuer an, legte ihm einen Arm um die Schultern und zog ihn in Richtung Ausgang. Niemand fragte nach der Rechnung, zumindest eine Sorge weniger.
„Wir treffen jemanden, der dir helfen wird. Ist zwar nicht ganz mein Fachgebiet, aber ich kann dir auf jeden Fall versichern: Wenn du irgendwo, irgendwann den Mund aufmachst und über die Dinge plauderst, die du gleich mitbekommen wirst, wird man dich finden. Tot. Möchtest du lieber aussteigen?“
„Nnn..nein!“
„O.K., du gefällst mir.“
Man fuhr schweigend durch die Nacht, bis der Wagen über eine Kieseinfahrt knirschte und vor einem herrschaftlichen Jugendstilhaus stehen blieb. Breuer und sein Begleiter stiegen aus.
„Ich stell dich kurz vor, dann muss ich zurück. Das Geschäft, du verstehst.“
Der Mann betätigte einen altmodischen Türklopfer. Ein Mädchem im schwarzen Dienstbotenkleidchen mit passender Schürze öffnete. Der Mann sagte nur: „Herr Breuer wird erwartet!“ und verabschiedete sich.
Breuer ließ sich in den Salon führen und erwartete, zwischen himmelhohen Bücherregalen in einem riesigen Sessel zu versinken, bis der Hausherr ihm seine Aufwartung machte. Stattdessen blendete ihn das Neonlicht eines Computerzentrums. Verwirrt blieb er an der Tür stehen und blinzelte in das Gewirr blinkender Lämpchen und zuckender Monitore, die scheinbar wahllos auf kühlschrankgroßen Geräten herumstanden, von denen die meisten die Aufschrift 'IBM' trugen.
Nach ein paar Sekunden trat ihm ein pockennarbiger Mann entgegen, Mitte fünfzig, das strohige, lange Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein T-Shirt, bedruckt mit den Worten „Windows sucks“, spannte sich hilflos über einen enormen Bierbauch, steckte aber wenigstens seitlich in einer speckigen Jeans. Die nackten Füße waren schmutzig und ungepflegt. Der Typ streckte ihm eine nikotinvergilbte Hand entgegen. Breuer griff unschlüssig zu.
„Komm mit durch, die Verträge liegen irgendwo da hinten. Ich bin übrigens Mike.“
„Also, ...Mike“, Breuer duzte ungern, „ich bin nicht sicher, ob Sie mir helfen...“
„Spar dir die Spucke, Rocky hat mich ins Bild gesetzt. Hier, unterschreib! Allerdings...“
„Ja?“
„Lyrik ist kompliziert, das werden dann zweitausend pro Seite...“
Breuer begriff schnell, was zu begreifen war, überschlug im Kopf die Kosten und kam zu dem Schluss, dass sich das Geschäft lohnen könnte, für ihn selbst und auch für Lehmkötter.
„Wenn Sie, ich meine du, verzeihst, woher weiß ich denn, ob die, äh, Computertexte auch etwas taugen?“
„Hat dir Rocky nichts erzählt? Typisch, er ist und bleibt eine Krämerseele. Als ob jemals einer nicht unterschrieben hätte, den ich hier hineingelassen habe. Ich mach das jetzt, seit es Computer gibt, ich kann nur keine Presse dabei gebrauchen. Der Vertrag ist dann reine Formsache, sozusagen eine Gedächtnisstütze für die Kunden.“ Mike kicherte wie ein Schuljunge. „Hier, schau mal, der nächste Harry Potter. Das wird der Knaller! Die Rowling hat zwar rumgezickt, aber das mit dem Aufhören hab' ich ihr schnell ausgeredet. Paragraf 6 oder so.“
Breuer las. Der Text schien authentisch. Und er war gut! Von wegen Epilog und aus, jetzt ging es erst richtig los. Rons und Hermines Tochter stellte ihren Onkel schon im ersten Kapitel weit in den Schatten. Breuer löste sich nur ungern von dieser fesselnden Lektüre, als Mike weiter erklärte:
„Da drüben die zwei Maschinen arbeiten Tag und Nacht nur für die Pilchers. Von der Sorte stehen hier fast zwei Dutzend. Hinter dir laufen die Politikermemoiren, da reichen einfache PCs. Also, unterschreibst du? Ich denke, du willst doch wieder nach Hause?“
Breuer verstand den Blick, mit dem Mike seinen Worten jede Zweideutigkeit nahm, und fummelte einen Kugelschreiber aus seinem Jackett.
„Ich bin beeindruckt. Dennoch, wäre es möglich, dass ich vielleicht einen frischen Text, so zur Probe, ich meine...“
„Kein Problem. Was magst du denn selbst so? Oder, was kennst du am besten? Dan Brown? Guter Kunde! Schätzing? Sag was, ich hab sie alle unter Vertrag.“
Breuer überlegte kurz.
„Handke!“
Der Nerd grinste. Nach zwei Zigarettenlängen, die beide Männer schweigend damit zubrachten, dem Blick des anderen auszuweichen, sirrte ein Drucker los. Breuer begann erst auf Seite 20 zu lesen, immer noch mißtrauisch.
„Das liest sich wie ein echter Handke, alle Achtung!“
„Ich glaube, du verstehst nicht ganz. Sie sind alle hier entstanden. Peter hat in seinem ganzen Leben noch keine Zeile verfasst. Der liest das Zeug lieber vor und macht damit eine Extramark. Euro, mein ich. Ich komm' selten raus.“ Wieder kicherte Mike.
Übertrieben theatralisch holte Breuer aus und signierte den Vertrag, ohne ihn zu lesen. Welchen Unterschied hätte das auch machen sollen? Mit den Worten „Have Fun!“ verabschiedete Mike ihn in die Dunkelheit.
Breuer fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Erst gegen Mittag kam er in den Verlag. Bevor er den Mund aufmachen konnte, überfiel ihn Lehmkötter, tanzte mit ihm durch das Vorzimmer seines Büros und küsste ihn auf die Stirn.
„Wir sind gerettet, das fehlende Stück ist aufgetaucht, alles wird gut, Breuer! Die Putzfrau, ich hab sie auch gleich gefeuert, sie hat heute Morgen gebeichtet. Ich habe ein Femegericht durchgeführt, ich hätte auch gefoltert und alles, ich bin so glücklich!“
Breuer verschwamm alles vor den Augen. Nun würde er wohl das Haus seiner Großmutter verkaufen müssen, um Mike zu bezahlen. Mit dem Mut des Verzweifelten sprach er Lehmkötter an:
„Chef, ich hab mich auch umgetan, es sind Spesen angefallen, ich...“
„Breuer, Sie kennen mich doch lange genug. Ich vertraue Ihnen. Wenn Sie es für nötig hielten, dann tue ich es auch. Also, wieviel?“
„150...tausend“. Lehmkötter schluckte, sah aber merkwürdigerweise eher interessiert als wütend aus.
„Ich kann alles erklären, aber ich darf es nicht. Mein Leben hängt davon ab.“
„Nun beruhigen Sie sich erst mal, alter Freund.“
Lehmkötter ging zur Bar und schüttete beiden einen Drink ein. Er hielt Breuer ein Glas hin und sagte in ruhigem Ton:
„Ich wollte eigentlich nicht darüber reden, Sie verstehen, aber mit Schnetzgers letztem Buch „Sengende Brache“ haben wir fünf Millionen gemacht. Und heute ist mein Glückstag, das neue bringt mindestens das Dreifache. Vergessen Sie die Sache einfach.“
Breuer leerte sein Glas in einem Zug. Ihm war in diesem Augenblick erst richtig klar geworden, welche Bürde er für den Rest seines Lebens tragen würde, vielhundertmal schwerer als die eines Beichtvaters. Lesen würde ihm auch keinen Spaß mehr machen. Lyrik vielleicht, sicher war er sich aber nicht.