Hans im Glück
Hans konnte nicht genau fassen, was es war, doch ihm fehlte etwas. Langweilig war es mit Anna nicht, im Gegenteil. Sie hatten jede Menge Spaß miteinander, bei ihren Unternehmungen, ihren Reisen, ihren ruhigen Abenden zu Hause und den wilden Nächten im Bett. Dort ganz besonders. Dieses unverwechselbare Leuchten in Annas Augen, wenn sie völlig abwesend schien und Hans doch genau wusste, worüber sie nachdachte. Es brachte ihn um den Verstand, Anna wusste das genau. Sie zögerte es manchmal noch Stunden hinaus, erledigte Hausarbeiten, las oder sah fern. Sie spielte mit ihm, das war beiden klar, und es machte ihn verrückt. Anschließend war es jedes Mal aufregender als er sich hatte vorstellen können. Anna war seine Göttin.
Ob es noch andere Göttinnen gab? Wie sollte Hans das wissen? Anna war für ihn die erste Frau, und er für sie der erste Mann gewesen. Es gab Momente, in denen sagte er sich: „Drei Löcher Maximum, was soll noch großartig kommen?“ und erschrak über sich selbst. An solchen Tagen war er besonders liebevoll, aufmerksam und zärtlich zu Anna, als ob er damit seine hässlichen Gedanken wiedergutmachen wollte.
Eigentlich hätte er mit ihr darüber sprechen sollen, sprechen müssen, sprechen können. Für diese Einsicht brauchte er keine Lebenshilfebücher oder Psychologen. Anna hätte ihn wohl zuerst ausgelacht, dann aber lange mit ihm geredet. Über ihre Liebe, ihren Sex, ihre eigene dunkle Seite vielleicht. Mit ihr konnte er über alles reden, das war unglaublich schön. Sie hatte für alles Verständnis, hörte sich ruhig an, was er zu sagen hatte, fiel ihm nicht ins Wort. Sie hatte „ein großes Herz“, wie Hans Mutter immer sagte. Damit hatte sie recht, obwohl es ihn auch ein wenig ärgerte. Es hörte sich für ihn immer etwas dümmlich an, und dumm war Anna nicht, ganz im Gegenteil.
Er konnte nicht mit ihr sprechen. Wollte es nicht, bevor ihm selbst halbwegs klar wäre, was in ihm vorging. Nicht, bis er sicher war wie er antworten würde, wenn Anna einfach sagte: „Tob dich ruhig aus, wenn keine Liebe ins Spiel kommt.“ Oder ob sie heulend wegliefe und er sie nie wiedersehen würde? Weil er mit solchen Gedanken, bei allem Verständnis füreinander, eine Grenze überschreiten könnte, von der er bisher nichts geahnt hatte? Er hatte Angst.
Die Gedanken verschwanden nicht, sondern drängten sich immer wieder in sein Bewusstsein. Er überlegte, wendete die Dinge hin und her und kam doch nicht weiter. Eines Tages schloss er einen Pakt mit sich selbst ab: wenn sich ihm eine Gelegenheit bieten würde, mit einer anderen Frau Sex zu haben, ohne von sich aus etwas dazu getan zu haben, würde er sich darauf einlassen. Einmal. Es ausprobieren, endlich wissen, wie es sich anfühlte, endlich die nagenden Teufel aus seinem Kopf verscheuchen können.
Es war schon verrückt. Seit er diesen Eid geleistet hatte, konnte er beinahe so unbeschwert mit Anna umgehen wie in all den Jahren zuvor. Es gab aber auch Veränderungen. Wenn ihm früher eine schöne Frau über den Weg lief, hatte er sie sich gut angesehen, sich ausgemalt, wie es mit ihr wäre, manchmal sogar, ob er sie lieben könnte. Jetzt schaute er nur kurz hin, übertrieb für sich irgendein Detail an ihrem Aussehen, ihrer Kleidung oder ihren Bewegungen, das ihm nicht gefiel, und dachte nicht weiter über sie nach. Das jedenfalls versuchte er sich einzureden.
Irgendwann fiel es sogar Anna auf. Sie fragte ihn bei einem Spaziergang ganz unverblümt: „Was ist los mit dir? Früher musste ich dir fünfmal am Tag die Stielaugen in den Kopf zurückdrücken, damit du nicht irgendwo damit anstößt.“ Er antworte lachend, aber ohne ihr ins Gesicht zu schauen: „Ich hab eben nur Augen für dich, mein Engel.“ Anna war damit zufrieden, Hans aber erneuerte seinen geheimen Pakt.
Ein paar Tage später besuchte Hans seine Großmutter im Seniorenheim. Das war für ihn keine Pflichtübung, im Gegenteil. Er freute sich immer schon Tage vorher darauf. Oma war inzwischen 87 Jahre alt, hatte ein bewegtes Leben hinter sich und konnte zu jedem Thema herrliche Anekdoten erzählen, wenn man ihr nur ein passendes Stichwort gab. Hans liebte sie innig. Sie war ihm näher als seine Eltern, die ihn in seiner Kindheit so oft es ging zu ihr abgeschoben hatten, um sich um ihren Beruf und ihre Hobbies zu kümmern.
Anna war ab und an zu den Besuchen mitgekommen. Oma war von ihr begeistert und behauptete, sie erinnere sie an sich selbst in ihrer Jugend. Wenn Hans allein bei ihr war, drehten sich die Gespräche in letzter Zeit immer weniger um Erlebnisse, sondern um Gefühle. Die beiden plauderten nicht, sie philosophierten. Hans hatte den Eindruck, dass Oma die Bilanz ihres Lebens zog und ihm als Vermächtnis mitgeben wollte. Ihr ging es seit einiger Zeit immer schlechter, sie schlief viel, sprach auch vom Tod. Hans hörte ihr dankbar und interessiert zu, gab ihr sanfte Hinweise, wenn sie zwischendurch den Faden verlor, und saugte ihre Worte in sich ein, um sie nie zu vergessen.
Der letzte Besuch hatte Hans in einer Mischung aus Traurigkeit und Lebenshunger hinterlassen. Oma hatte ganz direkt, fast zornig, über verpasste Chancen in ihrem Leben gesprochen. Sie bereute vieles, das sie nicht erlebt hatte, aber nichts von dem, das ihr widerfahren war, im Guten wie im Bösen. Sie sparte auch die Erotik nicht aus, erzählte vom Krieg, der bei allem Grauen für viele Frauen auch ein wenig sexuelle Befreiung mit sich gebracht hatte, bevor in den Fünfziger Jahren alles in piefige Monotonie zurückfiel. Auch, wie gerne sie selbst sich immer an manches aufregende Schäferstündchen erinnert hatte, während sie Opa, das Haus und die Kinder versorgte und sich halb scherzhaft einredete, die Langeweile sei ihre persönliche Strafe für den verlorenen Krieg.
Jetzt hätte Hans mit ihr über seine quälenden Gedanken sprechen sollen. Er wartete darauf, dass Oma ihm gestand, Opa untreu gewesen zu sein. Dann hätte er sie gefragt, aber das Wort fiel nicht.
Als er jetzt in ihr Zimmer kam, lag sie in tiefem Schlaf. Er hatte versucht, sie anzurufen bevor er losfuhr. Als sie nicht an den Apparat ging hatte er angenommen sie sei beim Essen. Dass sie zur vereinbarten Zeit schlief war noch nicht vorgekommen. Hans machte sich Sorgen, setzte sich an ihr Bett und klingelte nach der Betreuerin.
Ein paar Augenblicke später kam eine Frau ins Zimmer, eine von denen, die Hans am liebsten nicht lange ansah. Er kannte sie nicht, sie musste wohl neu sein. Sie stellte sich als Barbara vor und fragte ihn, womit sie helfen könne. Hans berichtete von den Sorgen, die er sich um seine Großmutter machte. Sie werde immer schwächer und er fürchte, dass es mit ihr zu Ende gehen könnte.
Barbara fing an zu lachen, besann sich aber schnell auf die schlafende Frau und sagte mit gedämpfter Stimme: „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Ich will nicht gerade behaupten, dass sie einen Rausch ausschläft, aber sie hätten sie gestern bei unserem Tanzabend sehen sollen. Ich tippe eher darauf, dass sie Kraft für heute Abend sammelt. Wir werden zwar nur Karten spielen, aber ihr Schwarm wird da sein, das genügt ihr.“ Hans war wie vor den Kopf gestoßen. Nach einigen Sekunden des Nachdenkens musste er dann aber doch schmunzeln. Oma war einmalig.
Unterdessen hatte Barbara sich zu ihm gesetzt und redete, jetzt flüsternd, weiter: „Wenn sie sich schon Gedanken machen wollen, dann eher um mich. Dieser Beruf lässt einem eh schon kaum Freizeit, aber hier hätte man wohl am liebsten, dass man vierundzwanzig Stunden im Haus ist. Da bleibt nicht viel Privatleben. Ich könnte genau so gut in einem der freien Zimmer schlafen.“ Mit dem letzten Wort legte sie ihm ihre Hand auf den Oberschenkel, strich sanft darüber und sah ihn vielsagend an.
Hans machte keine Anstalten sich ihr zu entziehen, sondern schloss die Augen und lehnte sich im Stuhl zurück. Barbara machte weiter, ließ ihre Hand zu seinem Knie hinunter und wieder hinauf zu seiner Hüfte wandern, berührte ihn endlich wie zufällig. Hans öffnete seine Augen. Barbara ergriff entschlossen seine Hand und zog ihn aus dem Stuhl. „Komm!“ hauchte sie ihm ins Ohr und hakte ihn unter. Sie blieb dabei, als sich zeigte, dass niemand auf dem Gang war. Sie dirigierte ihn zu einem Zimmer am Ende des Flurs und öffnete die Tür. Dann drehte sie sich um, schlang ihm ihre Arme um den Hals und küsste ihn im Rückwärtsgehen leidenschaftlich.
Sie hatten kaum die Tür hinter sich geschlossen, als der Feueralarm losschrillte. Nach einer Schrecksekunde rief Barbara laut „Verdammt!“ und begann damit, eine Tür nach der anderen aufzureissen, um vielleicht einen Brandherd zu entdecken. Hans schloss sich ihr an, bugsierte gemeinsam mit ihr die inzwischen verwirrt herumlaufenden alten Leute zum Treppenhaus und schickte sie nach unten. Auf dieser Etage war kein Feuer zu entdecken, und so machten sich die beiden etwas weniger hektisch daran, drei gehbehinderte Patienten in ihren Betten zum Treppenhaus zu schieben, wo sie nach kurzer Zeit von Feuerwehrleuten in Empfang genommen und hinuntergetragen wurden.
Als sie endlich selbst das Gebäude verlassen konnten, stand das Dach bereits in hellen Flammen. Von allen Seiten rasten weitere Rettungskräfte heran, Sanitäter kümmerten sich um die alten Leute, von denen einige weinten oder hysterisch schrien. Die bettlägerigen Patienten wurden schliesslich mit Krankenwagen abtransportiert, alle anderen sollten mit einem Bus in ein Notquartier gebracht werden. Hans fand seine Großmutter wieder, die nicht nur sehr gefasst, sondern gerade dabei war, einem Zivildienstleistenden das Kommando über den Bus abzunehmen. Hans hatte einige Mühe sie zu überreden mitfahren zu dürfen. Barbara hatte er längst aus den Augen verloren.
Die Fahrt ging über die Autobahn zu einem etwas abgelegenen Tagungshotel, das am Wochenende nur wenige Gäste hat. Dort angekommen umrundete Oma zielstrebig die Rezeption, drängte die protestierende Empfangsdame zur Seite und begann damit, Zimmerschlüssel auszuteilen. „Fahr nach Hause, Junge, ich kann mich im Moment ja doch nicht um dich kümmern. Laß Anna nicht warten.“
Er blieb noch einige Zeit unschlüssig in der Halle stehen, verabschiedete sich dann aber doch von seiner Großmutter. Bei der Umarmung flüsterte sie ihm zu: „Für mich werde ich ein Doppelzimmer nehmen, hihi.“ Hans ging kopfschüttelnd durch die Drehtür nach draußen.
Erst nach einigen Schritten auf den Parkplatz zu wurde ihm bewusst, dass sein Wagen am Seniorenheim stand und er ein Taxi brauchte. Wenige Sekunden später dann, dass sein Handy auf Omas Nachttisch lag. Wenn er zurückginge, um vom Hotel aus anzurufen, wäre Oma bestimmt beleidigt. Sie würde sich kontrolliert fühlen, wenn er wieder auftauchte.
Hans setzte sich auf den Rand eines Blumenkübels, stützte den Kopf in die Hände und grübelte. Ein Teil von ihm war erleichtert, dass mit Barbara nicht mehr passiert war, ein anderer wollte sie riechen, fühlen, schmecken, war fasziniert von dem aufregenden Gefühl, sich einer Fremden hinzugeben. Er dachte auch darüber nach, wie er sich verhalten würde, wenn er sie wiedertreffen sollte, kam aber zu keinem Ergebnis.
„Gestrandet?“ Eine weibliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Hans blickte auf, konnte aber nicht mehr erkennen als eine Silhouette, deren schlankes Beinpaar im Gegenlicht der Sonne von einem luftigen Sommerkleid umspielt wurde.
Fortsetzung folgt