das ist ein überfall
An diesem Nachmittag war Jill kurz nach Feierabend noch schnell zu der kleinen Bankfiliale an der Steinstraße gegangen. Ihren Sohn Tommy hatte sie rechtzeitig von der Grundschule abgeholt und mit Ermahnungen und Butterbroten vor dem Fernseher zurückgelassen, um nur schnell die Papiere abzugeben und sich bestätigen zu lassen, dass sie endlich Online Banking machen konnte. Blöderweise ging das nicht per E–Mail. Ungeduldig stand sie in der Warteschlange vor dem ersten Schalter, sah mit an, wie es beim zweiten plötzlich viel schneller ging und versuchte dem Drang zu widerstehen, ihre Nägel zu kauen. Auf einmal entstand ein Tumult am Schalter drei, der alle den Kopf wenden ließ. Ungläubig starrte Jill auf den maskierten Mann, der mit etwas in der Hand herumfuchtelte, das stark nach einem Revolver aussah, wie sie ihn aus dem Kino kannte. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss, galt Tommy. Er erwartete sie zurück, bald. Sie hatte keine Zeit für so einen Blödsinn.
„Das ist ein Überfall! Alles ruhig bleiben, dann geschieht euch nichts.“, schrie der Mann, dem sich nun alle zuwandten. Echt wie in einem Thriller. Eigentlich hatte Jill aber von einem modernen Bankräuber etwas anderes erwartet, als diesen klischeehaft schwarz gekleideten Mann mit Skimaske über dem Gesicht, der auswendig gelernte Sätze schrie. Was für ein Amateur!
Nun sah sie, dass es mehrere waren, noch drei, in ihrem schwarzen Outfit gleich aussehende Männer mit der Waffe im Anschlag waren zu dem ersten hinzugestoßen, und hielten die ungefähr ein Dutzend Bankkunden und 3 Angestellten in Schach. Zwei bewachten den Eingang, an dem sie wahrscheinlich ein „Geschlossen“ –Schild angebracht hatten, während einer von ihnen, der größte und schmalste der Truppe, mit zwei großen Reisetaschen in den Händen zielstrebig auf den Schalter zuging, vor dem der Mann, der gerufen hatte, nervös seine Waffe schwenkte. Der Größere war eindeutig der coolere von beiden, dem ersten sah man förmlich an, wie er unter seiner Maske schwitzte.
Wortlos hielt der, den Jill als Anführer identifizierte, seine Pistole, die eher klobig wie eine abgesägte Flinte aussah, vor die Scheibe in Höhe des Kopf des Jungen dahinter, der sich mit zitternden Händen seine Krawatte zu lockern versuchte, bevor er beide in die Luft streckte. Der Mann deutete auf die Tür gleich neben dem verglasten Schalter und stellte sich mit der Tasche dorthin, sobald der Junge kapiert hatte.
Alle wartenden Kunden in der Eingangshalle wurden in eine Ecke zusammen getrieben und von den anderen drei Maskierten in Schach gehalten, während der Anführer mit der Tasche darauf wartete, dass diese gefüllt wurde. Er war nicht in den Hinterraum mitgegangen, sondern stand kühl mit gekreuzten Armen wartend da. Jill war überzeugt, er hatte alles im Blick. Sie überlegte, wie sie aus dieser Situation möglichst schnell und unbeschadet herauskommen könnte. Die anderen Bankkunden waren verängstigt und panisch, eine Frau wimmerte, ein großer, muskulöser Mann hatte sich, als er unsanft an die Wand gedrängt wurde, auf die Knie geworfen und gebettelt „Tun sie mir nichts, ich habe Kinder, bitte...“
Jill hatte dafür keine Zeit und keine Lust. Als sie sich streckte und dem Typen gegenüber trat, der die Menge schweigend, aber bedrohlich zusammen gescheucht hatte, dachte sie nicht an die Gefahr, es erschien ihr geradezu lächerlich, was da ablief.
„Lassen Sie mich bitte nach Hause gehen. Ich werd´ still und leise verschwinden und kein Aufheben machen, ich verspreche es. Mein Sohn ist allein zuhause und wartet auf mich. Ich muss gehen. Ich sag auch bestimmt niemandem etwas.“
Sie hielt sich an ihrer Schultertasche fest und lächelte den Maskierten so freundlich wie möglich an, doch als sie einen weiteren Schritt auf ihn zuging, flippte er aus.
„Zurück! In eine Reihe mit den anderen. Mund halten und keine Zicken jetzt!“, schrie er und zog mit nervösen Bewegungen die Waffe hoch. Er fuchtelte dermaßen damit herum, dass Jill fürchtete, es könnte aus Versehen ein Schuss los gehen und zurücktrat. Doch so schnell wollte sie nicht aufgeben. Sie sah zu, wie der dritte Mann durch die heruntergelassenen Jalousien nach draußen blickte, und dann eindeutig gestresst dem Anführer Handzeichen machte. Der ließ sich nicht beirren, scheuchte den Jungen aber doch an, sich zu beeilen.
„Los, mach schon, wir haben keine Zeit, drauf zu warten, bis du alles gezählt hast. Schmeiß rein, was du findest, Währung egal.“
Der Typ war eiskalt. Die Art, wie er redete, sich bewegte, seine langen Beine entspannt ausstreckte, als er sich an die Tür lehnte, war imponierend. Durch die Schlitze in seiner Maske sah Jill seinen Blick ruhig zwischen dem Jungen und den in der Ecke hockenden Menschen hin und her wandern.
Jill stand vor den anderen Leuten, wenige Meter vor dem Nervösen, den sie insgeheim Stressy zu nennen begann, und dessen Waffe sehr locker zu sitzen schien. Sie überlegte verzweifelt, wie sie hier rauskommen konnte. Einerseits wünschte sie, dass die Räuber einfach abhauten, mit allem, was sie wollten, um bloß schnell hier raus zu können, andererseits wusste sie aber auch, dass es länger dauern würde, wenn die Polizei sie vernehmen würde. Am schlimmsten wär´s natürlich, wenn die Polizei jetzt käme und man sie alle als Geiseln hierbehalten würde.
Jill fing den Blick des Anführers auf, der sie interessiert anzustarren schien – durch die Sehschlitze der Skimaske war jedoch schwer zu erkennen, ob seine hellen Augen sie beobachteten oder zurechtweisen wollten. An ihn müsste sie sich wenden, wenn sie etwas erreichen wollte, die anderen hatten nichts zu sagen. Mr Big, das war ein guter Name für ihn. Sie lächelte ihn an, was nur bewirkte, dass die Augen selbst zu Schlitzen wurden, doch sie wagte es, einen Schritt nach vorn zu gehen, auf ihn zu, Stressy ließ sie links liegen. Sie machte den Mund auf, um etwas Beschwichtigendes, Diplomatisches zu sagen.
Doch in diesem Moment rief der Mann, der an den Fenstern Wache hielt: „Mist, die Bullen – der Kleine muss den Alarm ausgelöst haben. Was jetzt?“
Stressy hätte fast in die Luft gefeuert und rannte vor der verängstigten Menschengruppe hin und her, der andere, etwas dickliche, lief ebenfalls zum Fenster, sah raus und nickte dann stumm Mr Big zu, der nur seufzte. Jill staunte. Er seufzte, drückte sich gemächlich von der Tür ab und ging langsam auf den jungen Angestellten zu, der, wie Jill jetzt durch die Tür sehen konnte, auf den Knien hastig Geldscheine in die schon fast überquellenden Taschen stopfte. Mit seiner abgesägten Flinte am Kopf des jungen Mannes beugte er sich zu ihm und flüsterte ihm etwas zu. Der Junge schüttelte heftig den Kopf und konnte damit gar nicht aufhören, auch nicht, als Mr Big ihn am Kragen packte und hochzog.
Er schubste den Jungen wortlos an den Schreibtisch zurück und nahm die Taschen. Ganz in Ruhe schloss er den Reißverschluss an beiden, bevor er damit in den Schalterraum zurückkam.
„Ruhe bewahren, Leute. Wir machen das schon – wir haben das Geld, denkt nur daran.“
Dann drückte er die Geldtaschen dem Mann in die Hand, der am ruhigsten schien, der Schmiere gestanden hatte, und sah durch die Jalousienschlitze. Jill versuchte, eine Emotion aus seiner Haltung abzulesen, auch ein Mr Big müsste jetzt mal langsam in Panik geraten, stattdessen stützte er sein Kinn in eine Hand und überlegte, bewegungslos wie eine Statue. Das war ihr Moment.
„Hören Sie. Wir wollen hier alle nur so schnell wie möglich raus. Sie wollen mit der Beute verschwinden, ich muss nach Hause.“
Beide Hände nach vorn ausgestreckt ging sie langsam auf die Gruppe Männer zu, die sich sprungbereit wie Hyänen mit ihren Gewehren in den Händen vor ihr aufbauten. Bis auf den Anführer, der sich nicht rührte.
„Maul halten. Zurück zu den anderen, wird´s bald.“, schrie Stressy mit sich überschlagender Stimme.
„Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen. Lassen Sie uns gehen, oder zumindest ein paar von uns. Geiselnahme wird härter betraft als bloßer Raub. Verhandeln Sie mit ihnen. Zeigen Sie guten Willen, dann kommen Sie hier vielleicht…“
Der übernervöse Stressy hielt´s nicht aus, ging auf sie zu und holte aus, versetzte ihr einen Schlag mit der Faust an die Stirn, der sie zu Boden warf. Schockiert und überrascht von dem plötzlichen Schmerz lag Jill vor ihm und versuchte, einen klaren Kopf zu behalten, denn der Typ schien noch mal auf sie losgehen zu wollen. Doch bevor er nach ihr treten konnte, wurde er plötzlich von hinten festgehalten. Mr Big hatte sich dazwischen geworfen, packte den Arm mit dem Gewehr und entriss dem Mann die Waffe. Jill legte schützend einen Arm vors Gesicht, jetzt würde er sicher gleich auf sie zielen, dachte sie, doch nichts passierte.
„Ganz ruhig.“, sagte der Große zu dem Schwein, dem es sichtlich peinlich war, vor allen so zurechtgewiesen zu werden. „Das lässt du schön bleiben, verstanden. Wenn ich noch einmal sehe, dass du die Nerven verlierst, bist du raus aus der Sache.“
Mr. Bigs Stimme klang so vernünftig und autoritär, dass Stressy ohne Gegenwehr seine Waffe wieder verstaute und mit gesenkten Schultern stehen blieb, ja, er sah fast aus, als würde er sich gleich bei Jill entschuldigen. Dann streckte Mr Big eine Hand nach ihr aus. Verwirrt starrte Jill darauf, bis ihr klar wurde, er wollte ihr aufhelfen. Sie nahm die Hand nicht, sondern kroch ein Stück zurück und kam aus eigener Kraft auf die Füße, obwohl ihr Kopf pochte und ihr schwindlig wurde.
„Gehen Sie zu den anderen. Es wird Ihnen nichts geschehen. Aber wie es aussieht, kann ich Sie leider noch nicht gehen lassen.“, sagte er, seine Stimme war freundlich und ruhig, aber Widerspruch war ausgeschlossen.
Er schien sie anzulächeln, aber es konnte auch ein hämisches Grinsen sein, die Maske bedeckte zu viel. Sie sah zwar nicht mehr als seine grauen Augen hinter dunklen Wimpern, ein Stück buschige Augenbrauen und helle Haut, doch die Augen schienen zu lächeln. Jill wusste, sie würde diese Augen wiedererkennen, in jedem Gesicht, doch das durfte er nicht wissen. Also schaute sie zu Boden, beschämt, hoffte sie. Eine ältere Frau, eine Kundin, die vor ihr gewartet hatte, nahm Jill in die Arme und besah sich die blutende Stelle an ihrer Schläfe, doch Jill war zu aufgebracht, den Schmerz lange als störend zu empfinden. Sie musste hier weg, egal wie.
Mr Big gab sich nicht weiter mit ihr ab, schubste seinen Kumpel zu den anderen zurück und unterhielt sich im Flüsterton mit ihnen. Anscheinend gab er Befehle. Der ruhigere, der die Polizisten draußen bemerkt hatte – Jill fing an ihn Ede zu nennen, in Gedanken, da er Schmiere stand und ihr der Name passend erschien – löste sich von der Gruppe und bezog einen Platz bei den Kunden, von wo aus er alles im Blick hatte. Er sah den jungen Angestellten böse an, dem sie das Drama wohl zu verdanken hatten, und der sah aus, als ob er sich gerade in die Hosen machte.
Der vierte Mann, der zuerst geredet hatte, war der muskulöseste, ein untersetzter, breiter Typ, aber auf den zweiten Blick ohne ein Gramm Fett zu viel. Rambo taufte Jill ihn. Er schnappte sich die Taschen und setzte sich damit in die Nähe des Ausgangs. Wollten sie einen Ausbruch wagen? Jill verstand nicht, was sie vorhatten, alles schien vorbei zu sein. Wie wollten sie da lebend rauskommen? Und Tommy wartete zuhause auf sie. So lange hatte sie ihn noch nie allein gelassen. Wenn sie nur telefonieren könnte, dann würde sie die Nachbarin fragen... Aber halt. Sie hatte doch ihr Handy in der Handtasche. Ohne zu zögern griff sie danach, doch sobald sie mit dem Rücken zum Geschehen die Nummer wählte, fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter.
Ede, dessen schwarze Augen ihn südländisch wirken ließen, stand hinter ihr und schüttelte bestimmt den Kopf. Dann nahm er ihr das Handy aus der Hand, mit seiner anderen den Revolver auf sie gerichtet.
„Aber… bitte, lassen Sie mich nur kurz Bescheid sagen. Sie verstehen nicht, mein Sohn wartet auf mich. Ich kann ihn nicht länger allein lassen. Wenn Sie mich nicht gehen lassen, muss ich zumindest kurz telefonieren. Bitte!“
Sie flehte ihn mit dem süßesten Blick an, den sie zustande bekam, doch Ede hörte gar nicht zu und steckte ihr Handy in seine Hosentasche. Er lief unbeirrt zurück zu einem Bewacherposten, doch Jill wollte sich das nicht gefallen lassen.
„Was soll denn das? Was haben Sie vor, denken Sie wirklich, man lässt Sie so einfach gehen, wenn man erfährt, wie Sie die Leute hier behandeln? Lassen Sie mich telefonieren. Oder lassen Sie uns gehen. Dann wird man bereit sein, sich Ihre Forderungen anzuhören. Seien Sie doch vernünftig!“
Drei der Männer waren zu verwirrt von ihrem Verhalten, um sie anzuschreien oder sie aufzuhalten, als sie im Reden nach vorne lief, nicht Ede und ihrem Handy nach, sondern auf den einzig vernünftigen Menschen hier zuging. Mr Big grinste amüsiert, sie sah es an seinen blitzenden Augen. Auch er hielt sie nicht auf, bis sie vor ihm stand. Stressy hielt seine Waffe im Anschlag auf sie gerichtet, wartete aber ab, was sein Boss tun würde. Jill war selbst gespannt, sie musste den Überraschungsmoment nutzen.
„Hören Sie – draußen stehen mehr Polizisten als hier Menschen sind, richtig? Die werden Sie niemals einfach gehen lassen – Sie sitzen in der Scheiße. Ihre einzige Chance ist es, zu verhandeln, und Ihr wertvollstes Argument sind wir, die Geiseln. Stimmt´s?“
Dieser Mann war unter Drogen oder völlig lebensmüde. Er betrachtete sie ruhig, als ob sie sich ihm gerade beim Straßenstrich anbot, von oben bis unten und wieder hoch, ganz langsam wanderten seine Augen über ihren Körper – sie hatte sich nach der Arbeit nicht umgezogen und trug einen kurzen Blazer über hautengen Jeans, selbst mit ihren hohen Schuhen überragte Mr Big sie um mehr als eine Kopflänge. Jill schoss das Blut in den Kopf, als er sie weiter unverhohlen und mit eindeutigem Grinsen ansah.
Dann stand er aus seiner relaxten Position am Fenster auf, stellte sich vor sie, so nah, dass sie seinen Atem auf ihrem Gesicht spürte und sagte leise, aber bedrohlich:
„Wir wissen was wir tun, Gnädigste. Sie scheinbar nicht. Gehen Sie zurück zu den anderen. Wenn Sie uns noch einmal belästigen, werd ich unseren Freund hier bitten müssen, auf Sie ganz besonders aufzupassen.“
Jill atmete heftig aus, genervt und verzweifelt. Was sollte sie denn noch alles tun, was konnte sie tun?
„Das ist mir egal. Sie müssen mich mit jemandem telefonieren lassen. Mein Sohn ist erst 5. Können Sie sich vorstellen, was der tut, wenn er Angst hat, dass seine Mutter nicht nach Hause kommt? Ich werde abhauen, ich werde es versuchen, immer wieder. Verstehen Sie doch, ich kann nicht hierbleiben!“
Zum ersten Mal schien der coole Mr Big auf einmal seinerseits verwirrt. Er sah sie weiter an, schüttelte dann verständnislos den Kopf und brummte, während er sie an den Schultern packte und zu den anderen drehte:
„Sie verstehen scheinbar nicht. Dafür hab ich jetzt keine Zeit. Wir müssen hier unsere Haut retten, ich will keinen Mucks mehr von Ihnen hören.“
Damit schubste er sie nach vorne, wo Ede sie in Empfang nahm.
„Das wird Ihnen noch Leid tun!“, rief Jill, was Stressy scheinbar ein Wort zu viel war.
„Halt jetzt die Klappe oder ich muss sie dir stopfen, verdammte Scheiße. Du dämliche Fotze bringst alles durcheinander. Chef, wenn sie noch einmal den Mund aufmacht, kriegt sie von mir eins auf die Fresse, ich schwör´s! Wir müssen hier raus, Mann. Schießen wir uns den Weg frei, mit den Leuten vor uns schießen die nicht zurück, was meinst du, Chef?“
Während er noch herumschrie und fuchtelte, klingelte auf einmal das Telefon an einem der Schalter. Niemand bewegte sich. Mr Big hielt seine Männer mit einem Blick in Schach, der wohl so viel wie `Ruhe bewahren` bedeutete. Das war Jills Chance.
Sie stürzte in den Raum hinter den Schaltern, in denen offene Geldschränke und rausgerissene Schubladen die Panik der Angestellten bewiesen – von den Räubern war keiner hier gewesen. Ohne nachzudenken nahm sie das Telefon in die Hand und rief: „Ja, Hallo?“
„Hier spricht die Polizei, Kommissar Eichler am Apparat.“, konnte Jill verstehen, dann sah sie auf und genau in die grauen Augen von Mr Big, der in der Tür stand und seinen Männern, die hinter ihm reinzudrängeln versuchten, den Weg versperrte. Er sah böse aus, atmete tief ein und kam auf sie zu, nachdem er mit einer Handbewegung den anderen zu verstehen gegeben hatte, dass er sich darum kümmerte. Jill war nicht sicher, ob sie gerade einen großen Fehler gemacht hatte, aber Mr Big tat ihr nichts. Er stellte sich nur neben sie und drückte den Lautsprecherknopf an der Telefonbasisstation.
„Hören Sie mich?“, fragte der Kommissar.
„Ja, ich bin da. Ich heiße Jill Brenner, ich bin eine der Geiseln.“
Sie hörte aufgeregtes Flüstern an ihrem Ohr, das über den Lautsprecher als zischendes Gemurmel den Raum erfüllte. Alle anderen Anwesenden waren mucksmäuschenstill und erwarteten gebannt, wie es weiter gehen würde. Jill mochte es nicht, so im Mittelpunkt zu stehen. Daher klang ihre Stimme wohl eher genervt als gehetzt oder gestresst, als sie weiterredete:
„Der Anführer der Männer, die die Bank überfallen haben, steht neben mir. Ich kann vermitteln. Sagen Sie mir, was Sie vorhaben.“
Mr Big setzte sich auf den Rand des Schreibtischs direkt neben sie und nickte. Was würde er wohl tun, wenn ihm nicht passte, was sie sagte, fragte sich Jill. Wie zufällig berührte seine Hand ihr Bein, als sie sich konzentrierte, um zu verstehen, was Kommissar Eichler jetzt sagte.
„Frau Brenner, hören Sie zu. Wir haben alle Ausgänge besetzt, der Fluchtwagen ist uns entkommen, aber der kommt nicht weit. Können Sie mir sagen, mit wie vielen Männern wir es zu tun haben und wie sie bewaffnet sind?“
Mr Big schüttelte den Kopf und hob den Finger wie ein tadelnder Vater. Seine Augen sagten deutlich, dass er nicht einverstanden war und Jill antwortete:
„Sie können nicht erwarten, dass ich Ihnen solche Infos ohne einen Gegenbeweis dafür liefere, dass sie den Leuten hier eine Chance geben. Was stellen Sie solchen Informationen gegenüber, Herr Kommissar?“
Jill wuchs um einige Zentimeter, als Mr Big nach diesen Worten wohlwollend nickte. Er rückte noch ein wenig näher zu ihr, sie spürte seine Körperwärme und presste den Hörer völlig unnötigerweise an ihr Ohr.
„Frau Brenner, werden Sie bedroht? Sind Sie oder ist eine der anderen Geiseln verletzt?“
„Nein, alles ist glimpflich über die Bühne gegangen. Man behandelt uns…“ Sie sah Mr Big an, während sie im Kopf nach dem richtigen Ausdruck suchte: „…mit Respekt.“
Mr Bigs Hand lag nun auf ihrem Unterarm, der nicht das Telefon hielt. Langsam ließ er sie nach oben wandern, sanft, kaum spürbar, aber sein intensiver Blick ließ sie zittern und sie spürte, wie sie Gänsehaut bekam. Nicht vor Angst.
„Frau Brenner, kann uns der Anführer sagen, was er will? Was sind die Forderungen? Wie sind ihre Pläne?“
„Die Männer wollen hier unbehelligt verschwinden können, Herr Kommissar. Das ist doch klar. Sorgen Sie für einen vollgetankten Wagen vor der Tür, dann wird hier niemandem etwas geschehen. Wir wollen doch alle nur nach Hause.“
Jill wusste, dass ihr Blick nun flehentlich auf das halbverdeckte Gesicht dieses Mannes vor ihr gerichtet war, vor dem sie sich hätte fürchten müssen. Sie hatte keine Ahnung, wer er war, warum er das Alles tat, wie er reagieren würde, wenn sie etwas Falsches tat. Doch auf eine seltsame Weise hatte sie den Eindruck, ihn zu verstehen, zu wissen, dass er nicht wirklich schlecht war, dass Umstände ihn zu diesem kriminellen Handeln zwangen, die er nicht unter Kontrolle hatte. Er wollte die Sache schnell, ohne Komplikationen hinter sich bringen – genau wie sie.
Seine Hand war an ihrer Schulter angelangt und die Finger begannen, mit einer Locke zu spielen, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte. Seine Augen sahen auf die Strähne, dann hoch in ihre Augen. Sein Blick funkelte auf geheimnisvolle Weise. Jill fand nicht so schnell Worte dafür, das zu beschreiben, was da gerade passierte. Beide horchten sie auf die gedämpften Stimmen aus dem Lautsprecher und dem Gemurmel hinter ihnen, wo Mr Bigs Komplizen immer unruhiger wurden, während sie sich ansahen. Sie verstanden sich scheinbar ohne Worte.
Jill erwartete eigentlich Anweisungen, Hilfestellung für ihre selbstgewählte Aufgabe als Vermittlerin, wofür sie sich in den Hintern treten sollte. Das mit dem Wagen hatte sie aus Krimis – sie las gerne Romane und die ganze Situation erinnerte sie an so manchen Hollywood-Streifen, den sie gesehen hatte, ohne den Realitätsbezug in Frage zu stellen. Es fühlte sich so unwirklich an, plötzlich selbst in dieser Lage zu sein. Aber sie war ganz ruhig, und sie spürte, dass der Mann vor ihr daran Schuld war. Er strahlte diese Ruhe aus, Gelassenheit, egal, was noch passieren würde, auf ihn könnte man sich verlassen, er würde sie nicht im Stich lassen, ihr nie weh tun.
„Frau Brenner, sagen Sie dem Anführer, dass ich mit ihm persönlich sprechen will.“
Jill hielt Mr Big den Hörer hin, froh, dass sein zärtliches Spielen mit ihrem Haar und die Berührungen ihrer Haut an Hals und Schulter, die immer öfter wie zufällig passierten, damit beendet würden – das machte sie nervöser als die ganze Sache selbst. Doch er schüttelte den Kopf und flüsterte:
„Nein. Du machst das gut. Sie müssen mich nicht kennenlernen.“ Seine Augen lächelten spöttisch und seufzend sprach Jill also wieder in den Apparat:
„Leider nicht drin, Herr Kommissar. Was ist nun mit dem Wagen? Sie lassen uns gehen, wenn sie den Wagen sehen. Und keine Polizisten mehr auf der Straße.“
Automatisch lächelte sie zurück, als Mr Big wieder wohlwollend nickte. Er drehte sich zu Ede und Rambo, die an der Tür warteten und befahl ihnen mit einer Geste, am Fenster das Geschehen draußen zu beobachten. Jill wurde bewusst, dass mehr als drei Augenpaare auf sie gerichtet waren. Durch die Scheiben des Schalterraums sah sie die anderen Leute, die ungewollt in diese missliche Lage geraten waren und ganz offensichtlich und ganz natürlich Angst hatten, vor den möglichen Folgen der ganzen Sache, vor den Räubern, Angst um ihr Leben vielleicht sogar.
Wieso war sie diejenige, die aktiv wurde? Warum hockte sie nicht ebenso ängstlich und vorsichtig wie die anderen in der Ecke? Das war doch gar nicht typisch für sie. Normalerweise war Jill froh, unauffällig zu sein, ihr Leben störungsfrei leben zu können. Sie betrachtete das Leben als Bühne, auf der sie meist nur Zuschauer war, keine Agierende, das war viel zu anstrengend und niemals hätte sie bewusst Aufregungen gesucht. Was da gerade alles passierte, hätte sie nie für möglich gehalten. Sie wollte doch nur nach Hause, Tommy in den Arm nehmen und trösten und sich, wenn er schlief, an ihren PC setzen, um weiter an der Übersetzung zu arbeiten. Das war die perfekte Aufgabe – perfekte Formulierungen zu finden, die doch nie von ihr selbst ersonnen, sondern nur Interpretationen der Gedanken anderer waren.
Heute tat sie etwas Außergewöhnliches und sie fühlte sich so lebendig wie selten zuvor. Es fühlte sich gut an.
„Frau Brenner, sind Sie da? Wir wollen wissen, was jetzt passieren soll. Das mit dem Auto geht klar. Wir möchten aber, dass als Zeichen für die Mitarbeit der Männer zumindest die Hälfte der Geiseln gehen darf. Zum Beispiel alle Frauen zuerst. Was sagen sie dazu?“
Kommissar Eichler klang müde, als ob er sowas schon hundert Mal gemacht hätte. Jill sah Mr Big an, der immer noch vor ihr saß und zu überlegen schien. Er fuhr sich mit der Hand übers Kinn, was durch einen Bart oder zumindest Ansatz davon durch die Maske ein kratzendes Geräusch machte. Schöne, gepflegte, schmale Hände, fiel ihr auf. Hoffentlich trug er keinen Vollbart, dachte sie. Anstatt sie auch nur anzusehen oder Andeutungen zu machen, damit sie wusste, was sie antworten sollte, stand er plötzlich auf und ging nach vorne zu seinen Männern.
„Wir lassen alle gehen. Lasst sie vorne raus gehen, einen nach dem anderen.“
„Was? Spinnst du? Und wir? Sobald sie wissen, dass keine Geiseln mehr hier sind, stürmen sie hier rein, das muss dir doch klar sein.“, warf Rambo ein.
„Hat die Kleine so einen Eindruck auf dich gemacht, dass du ihr jetzt aus der Hand frisst? Ich will hier lebend raus, wenn möglich.“, fragte Stressy höhnisch.
Nur Ede meckerte nicht, sondern fing an, die Leute behutsam in Richtung Ausgang zu schleusen, seine Waffe nach unten gerichtet. Jill kapierte ebenfalls. Mr Big befreite die Menschen, vermied, dass sie zu Schaden kommen würden, während die Polizei weiter im Dunkeln tappte, wie viele Geiseln es insgesamt waren und wie viele zurückblieben.
„Herr Kommissar. Achtung, sie kommen gleich raus. Wenn sie weg sind, muss der Wagen da sein – mit laufendem Motor und keine Verfolgung. Sobald Hubschrauber oder sowas gesichtet werden, machen sie ernst.“
Auf eine perfide Weise gefiel Jill dieses Spiel immer besser. Sie zitierte irgendwelche Gangsterfilme – sie hatte keine Ahnung, ob die Polizei hier überhaupt über Hubschrauber verfügte. Aber sie wünschte diesen Männern, zu entkommen und irgendwo mit dem Geld ein feines Leben zu haben. Der Bank würden die zwei Taschen voll schon nicht übermäßig fehlen. Fast hätte sie gekichert.
Immer noch mit dem Hörer in der Hand stand sie da und beobachtete durch die Scheiben, wie die Leute durch die Tür verschwanden, die meisten fingen an zu rennen, sobald sie die Schwelle übertreten hatten. Stressy fluchte leise vor sich hin, wurde aber fast fröhlich, als er durch die Jalousienschlitze sah, dass man einen Wagen vor die Bank parkte, wie er Ede und Rambo lautstark mitteilte.
„Ein Audi? Du hättest einen Porsche verlangen sollen, Boss, oder einen Ferrari, das wär doch ein ganz anderer Abgang, was? Aber Hauptsache, sie lassen uns verschwinden. Verdammte Scheiße, das sieht ja fast zu einfach aus.“, lachte er.
Erst, als Mr Big in das Hinterzimmer zurückkam, wurde Jill bewusst, dass sie allein war – als einzige Geisel übrig, zusammen eingepfercht mit den vier Räubern. Was hatte er nun mit ihr vor? Er bedeutete ihr mit einem Finger auf die Uhr und dann fünf ausgestreckten nach vorne, was sie sagen sollte.
„Kommissart Eichler? In fünf Minuten kommen wir raus. Wir steigen in den Wagen und möchten keine Störung. Sonst wird´s ungemütlich.“
Mr Big grinste verschmitzt, zumindest schien es so, denn seine Augen funkelten belustigt, als er ihr das Telefon aus der Hand nahm und dann einen Arm um ihre Taille legte und sie an sich drückte.
„Gut gemacht. Am liebsten würd ich dich mitnehmen. Wir sind ein gutes Team. Aber wir lassen dich ein paar Straßen weiter raus, wenn alles gut geht. Keine Angst. Du bist jetzt meine Lebensversicherung.“
Fast erwartete sie, er würde sie küssen, sein Blick war so sanft und ehrlich und liebevoll. Doch sie musste jetzt vernünftig sein. Sie käme hier raus. Das war es, was sie gewollt hatte, das war der ganze Zweck dieses Spiels. Dieser Mann war ein Gangster, so freundlich er auch tat, so beeindruckend er auch war, das durfte sie nie vergessen, sagte sie sich.
Der kurze Moment, in dem sie seinen Körper an sich gepresst fühlte, als er so sanft seinen Mund an ihr Ohr legte, um durch die Maske verständlich flüstern zu können, als sie seine Wärme und angenehme Nähe aufsog und ihn fast an sich gedrückt hätte, war schnell vorbei. Er schob sie sanft vor sich her nach draußen, wo seine Männer aufgeregt tuschelten und sich bereit machten. Rambo und Ede trugen die Taschen, Stressy richtete seine Waffe auf alles um sich herum, als ob er mit Scharfschützen in der Vertäfelung rechnete.
Auf eine weitere, keinen Widerspruch gelten lassende Geste von Mr Big hin steckte Stressy die Waffe hinten in seine Hose. Auch Ede und Rambo verhielten sich ruhig, doch als sie geschlossen auf die Tür zugingen, fasste Mr Big Jill auf ein Mal von hinten ins Haar und zog derb ihren Kopf zurück. Erschrocken sah sie, dass er seine Flinte an ihren Hals hielt. Alles gefror an ihrem Körper, das Spiel nahm eine unangenehme Wendung. Doch nur, bis sie seine Stimme an der anderen Seite an ihrem Ohr hörte:
„Tut mir leid, Süße. Das muss sein, verstehst du hoffentlich. Bleib einfach so cool wie bisher, dann wird alles gut.“
Jill fühlte sich in seiner starken Umarmung schwach werden. Sie glaubte ihm, alles würde gut werden, bestimmt.
Das Licht der untergehenden Sonne blendete sie kurz, als sie vor die Tür traten, und ihr wurde bewusst, wie spät es geworden war. Hoffentlich hatte jemand sich um Tommy gekümmert. Es war niemand auf der Straße zu sehen, als sie auf das große, schwarze Auto zuging, im Gleichschritt mit Mr Big, der sich an ihren Rücken presste. Sie verdächtigte ihn ein wenig, von der Situation Gebrauch zu machen, als seine freie Hand an ihrer Taille nach oben glitt und die Unterseite ihrer Brüste berührte, doch vielleicht spielte ihr da auch nur ihr Adrenalinausstoß einen Streich, als sie sich durch seinen Körper so nah an ihr erregt fühlte.
Dann sah sie ca. 200 Meter weiter eine Reihe von Polizeiwagen, die die Straße für Verkehr sperrten, abwartend, ohne Blaulicht, aber sicher waren dort Männer mit Gewehren, die nicht zögern würden, auf einen der Räuber zu schießen, wenn sie die Gelegenheit bekämen. Sie war der Schutzschild, alle vier bückten sich hinter sie und beeilten sich, die Wagentüren aufzureissen und in den Audi zu springen. Selbst Mr Big stieg vor ihr auf den Rücksitz und zog sie nach, Ede schaltete schon und Jill machte mit einiger Mühe die Tür zu, als der Wagen lospreschte.
Stressy lachte und alle fielen ein, selbst Jill konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, als die Männer sich erleichtert gegenseitig auf die Schultern klopften. Mit Rambo auf Rückbank eingequetscht war ihr Mr Bigs Körper sehr bewusst, er legte seine Waffe auf den Boden und einen Arm um sie, lachend, wie die anderen und so jung wirkend. Wie gerne hätte sie ihn nicht endlich mal ohne Maske gesehen, aber keiner der vier machte Anstalten, die Skihauben so schnell los zu werden. Sie redeten schnell und aufgeregt von dem fünften Mann, der anscheinend vor der Bank auf sie hätte warten sollen und abgehauen war, als die Polizei auftauchte. Stressy wollte ihn abknallen, die anderen hatten Verständnis und hofften, er würde später zu ihnen stoßen.
Jill schloss die Augen, plötzlich erschöpft, als hätte sie einen Marathon gelaufen. Drei Straßen und einen mit einem Höllentempo in der Mitte überfahrenen Kreisverkehr später bog Ede in eine schmale Seitenstraße ein und bremste scharf mitten auf der Straße. Er drehte sich zu Jill um und sagte: „Das war´s Lady, und Danke für die Unterstützung.“
Das war das erste Mal, dass sie seine Stimme hörte, er hatte einen amerkanischen Akzent, was den Namen Ede völlig unpassend erscheinen ließ. Sie wusste nicht, was sie mit dem Danke anfangen sollte. Sie hatte doch nur ihre eigene Haut retten wollen, dachte Jill.
Sie öffnete die Autotür und wollte ohne ein weiteres Wort aussteigen, dies alles hinter sich lassen und nach Hause gehen, als sie eine Hand auf ihrem Bein fühlte. Kaum hatte sie sich Mr Big zugewandt, als der auch schon seine Maske halb hochzog, sie an sich zog und seinen Mund auf sie presste. Er gab ihr einen Abschiedskuss, bei dem die anderen anfingen zu gröhlen. Jill war zu perplex, um zu reagieren, aber sie ließ sich küssen, mehr überrascht als schockiert von diesem überfallartigen, feuchten, leidenschaftlichem Kuss, von seiner Hand, die ihren Kopf hielt, aber diesmal zart und streichelnd. Bevor sie empört aufschreien oder ihn ebenso leidenschaftlich küssen konnte, hatte er sie schon wieder los gelassen und zog seine Maske runter, so dass sie gerade noch erkennen konnte, dass er keinen Bart trug, und das sein schiefes Lächeln genauso verführerisch war, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Sobald sie ausgestiegen war, raste das Auto weiter, sie verwirrt und mit klopfendem Herzen zurücklassend, in einer Straße, die sie nicht kannte und auf der niemand zu sehen war. Sie hatte diesen Gedanken gerade zu Ende gedacht, als auch schon ein weiterer Wagen in die Straße einbog und mit quietschenden Reifen neben ihr stehen blieb. „Frau Brenner? Alles in Ordnung?“
Man brachte sie nach Hause, ließ sie aber nicht in Ruhe, man wollte immer wieder hören, was gesagt und getan und nicht gesagt wurde in diesen paar Stunden in der Bank. Tommy war von einer Polizistin betreut worden, nachdem sie ihren Namen gesagt hatte, er hatte sie noch nicht mal richtig vermisst.
Die Aufregung hielt sich noch ein paar Tage, alle Mütter in der Schule wollten hören, wie schrecklich es war, Anwälte meldeten sich, die ihr Entschädigung für den Stress von der Bank besorgen wollten. Jill wimmelte sie alle ab, sie wollte vergessen, sagte sie. Doch das war leicht gesagt. Mehrmals täglich musste sie an diese Erfahrung denken und gestand sich ein, dass sie nicht aus reiner Neugier die Zeitungen durchforstete und Polizeinachrichten verfolgte – es interessierte sie, ob die Räuber davongekommen oder festgenommen worden waren. Nicht, weil sie glaubte, sie dürften ihrer gerechten Strafe nicht entgehen, sondern wegen ihm. Dass man keine Spur von den vier Männern gefunden hatte, freute sie insgeheim. Sie träumte davon, dass er mit dunkler Brille durch Rio spazierte und fragte sich, ob auch er noch an sie dachte. Schließlich waren sie wirklich ein gutes Team gewesen.
Noch Wochen später wurde sie angesprochen, ob sie die Jill Brenner sei, die diese Geiselnahme erlebt hatte. Wie aufregend alle das fanden, ob sie nicht wahnsinnige Angst gehabt hätte, ob sie nun in Therapie sie, so viel Blödsinn und sensationslüsterne Neugier ging ihr auf die Nerven. Jill hatte sich ein paar Standardsätze zurechtgelegt, mit der sie die Geschichte trocken abhandelte, so dass die Neugier der Leute befriedigt wurde und man sie in Ruhe ließ. Sie brachte wie gewohnt jeden Morgen Tommy in die Schule, erledigte Einkäufe und Hausarbeit und arbeitete dann zuhause an der Übersetzung eines Krimis, in dem es zum Glück um Mord und Totschlag und nicht etwa um Bankraub ging.
Als es eines Vormittags, fast zwei Monate nach dem Raub an ihrer Wohnungstür klingelte, unterbrach sie verärgert ihre Arbeit, haute das letzte Wort in die Tastatur und ging öffnen. Durch das Guckloch sah sie einen großen, unbekannten Mann vor der Tür stehen. Es könnte sich um Gaszählerablesung oder sowas handeln. Sie machte die Tür auf. „Ja?“
„Guten Tag, Frau Brenner. Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich möchte mit Ihnen reden.“
„Reden? Worüber denn?“
Etwas in seinem Gesicht kam ihr nun doch bekannt vor. Er hatte buschige Augenbrauen, etwas zu langes, hellbraunes Haar und graue Augen und war auffallend groß und schlank. Ein gutaussehender Mann, und sie war sicher, ihm schon mal irgendwo begegnet zu sein. Sie schluckte.
„Vielleicht wären Sie so nett, mich reinzulassen. Es geht um ihr heldenhaftes Auftreten in der Bank neulich. Sie haben da wahrscheinlich einigen Leuten das Leben gerettet. Ich bin hier, um sie dafür zu belohnen.“
Diese Stimme. Automatisch machte sie die Tür weiter auf und der Mann trat ein.
Er ging ins Esszimmer und holte da grinsend einen Umschlag aus der Innentasche seiner Lederjacke. Jill wurde fast schwindelig. Er war es, Mr Big, ganz ohne Zweifel. Seine Art zu reden, zu gehen, diese verschmitzt funkelnden Augen, als er sie weiter anlächelte und den Umschlag auf den Tisch legte.
„Sie sind… der Bankräuber. Was machen Sie hier, um Himmels willen? Man sucht sie doch überall. Es ist gefährlich, hierher zu kommen. Warum sind Sie hier?“
Er grinste breiter. „Freust du dich nicht, mich zu sehen? Und nicht hinter Gittern? Alles hat wunderbar geklappt. Ich hoffe, du hattest keine Schwierigkeiten wegen der Sache? Ich bin hier, um dir einen Teil der Beute abzugeben. Ohne dich wären wir niemals so glimpflich da raus gekommen. Wir haben alle etwas zusammengelegt für dich. Und ich soll dich grüßen von den anderen.“
Da Jill keine Anstalten machte, zu ihm zu kommen oder den Umschlag anzufassen, nahm Mr Big ihn wieder in die Hand und holte einen dicken Stapel Geldscheine heraus, Hunderter, es mussten mehrere Tausend Euro sein. Er legte sie wieder auf den Tisch und trat einen Schritt zur Seite, als ob er verstehen, das sie ihm nicht zu nah kommen wollte.
„Ich meine es ernst. Das ist für dich.“
„Danke.“, brachte sie über die Lippen. Sie bewegte sich nicht von der Stelle, blieb halb im Flur stehen und wartete ab. So ganz geheuer war ihr die Situation nicht.
„Und das war´s? Deswegen bist du gekommen? Du hättest es auch in den Briefkasten stecken können.“
„Tja, stimmt, aber dann hätte ich dich nicht wiedergesehen. Ich... ich hab an dich denken müssen und wollte sehen, wie es dir geht, und wie du so lebst. Ist dein Sohn zuhause?“
„Woher weißt du von meinem Sohn? Hast du mich ausspioniert?“
„Ausspioniert? Nun ja, nicht wirklich. Von deinem Sohn hast du doch in der Bank die ganze Zeit geredet.“
„Ach so, ja. Er ist in der Schule.“
Er nickte. Er wirkte so unsicher, das verwirrte Jill am meisten. Der coole Gangsterboss stand in ihrem Wohnzimmer, die Hände jetzt tief in den Taschen seiner ausgebeulten Jeans gesteckt und jungenhaft grinsend, als hätte sie ihn beim Kekse stibietzen erwischt.
„Jill, ich darf doch Jill sagen? – ich… ich war ein paar Wochen untergetaucht, aber jetzt scheint alles wieder friedlich, die Bullen haben keinen blassen Schimmer. Ich kann das Geld jetzt ausgeben und hab mir gedacht, ich würde es gerne… nun ja, mit dir tun. Ich meine… dir nen Urlaub spendieren oder so? Du hast mich echt beeindruckt, in der Bank. Du bist eine besondere Frau und ich, wie soll ich sagen, ich würde dich gerne besser kennenlernen.“
Jill blieb die Luft weg. Träumte sie? Bekam sie jetzt schon Halluzinationen? Endlich lösten sich ihre Füße vom Boden und konnte sie auf ihn zu gehen. Er atmete tief ein, wartete fast ängstlich auf ihre Reaktion. Kurz vor ihm blieb sie stehen und sah hoch zu ihm.
„Wie heisst du? Ich kann dich doch nicht Mr Big nennen.“
„Was? Mr Big, wieso das denn? Ich bin Jakob. Jakob Munch. Was willst du jetzt machen? Die Polizei rufen?“
„Nein. Ich denke, ich werde dein Angebot annehmen. Ich könnte einen Urlaub vertragen.“
„Das ist gut. Was hältst du von Rio de Janeiro?“
Jill lachte und fiel ihm in die Arme. Sie musste sich ganz schön strecken, aber er half mit und als sich ihre lachenden Gesichter trafen und sie seine Augen ganz nah vor sich funkeln sah, konnte sie nicht anders, als ihn zu küssen, so, wie sie es sich seit Wochen, seit sie aus dem Auto gestiegen war, vorgestellt hatte.