Stille Tischrede
War ja klar, dass ich dich sehen würde. Schließlich war´s der runde Geburtstag deines Bruders, und wir kamen natürlich alle. Ich als sein bester Freund und alle wichtigen Wegbegleiter durch die Dekaden. Und klar, dass du gut aussehen würdest – das hast du immer getan, durch alle Zeiten, auch im Altern.
Grau bist du jetzt; und ich weiß noch, dass ich ein wenig geschockt war, als ich dich vor vier Jahren das erste Mal grau sah. Sie wird alt, hatte ich gedacht, als du mir am Bahnhof entgegen kamst, wo wir uns kurz auf der Durchreise auf einen Kaffee getroffen haben. Aber schon eine Viertelstunde später, lachend und tief im Gespräch über unser Leben und seine Wellengänge, hat mich deine Intensität wieder einmal so gefangen genommen, dass ich dachte: so ein Weib, immer noch so ein Weib!
Das habe ich oft gedacht, nachdem du mich verlassen hattest. Wie lang ist das jetzt her?...drei Jahrzehnte! Egal wie viel Zeit noch vergehen wird, den Schmerz werde ich nie mehr vergessen. An nichts in unserer Beziehung kann ich mich so gut erinnern wie an den Schmerz danach.
Dann haben wir uns ein paar Jahre nicht gesehen. Dir war ich egal und ich wollte dich einfach nur hassen.
Aber dann sahen wir uns wieder, gemeinsame Freunde und vor allem dein Bruder waren der Grund, dass sich unsere Wege wieder öfter kreuzten.
Wir tanzten auf unseren Hochzeiten und gingen mit unseren Kindern auf Spielplätze. Wir schwärmten von unseren Ehepartnern und trafen uns im Urlaub. Wir etablierten uns und unsere Freundschaft.
Wir tranken und lachten miteinander und wenn die Wellen hochschlugen, analysierten wir nächtelang an der (Un)Glücksformel herum.
Irgendwann brachst du aus. Hast alles in Frage gestellt und als Antwort nur die Trennung von deinem Mann gefunden. Hast dich einen Dreck um sozialen Stand oder Sicherheit geschert und bist deinen Weg gegangen. Das habe ich nicht verstanden, nicht verstehen wollen.
Ich habe es dir übel genommen, damals. Du hattest alles, Kinder, Geld, ein schönes Zuhause und eine tolle Familie. Und wolltest dennoch mehr. Das fand ich infam.
Und es machte mir Angst. Was, wenn ich diese Fragen eines Tages auch stellen würde? Und Lust bekäme, einen ähnlichen Weg zu gehen?
Oder meine Frau?
Ich hoffte, du würdest scheitern, es bereuen, zurückgehen, dahin, wo ich immer noch war. Nicht aus Bosheit, verstehst du, sondern um meine Lebensform bestätigt zu sehen.
Da habe ich mich wieder zurückgezogen, weil ich schon wieder einen Schmerz spürte. Nicht den Alten, sondern einen Neuen, Unbekannten.
Und jedes Mal, wenn ich dich wieder traf, warst du schön, faszinierend, selbst wenn du nachdenklich oder traurig warst.
Und jetzt sitzt du da drüben am anderen Tisch, lachst deinen neuen Freund an, der genau zehn Jahre jünger ist als ich, und ich empfinde Neid. Nicht auf ihn, denn so schön und begehrenswert – ja, das gebe ich zu – ich dich auch finde, eine Afäre mit dir ist undenkbar.
Und das ist gut so. Ich bin immer noch ganz glücklich mit meiner Frau und inzwischen auch stolz auf die vielen Jahre mit ihr.
Aber ich beneide dich um deine Kraft und den Mut, immer wieder neu anzufangen, das Leben zu drehen und ihm einen frischen Kick zu geben.
Und bei all dem kannst du dennoch bewahren, was wirklich zählt: deine Kinder, deine Exmänner und deine Freunde. Du bleibst die, die du immer warst.
Stärker als der Neid ist also doch meine Freude. Dass wir immer noch Freunde sind. Dass ich mit dir und durch dich Facetten des Lebens miterleben kann, die auf meinem Lebensweg nicht vorgesehen sind.
Du schaust kurz rüber und ich hebe mein Glas. Wir prosten uns lächelnd zu!
©tangocleo 2011