Eifelgeschichte
EifelgeschichteGleich ist sie da, von weither angereist, um hier in der Eifel ein Wochenende mit Menschen zu verbringen, denen sie noch nie begegnet ist. Doch niemand weiß, dass sie kommt. Sie hat sich heimlich angemeldet um – um ihn zu treffen. Ob auch er Wort hält und kommt?
Sie ist ganz aufgeregt, als sie in die Einfahrt des Hotels einbiegt und den Wagen parkiert. Ein sommerlich warmer Windhauch schmiegt sich um ihre Beine, als sie aus dem Auto steigt. Sanft berührt er ihre Haut, so als wolle er sagen: „Ich begehre dich.“ Eine wohlige Gänsehaut legt sich auf ihren Körper und erotische Gedanken wehen durch ihren Geist und um ihre Schenkel. In freudiger Anspannung zupft sie sich ihr Sommerkleid zurecht, wischt verstohlen die Feuchtigkeit von ihrem Bein und geht Richtung Eingangstür. Zwei Menschen nicken ihr freundlich zu. „Ob sie wohl auch zur Kurzgeschichtengruppe gehören“, denkt sie und nickt freundlich zurück. „War er vielleicht sogar dabei?“ Sie wirft einen verstohlenen Blick zurück über ihre Schulter und sieht, dass die Zwei ihr ebenfalls nachblicken. „Schon möglich“, denkt sie und wirft hastig einen kurzen Blick in den Spiegel, der im Eingangsbereich im Flur hängt. War er das? Ist er schon da? Ob er sie erkennt, sich freut? Sie betritt die Lobby. Wieder lächeln ihr Menschen freudig zu. Eine Frau lacht laut und unterhält sich angeregt mit einem Mann und einer Frau. „Die könnten dazugehören. Wer das wohl ist?“, denkt sie und mustert verstohlen die kleine Gruppe. Sieht diese Frau nicht wie die Zigeunerin aus und jene wie Rhabia und ist dieser Mann dort nicht Raven Fox?
Sie kennt sie alle, irgendwie und doch wieder nicht. Keinen hat sie je persönlich getroffen, obwohl sie sich virtuell bereits seit zwei Jahren regelmäßig begegnen. Es sind die kurzen, spannenden, anregenden, fantasievollen, nachdenklich stimmenden oder auch erotisch anmutenden Geschichten, die sie verbindet. Lesend, schreibend, lektorierend, ein bunter Haufen Gleichgesinnter mit Lust an der Lust und Lust auf Geschichten. Sie freut sich riesig darauf zu entdecken, wer sich hinter den Profilen und Fotos verbirgt, aus wessen Fantasie, die ein oder andere grandiose Geschichte entsprang, um andere damit zu erfreuen. Sie freut sich, mit ihnen zu lesen, zu schreiben, zu rodeln, zu essen, sie kennen zu lernen. Doch noch weiß Keiner, dass sie überhaupt hier ist und er ganz gewiss nicht.
Sie möchte ihn überraschen, ihm endlich begegnen. Wie sie ihn kennt, wird er auch kommen, denn er ist ein Mann, der Wort hält, oder doch nicht? Ein wenig unsicher ist sie jetzt doch. Sie kennen sich seit zwei Jahren, schreiben regelmäßig, teilen dasselbe Interesse an Kurzgeschichten und – sind sich außer in Träumen, Clubmails und in fantasiereichen Geschichten noch nicht begegnet. Sie weiß nicht, wie er aussieht, er weiß nicht wie sie aussieht, denn im Profil gibt man sich selbstverständlich nicht zu erkennen. Beide lieben Sie dieses Spiel, dieses werben, dieses sich annähern und dann doch wieder auf Distanz gehen, sie lieben beide dieses subtile Versteck spielen, sich öffnen, wieder verbergen.
Ihr beider Leben ist so rational, so vernünftig, so berechenbar, dass ein wenig Geheimnis und Überraschung etwas von Weihnachten hat.
Zwischen ihnen knistert es, schon lange. Eine magische Anziehung, unsichtbar und stark. Es funkt zwischen ihnen, zwischen den Zeilen, es fühlt sich warm und weich an, wenn er sich meldet. Es elektrisiert, weil vieles so vertraut ist und doch so vieles gegensätzlicher nicht sein könnte.
Sie möchte ihn überraschen, sein Gesicht sehen, wenn er ihr gegenübersteht und sie möchte ihrem Wunsch ans Universum begegnen – hautnah, tief, sanft und leidenschaftlich. Sie begehrt ihn, schon jetzt und sie wird sich ihm hingeben.
Ob er sie erkennt? Noch auf dem Weg zum Empfang, überlegt sie sich, welche Geschichte sie dem freundlichen Empfangschef erzählen wird, um an die Zimmernummer von ihm zu gelangen. Doch bevor Sie sich eine passende Geschichte ausdenken kann, begrüßt Sie dieser mit. „Frau Sofie Ludwig?“ „Ja, woher wissen Sie das?“ „Herr Jäger, der bereits unser Gast ist, kündigte Ihre Ankunft an und erwartet sie auf Zimmer 234. Ich soll Ihnen diesen Brief hier überreichen.“ Mit einem wohlwollenden Nicken gepaart mit einem dezenten Lächeln reicht er ihr den Umschlag auf dem mit geschwungener Handschrift steht: „Mme S.L“
Wie ist das möglich? Sie nimmt den Umschlag entgegen, blickt zunächst ungläubig auf ihn, danach noch ungläubiger ins Gesicht des Empfangschefs. Ohne ein weiteres Wort entfernt sie sich, setzt sich in die Lobby, dreht und wendet den Brief in ihrer Hand. Wie kann er wissen, dass sie kommt? Wie kann der Empfangschef wissen, dass sie sie ist? Und was steht in diesem Brief?
Ungeduldig und vorsichtig, öffnet sie den Brief und liest. „Carissima. Ich wusste, dass du kommst. In dir zu lesen ist für mich, wie die Lektüre in einem vertrauten Buch. Schön, dass du da bist, um mich zu treffen. Komm hoch auf mein Zimmer, zieh deinen Slip vorher aus, öffne deine Haare und lass dich von mir verwöhnen. Ich will, dass du kommt, jetzt. In freudig erregter Erwartung, L.“
Zwischen ihren Schenkeln breitet sich ein erotisches Kribbeln aus, ihr Herz tanzt. Soll Sie jetzt wieder gehen, um ihm nicht das Gefühl zu geben, er hätte Macht über sie? War es nicht Sie, die ihn überraschen wollte und nun hat er sie überrascht und in der Hand? Soll sie nachgeben, zu ihm gehen und das zulassen, was beide wollen, auch auf die Gefahr hin, dass er sie nach diesem einen Mal abserviert, wie alle anderen vor ihr auch?
Sorgfältig steckt sie den Brief ein, geht Richtung Aufzug, lächelt dem Empfangschef zu, dieser nickt dezent und dreht sich dann diskret um. Im Aufzug streift sie ihren Slip ab, löst das Band ihrer Haare, zieht die halterlosen Strümpfe und das Kleid zu recht. Sie tritt auf den Flur, nickt einem Pärchen zu, nähert sich der Zimmertüre 234. Noch bevor sie klopfen kann, öffnet sich leise von innen die Türe. Es ist soweit. Sie tritt ein – in das stockfinstre Zimmer, wo er auf sie wartet und sie sich begegnen, zum ersten Mal…ob es das letzte Mal sein wird, oder der Anfang vieler Geschichten?
(c) Dio
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Ich wünsche Euch allen ein ganz intensives, schönes, prickelndes, geschichtenträchtiges Eifelwochenende, vielleicht lässt sich die ein oder die andere, oder der ein oder der andere noch überzeugen
Und beim nächsten Mal bin ich ganz bestimmt auch mal dabei. Liebe Grüße aus der Stadt der Liebe, PARIS...
Eure Kritik ist mir willkommen, allerdings werdet ihr auf meine Kommentare bis nach dem Eifelwochenende warten müssen