Zeitsprünge
Martha bemühte sich vergebens, beim Blick aus dem Fenster ein Stück Himmel zu erhaschen. Der Ausblick beschränkte sich auf einen winzigen Ausschnitt des Hofes. Sie seufzte. Was nur war schief gelaufen? Sie war sich sicher gewesen, dass sie alle Parameter richtig definiert hatte. Wo aber lag der Fehler? Welche Entwicklung hatte sie falsch eingeschätzt? Oder war es doch ein technischer Defekt? Und vor allem: wie kam sie aus der Nummer wieder raus? Was notwendig war, um das Chaos zu ordnen, bevor noch Schlimmeres geschah. Es durchlief sie siedend heiß bei dem Gedanken an Professor Schmidts süffisantes Grinsen, mit dem er ihr Scheitern kommentieren würde. Wenn sie denn überhaupt noch existierte.„Sei vernünftig“, schalt sie sich selbst. „Es bringt nichts, Horrorszenarien zu entwickeln. Geh einfach jeden Schritt noch einmal durch, dann findest du den Fehler. Kann doch nicht so schwer sein, Frau Doktor Graf!“
Sie griff in die Tasche, um das PDA hervor zu ziehen und die Berechnungen zu überprüfen. Die Sachlage an sich war ja klar. Die Affäre ihrer Großmutter mit dem Pastor hatte das junge Leben ihrer Mutter vergiftet. Diese war darauf niemals beziehungsfähig gewesen. Das wiederum hatte dazu geführt, dass sie ihren Kindern niemals ihre Mutterliebe zeigen konnte. Ihr Bruder Tobias war daraufhin drogensüchtig geworden und hatte im Crackrausch ein Blutbad in der Tankstelle angerichtet. Was wiederum dazu geführt hatte, dass Michael sich von ihr getrennt hatte, weil er es nicht ertragen konnte, der Schwager eines Mörders zu sein. Man musste also nur die Beziehungskette durchbrechen und dafür sorgen, dass ihre Großmutter und der Pastor sich niemals trafen, dann würde der Rest sich von selbst richtig entwickeln.
Es war ein klar umrissenes Szenario ohne große Nebenparameter. Sie war es tausende Male durchgegangen, bevor sie gewagt hatte, es Professor Schmidt zu unterbreiten. Ohne die Affäre ihrer Großmutter würde sich ihre Mutter nicht verstoßen fühlen, sie würde wunderbare Mutterliebe entwickeln. Tobias würde nicht drogensüchtig und damit auch kein Massenmörder. Und Michael würde sie nicht verlassen. Dann wäre ihr Leben endlich richtig und sie bekam, was ihr zustand. Die Liebe ihrer Familie und die wissenschaftliche Anerkennung. Alles wäre dann gut.
In diesem Moment schreckte ein Geräusch sie auf. Sie zuckte zusammen und schaffte es gerade noch, das PDA in der Tasche verschwinden zu lassen, bevor die Tür aufging. Eine Frau trat herein und stellte ihr schweigend eine Schüssel auf den Tisch, legte einen Löffel und ein Stück Brot dazu, drehte sich um und verließ den Raum. Die Tür schlug zu.
Martha fuhr das PDA herunter und versenkte es noch tiefer in ihrer Tasche. Der Akku hielt schließlich nicht ewig. Sie starrte in die Schüssel. Der Inhalt sah aus wie schon einmal gegessen. Sie schauderte. Aber dann siegte ihr Hunger. Niemandem war damit gedient, wenn sie hier zimperlich war. Sie schob den Löffel in die graubraune, zähe Masse und schob ihn in ihren Mund. Der Geschmack überraschte sie. Der Brei war nussig, leicht süßlich, und die Konsistenz war weit weniger schleimig als es das Aussehen vermuten ließ. Tapfer löffelte sie die gesamte Portion in sich hinein und kaute auch das dunkelbraune Brot.
Inzwischen dunkelte es. Martha überlegte eben, ob sie es wagen sollte, das PDA wieder hochzufahren, oder ob wohl die Frau wieder käme, um das Geschirr abzutragen, da lauschte sie erstaunt. Sehr leise erklang von irgendwo eine merkwürdige Musik. Sollte hier irgendwo ein Konzert stattfinden? Dann standen ihre Chancen nicht schlecht. Vielleicht war es möglich, sich unter die Besucher zu mischen und mit der Masse zu entkommen. Doch dann verwarf sie diesen Gedanken wieder. Sie hatte zu wenig Informationen über ihr Gefängnis und seine Lage im Gesamtkomplex der Gebäude, als dass sie es hinaus geschafft hätte. Sie musste darauf vertrauen, dass man sie irgendwann zum Verhör holen würde. Dann hätte sie eine Chance, sich den Grundriss einzuprägen.
Die Musik verstummte. Matha setzte sich auf die schmale Pritsche und versuchte, die aufkommende Müdigkeit zu ignorieren. Der Zeitsprung hatte doch funktioniert. Sie war ihm dem Jahr gelandet, in dem ihre Großmutter mit ihrer Familie von der Elbe an den Rhein gezogen war. Es war das gleiche Jahr, in dem der Pastor dort seine neue Stelle antrat. Sie hatte Professor Schmidt versprochen gehabt, sich auf die Korrektur dieser einen Zeitlinie zu beschränken. In diesem frühen Versuchsstadium war es wichtig, jeden Schritt nachvollziehbar zu gestalten. Sie hatte sich perfekt präpariert und war eingetaucht in diese merkwürdige Welt, die sich selbst als „die Wende“ bezeichnete. Da die Computertechnologie damals noch in den Kinderschuhen steckte, hatte sie zuvor sogar gelernt, eine historische Schreibmaschine zu bedienen. Es war ihr nicht schwer gefallen, einen Brief an den Pastor zu fälschen, in dem er beauftragt wurde, eine Stelle auf einer Insel mit Namen Pellworm anzutreten. Da sie das alles auch in den Personalakten vermerkte, fiel niemandem sein Fehlen auf. Befriedigt war sie zurückgekehrt und hatte mit Schrecken feststellen müssen, dass quasi über Nacht aus ihrer Mutter ein alkoholkrankes Flittchen geworden war. Und von Tobias keine Spur. Als hätte es ihn niemals gegeben.
Das war noch schlimmer gewesen als der vorherige Zustand. Es blieb ihr also gar nichts übrig, als die Zeitlinie zu überprüfen, um dann die Dinge endgültig in Ordnung zu bringen. Die Überprüfung ergab, dass ihr Großvater aufgrund einer Lungenentzündung im Alter von drei Jahren außerordentlich kurzatmig war. Das machte eine militärische Laufbahn unmöglich, wie sich allerdings erst bei der Musterung herausstellte. Er sah sich also gezwungen einen anderen Beruf zu wählen. Er wurde Bauingenieur, was Großmutter als enorme Belastung für das Familienleben ansah. Offensichtlich hatte die nun fehlende Affäre ihr ursprünglich für einige Zeit seelische Stabilität gegeben. Nun aber hatte sie ihre Flucht zum Bingospielen genommen und war in eine gefährliche Spielsucht gerutscht.
Es war Martha also nichts anderes übrig geblieben, als einen zweiten Zeitsprung zu wagen - und zwar ohne Professor Schmidt damit zu belästigen. Da das dritte Ehrenberg'sche Gesetz nun besagte, dass niemand niemals zwei Mal hintereinander zum gleichen Zeitpunkt und Ort reisen dürfte, weil sonst der Zeitknoten kollabierte, blieb ihr nichts anderes übrig als eine andere Strategie zu wählen. Mit der Rekonstruktion der ersten Zeitlinie wäre ja auch niemanden zu helfen gewesen.
Martha sank auf der Pritsche in sich zusammen. Sie träumte von fehlgeleiteten Rettungshubschraubern, der Heisenberg'schen Unschärfe und Michael, der wortlos seinen Ring abstreifte und das Haus verließ. Schreiend und schweißgebadet wachte sie auf. Sie hechelte hektisch und bemühte sich, sich daran zu erinnern, wo sie war.
In diesem Moment öffnete sich die Tür. Die kleine, zierliche Frau, die sie heute morgen aus dem Rhein gefischt hatte, in dem sie beim achten Sprung gelandet war, weil sie vergessen hatte, die Kanalisierungen des 19. Jahrhunderts zurück zu rechnen, trat ein. Die Mondsichel warf einen blassen Schein auf ihr Gesicht. Sie setzte sich zu Martha auf die Pritsche, strich ihr begütigend die nasse Haarsträhne aus dem Gesicht und sprach ihr leise gut zu. An dem erstaunten Gesicht ihrer Patientin erkannte sie, dass diese sie nicht verstand.
Hildegard seufzte verhalten auf. Sie hätte wirklich erwartet gehabt, dass die so lange angekündigte Grafentochter Latein sprach. Aber andererseits – seit sie vom Disibodenberg nach Bingen umgezogen waren und Abt Kuno ihnen ihre Ländereien vorenthielt, konnte sie bei der Auswahl ihrer Novizinnen nicht sehr wählerisch sein.
© sylvie2day, 12.06.2011