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virtuelle Selbsterkenntnis

virtuelle Selbsterkenntnis
Seine selbstgefällige Fassade bröckelte.

Er, der online-Charmeur vor dem Herrn, der Buchstabenbeglücker aller weiblichen Seelen, sah sich in der Not sich selbst zu hinterfragen. Seit sie ein Paarprofil hatten, konnte er seine Augen nicht mehr vor der bitteren Realität verschließen.
Seine mühsam über Monate gesammelten „votes“ hatten sich in den zwei Tagen als Paar verdoppelt.
Zuerst wollte er es einfach ignorieren, allerdings die ständige Präsenz von Ärschen und Schwänzen auf dem Profil war unmöglich zu ignorieren. Was zu Anfangs noch seinem Ego schmeichelte, wurde dann – als sie sich begann mit den Schwänzen und Ärschen auszutauschen – für ihn zum schieren Elend.
Er wollte den Gedanken nicht zulassen, dass er sich klein vor kam, und auch ihr stetes Beteuern seine Größe und die Größe seines Schwanzes wäre für sie ausreichend, pamperte sein angefressenes Selbstwertgefühl nicht.
Was konnte man an „ausreichend“ schon falsch verstehen?
Ganz offensichtlich schien virtuell überbordende Sexualität nicht die Lösung zu sein, mit der er seine midlife crisis bekämpfen konnte. Es war eher das genaue Gegenteil, … die Ärsche und Schwänze waren zumeist auch noch mehr als zehn Jahre jünger als er.
Mehr und mehr verdichtete sich in ihm das Gefühl, dass gemeinsame Kontakte über das Internet zu finden, keine gute Idee war. Statt ihr vor Augen zu halten, mit welchem Glück sie mit ihm gesegnet war, bekamen sie jetzt zig Anfragen von Männern, neben denen er wie der Gebrauchtwagen aussah, den der Verkäufer aus Scham hinter der Halle bei den Schrottteilen „zur Schau“ stellte, quasi das für jeden unwiderstehliche Angebot, Schrottwert + 1,-€.
Auch die Illusion vom Buchstabenmagier war verpufft. Es schienen sich im Internet nur Lyriker und Autoren herum zu treiben, so dass es Männer gab, die neben ihrem Geschick bei Wortbildern auch noch über das kaiserliche Gardemaß verfügten – überall!
Noch einmal betrachtete er sich im Spiegel, zog ein letztes Mal die Klinge durch seine Intimzone. Es kam ihm der Gedanke, dass seine Reaktion ein wenig übertrieben erscheinen konnte, jedoch sah er für sich keine andere Chance sich seinem emotionalen SuperGAU zu stellen. Nachdenklich schaute er auf den Fön und überdachte erneut seine Entscheidung.
Was würden die anderen denken? Würden sie ihm Angst vor dem Vergleich, Minderwertigkeitskomplexe oder womöglich Impotenz unterstellen?

Er ging ins Wohnzimmer an sein laptop und klickte auf den Bestätigungsbutton im Dialogfeld „Profil löschen?“


***Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Menschen ist zufällig.***

vergnügte Grüße

*zwinker* MondZeit
überaus subtil vergnügte psychonautenhuhngrüße aus der morbiden versenkung...

mit überaus großem genuss habe ich das gelesen.... :)))
Paradigmenwechsel
Seine selbstgefällige Fassade bröckelte.

Er empfand sich und seine Art die Welt wahrzunehmen ... anders, schon bevor ihm der klinische Nachweis seiner abweichenden Gehirnchemie mitgeteilt wurde. Es war etwas in ihm zerbrochen.
Nie konnte er wie alle sein, nie richtig, immer anders wahrnehmen.
Nicht dass sein Verhalten so sehr von dem der Anderen abwich, jedoch hatte er zumeist eine grundlegend andere Intention.
Nun allerdings hatte sich durch eine unerwartete Kapriole des Lebens sein Status und damit einhergehend seine Sicht auf das Leben geändert.
Es war die Ursache für das gehäufte Auftreten von entblößten Schwänzen in seinem Leben, überhaupt für die Unruhe in seinem Empfinden. Seitdem hatte er irritierender Weise schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt von seinem Gemächt Bilder zu machen, jedoch empfand er die Attraktivität des Motivs, und damit auch sich, durchschnittlich, vielleicht weil ihm die richtige Ausstattung - das richtige Objektiv - fehlte, vielleicht auch weil er sich nicht auf eine Funktion reduzieren lassen wollte.
Der ursprünglich belustigende Austausch im Internet entwickelte sich in seinen Augen zunehmend zu einer Bühneninszenierung, bei der die Distanz zwischen linkem und rechtem Bühnenrand 1000 km betrug. Allerdings gestaltete sich die Auswahl der Protagonisten schwierig, da es nicht ganz leicht fiel die Spreu vom Weizen, beziehungsweise zwischen Rationalisten und Idealisten, zu unterscheiden.
Bedauerlicherweise konnte man nicht alle in die Luft werfen und schauen was passiert.
Er gefiel sich bisher in der Rolle des Betrachters ganz gut - vielleicht zu gut - jedoch die jüngsten Ereignisse zwangen ihn aus seiner Zurückgezogenheit ins jetzt zurück zu kehren und retteten ihn wahrscheinlich vor der Tristesse der Ereignislosigkeit. Es war an der Zeit auf die Bühne zu treten, denn er war nicht mehr alleine, sah sich zu einem Paradigmenwechsel genötigt.
Nicht mehr alleine – gemeinsam war man nun stark … was ein Quark.
In dieser Woche wurde er 5mal auf das anstehende Wochenende – und auf die damit einhergehende Planung – hingewiesen, um dann jetzt informiert zu werden, „wir fahren doch nicht“.

Was werden sie denn jetzt am Wochenende machen?

Es entstand eine Mischung aus Ärger und Frohlocken, eine ihm mittlerweile vertraute Empfindung.
So fühlte sich wohl das Leben im jetzt an.

***Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Menschen ist zufällig.***

vergnügte Grüße

*blume* MondZeit
danke, beim Bröckeln der Selbstgefälligkeit mitlesen zu dürfen... man(n) denkt um, wenn er nicht mehr nur sich selbst, sondern (einem) anderen gefallen will!

*g*
Ich danke Dir für Deinen Kommentar.

Was dem einen die Selbstgefälligkeit, ist dem anderen die Überzeugung.

Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass sich die Motivation des Protagonisten wandelte, da er größeres Gefallen am "gemeinsam erleben" fand und daher seine Überzeugung aufgab.

Daher empfinde ich Deine Interpretation gewohnt *g* gefärbt.

"Er" will nicht "jemanden" gefallen, "sein neues Leben" gefällt ihm besser.

*blume*

MondZeit
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