Schäfflestraße
Endlich war Feierabend. Ich saß in der U4 und schaukelte Richtung Hauptbahnhof. In einer Stunde würde ich zu Hause sein, mir noch mein Gläschen Dornfelder genehmigen und danach zu Uschi unter die Decke kriechen.Die Bahn war ziemlich leer. Ist sie um diese Zeit, kurz nach Elf abends, eigentlich immer. Wer fährt auch schon um diese Zeit durch öde Gewerbegebiete?
Ich war müde und schlecht gelaunt. War ich nach so einem Tag eigentlich immer. Wieder einmal war er nur stressig gewesen. Jede Menge Gespräche, die sich um das liebe Geld drehten. Das Geld anderer Leute, versteht sich. Zwischendurch immer und immer wieder Korrekturen an der Projektplanung.
Wieso wollten die Jungs da draußen nicht kapieren, dass ich kaum Spielraum hatte?
„Nächster Halt: Schäfflestraße“ quäkte die Ansagerin vom Band. Ich stellte mir zu dieser Stimme immer eine alleinstehende, ältliche, leicht übergewichtige Dame vor, die sich morgens um halb fünf vor ihrem kleinen Badezimmerspiegel schnell ein bisschen Wasser ins Gesicht gespritzt und die Haare zurecht gezupft hatte. Später würde sie dann schlecht gelaunt, übermüdet und nach Kölnisch Wasser riechend in einem kahlen Werkstattraum vor dem Mikro sitzen und sich abmühen, akzentfrei die Namen der Haltestellen herunter zu beten.
Weiter vorne stiegen zwei Mädchen ein. Eigentlich ganz süß mit ihren schwarzen Locken, aber ein bisschen zu knallig geschminkt, vor allem um die Augen herum. Andererseits: Knappe Minis, schwarze Netzstrumpfhosen, unverschämt hohe Pumps. Das war schon was für ´s Auge, wenn man auf lange Beine und knackige Ärsche stand.
Laut plappernd und kichernd suchten sie sich Plätze in der Sitzreihe schräg gegenüber. Ich verstand kein Wort von dem, was sie sagten, tippte aber aufgrund von ein paar Klangfetzen, die mir von früher her irgendwie bekannt vorkamen, auf eine russische Herkunft. Sehr wahrscheinlich kamen ihre Eltern aus dem Kaukasus und waren Spätaussiedler. Sehr wahrscheinlich waren sie auf dem Weg zu einer dieser Gothic-Partys, von denen man erzählte, dass sie regelmäßig in wilde Orgien ausarten.
Merkwürdig. Die Bahn stand immer noch, obwohl die Türen schon seit einer Weile wieder geschlossen waren. Ich hatte nicht darauf geachtet, aber es mussten inzwischen mehrere Minuten vergangen sein. Hatte ich eine Durchsage überhört? Normalerweise wäre doch schon längst gesagt worden, wenn im Tunnel vor uns eine Betriebsstörung vorgelegen hätte. Merkwürdig.
Die Mädchen waren inzwischen still geworden und schauten zu mir herüber. Eine von ihnen schien sogar ein Lächeln anzudeuten, während sie mich mit ihren dunklen Augen fixierte. Ich muss wohl einen verwirrten Eindruck gemacht haben, denn sie fragte mich mit leiser, leicht rauchiger Stimme, ob mit mir alles in Ordnung sei. Ich bejahte zögerlich und lächelte verlegen zurück, hatte aber das Gefühl, mein Gesicht hätte sich in Sekundenschnelle in einen roten Lampion verwandelt.
Sie kam fast unwirklich langsam zu mir herüber, setzte sich rittlings auf meinen Schoß und begann, an meinen Lippen zu knabbern. Ich hatte unvermittelt den Geschmack von Blut im Mund. Eine unendlich schwere Süße stieg mir in die Nase und legte Nebel über meine Sinne. Schlanke, kraftvolle Finger strichen mir durchs Haar, massierten meine Kopfhaut und meinen Nacken. Eine warme, fast samtige Zunge drang immer tiefer in mich und schien mir den Atem nehmen zu wollen. Die langsamen, rhythmischen Bewegungen ihres Beckens versetzten meinen Lenden Stromschläge und ließen mich noch schwerer atmen. Ich verlor die Besinnung.
Ich weiß nicht mehr, wann ich wieder zu mir kam. Irgendwann fuhr die Bahn weiter. Von den Mädchen war weit und breit nichts zu sehen. Der süße Duft, den ich in der Nase hatte, stammte wohl von der Banane, die ich mir heute Morgen in die Mappe gepackt hatte.
© Berglöwe, 30.06.2011